A Clockwork Orange
Mit diesem Beitrag beginnt bei „Die Nacht der lebenden Texte“ eine Reihe über die Filme von Stanley Kubrick. In loser zeitlicher Abfolge und ohne Anspruch auf Abdeckung seiner vollständigen Filmografie werden verschiedene Autoren die Werke dieses visionären Regisseurs vorstellen.
Die folgende Analyse enthält massive Spoiler.
Von Matthias Holm
SF-Drama // Stanley Kubrick. Ein legendärer Regisseur. Umso schöner, dass wir uns jetzt bei „Die Nacht der lebenden Texte“ dem Werk dieses umstrittenen, aber genialen Mannes widmen. Beginnen darf ich mit dem Lieblingsfilm meines 16-jährigen Ichs: „Uhrwerk Orange“, oder lieber noch der englische Titel: „A Clockwork Orange“. Das erste Mal in der Schule gesehen, faszinierte mich der Mix aus ikonischen Bildern, ausufernder Gewalt und klassischer Musik. Und plötzlich fiel mir ein Album ein, welches ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte: „Ein kleines bisschen Horroshow“ von den Toten Hosen.
In einer Welt in der man nur noch lebt, damit man täglich roboten geht …
Alleine der Beginn hat Filmgeschichte geschrieben: Malcolm McDowell starrt als Alex die Kamera an – als ob er den Zuschauer sieht und weiß, was auf seine Beobachter zukommen wird. Die Kamera fährt hinaus, zeigt dabei eine surreale Bar und Alex fängt mit seiner Erzählung an. Er sitzt mit seinen drei „Droogs“ in der Korova Milchbar und trinkt Milch plus – womit, das geht in der Mischsprache aus Englisch und Russisch unter. Mit diesem speziellen Getränk machen sich die Jungs bereit für eine Nacht voller „Ultra Violence“.
Mit nur einer Einstellung ist man als Zuschauer im Geschehen. Die Milchbar wirkt grotesk in ihrer Symmetrie, dadurch aber auch absolut zeitlos. Es ist – noch – keine richtige Dystopie, die Kubrick im ersten Akt erschafft. Doch diese Welt ist trist und kahl, noch nicht einmal die Eltern kümmern sich wirklich um den Protagonisten Alex. Mit jedem Bild sagt der Film: Hier stimmt etwas nicht.
Im Verlauf der Nacht sehen wir als Zuschauer zu, was die Droogs in ihrer Freizeit so anstellen – Schlägereien, Demütigungen und eine heute legendäre Vergewaltigungs-Szene, in der Alex fröhlich beim „good old in-and-out“ Gene Kellys „Singin’ in the Rain“ anstimmt. Auch nach über 40 Jahren wirken diese Bilder mit einer ungeheuren Intensität. Natürlich gibt es heutzutage brutalere Filme, aber nur wenige erreichen diese Nähe zum Zuschauer. Und das ist ein wichtiger Punkt des Films – wir konsumieren die Gewalt, ohne sie zu hinterfragen.
Am Tag darauf sehen wir einen Alex, der sich irgendwie durch den Tag rettet. Und hier sehen wir auch, dass wir es nicht mit einem einfachen Verrückten zu tun haben. Alex schwänzt auf durchaus kluge Weise die Schule, er hört klassische Musik – vorzugsweise „good old Ludwig Van“ – und betört mit seinem Charme Zuschauer sowie zwei Mädchen in einem Plattenladen, mit denen er dann ausgiebig Sex hat. Diese Sequenz ist wichtig, denn nur so erkennen wir den Menschen hinter den Taten und bauen unbewusst eine Bindung zu dieser unsympathischen Figur auf.
Ein Schritt zu viel nach vorn, und das war’s für dich
Nach einer Auseinandersetzung mit seinen Droogs, in der Alex klar macht, wer der Anführer der Bande ist, nimmt der Film seinen unheilvollen Verlauf: Bei einem Einbruch trifft Alex auf die Hausbesitzerin, es kommt zum Kampf. Mit einer riesigen Skulptur wehrt sich Alex und erschlägt dabei die Dame. Der Mord ist die letzte Grenze in den gesellschaftlichen Normen, die er noch nicht überschritten hatte, und Alex kriegt prompt die Rechnung. Seine Droogs verraten ihn und er wird von der Polizei einkassiert.
Was nun folgt, ist ein krasser Kontrast: War die Welt, die Kubrick darstellte, bis dato düster und leer, ist das Gefängnis des zweiten Aktes beinah farbenfroh und lustig. Dafür sorgen vor allem der beinahe schon karikaturenhafte Wärter mit seinem strammen Schritt sowie die Reaktionen von Alex darauf. Viel schlechter als zu Hause scheint es dem Soziopathen im Knast nicht zu gehen, aber doch fehlt etwas, etwas, was die Persönlichkeit von Alex ausmacht – die Gewalt. Und so entscheidet er sich dafür, an einem Experiment teilzunehmen, welches ihm Haftverkürzung bringen soll.
Wir brauchen hier keinen, der aus der Reihe tanzt
Mit der sogenannten Ludovico-Technik soll der Bösewicht Alex, der durch seine Taten nicht in das wie ein Uhrwerk laufende System passt, auf die rechte Bahn geführt werden. Sie ist genauso effektiv, wie sie grausam ist. „Your humble narrator“, wie sich Alex an den Zuschauer gewandt immer wieder nennt, wird auf einen Stuhl gefesselt. Dabei werden seine Augen über eine Vorrichtung aufgespannt, sodass er nicht blinzeln kann. Von nun an werden Alex immer wieder Schreckensbilder gezeigt, zum Beispiel vom Nazi-Regime oder von Vergewaltigungen. Findet er dies anfangs noch unterhaltsam, merkt er allmählich, dass diese Form der Gewalt in ihm ein Unwohlsein auslöst.
Durch die Ludovico-Technik kann Alex nicht wegschauen, er kann die Eindrücke, die auf ihn einprasseln, nicht mehr filtern. Dem Zuschauer jedoch ist diese Option immer gegeben, er wird nicht am Stuhl festgehalten. Ähnlich wie in Michael Hanekes „Funny Games“ sieht sich der Zuschauer mit seinem Konsumverhalten von gewalttätigen Inhalten konfrontiert, auch wenn es bei Kubrick immer noch subtiler funktioniert als beim Österreicher Haneke. Warum schauen wir es uns an, wenn ein Mensch auf brutalste Art und Weise gefoltert wird? „A Clockwork Orange“ gibt darauf keine Antwort, aber er zwingt einen, darüber nachzudenken.
Er gab seinen Willen für seine Freiheit
Die Folge dieser Behandlung ist verheerend. Sobald Alex jetzt an die Anwendung von Gewalt oder auch Sex denkt, wird ihm so schlecht, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Bei einer Präsentation wird dies den anwesenden Würdenträgern in herablassender Weise gezeigt – der ehemalige Verbrecher wurde zu einem perfekten Teil der Gesellschaft erzogen. Jetzt soll Alex wieder in die Zivilisation eingebunden werden. Leider findet er keinen Platz, denn auf seiner Reise trifft er natürlich genau auf die Leute, die in der ersten Schreckensnacht, die der Zuschauer gesehen hat, von ihm terrorisiert wurden.
Am wichtigsten dabei ist das Aufeinandertreffen mit seinen alten Droogs. Die haben der Milch plus abgeschworen und befinden sich nun im Dienste des Staates – als Polizisten. Die Verbrecher, die nicht weniger grausam als Alex waren, haben es sich leicht gemacht, ihrer Bestrafung zu entkommen, und die Seiten gewechselt. Das hilft ihnen natürlich dabei, sich an ihrem ehemaligen Anführer zu rächen – auch, da dieser sich nicht wehren kann.
Am schlimmsten trifft es Alex aber später, als er die neunte Symphonie von Beethoven hört. Damit nämlich wurden die Schreckensbilder musikalisch unterlegt, die ihm so eindringlich gezeigt wurden. Das führt dazu, dass sich Alex bei diesem Stück ähnlich wie bei den Gedanken an Gewalt fühlt – übel und als ob er sterben müsste. Am Ende dieser bemitleidenswerten Odyssee sieht er keinen Ausweg mehr – er stürzt sich aus einem Fenster.
Doch den Tod ihres Versuchsobjektes können die Politiker, die die Ludovico-Technik einführen wollen, natürlich nicht gutheißen. Alex wacht in einem Krankenhaus wieder auf und wird dazu überredet, für ein Foto zu posieren. Äußerlich hat sich nichts geändert, doch ein Blick in seinen Kopf verrät: Alex ist durch den Fast-Tod wieder ganz der Alte. Im ersten Moment freut sich der Zuschauer – unser Protagonist, der eine wahre Tortur durchleiden musste, hat alles gut überstanden. Doch schnell folgt ein zweiter Gedanke: Ist das wirklich wünschenswert?
Alex ist das Paradebeispiel eines Antihelden. Wir begleiten ihn auf seiner Reise und haben Mitleid. Doch allzu schnell vergisst man, wieso dieser Mensch in der Situation ist, in der er sich befindet, schließlich hat er einen Menschen getötet. Eigentlich ist also der Ausgang ein eher negativer, kehrt Alex doch dahin zurück, von wo er gekommen ist. Glücklicherweise streicht Kubrick das letzte Kapitel der Romanvorlage von Anthony Burgess, in der Alex selbst erkennt, dass die gesellschaftlichen Konventionen etwas Gutes haben. Dies würde dem Film einiges an seiner Brisanz und damit auch seiner Genialität berauben.
Wie bereits dargestellt, ist „A Clockwork Orange“ ein Film mit und über Gewalt. Nicht ganz so offensichtlich wie der angesprochene „Funny Games“ und auch nicht annähernd so radikal wie Takashi Miikes „Izo“. Genau deswegen jedoch macht ihn das zum besten Film der genannten, denn ganz nebenbei spricht Kubrick weitere Themen an, wie beispielsweise das System, das Uhrwerk, welches den Status Quo aufrechterhalten will und niemanden duldet, der herausbricht.
Dieser Punkt ist es dann auch, den mein 16-jähriges Ich so eingenommen hat. Mit etwas Abstand zwischen den Sichtungen – in meinem Fall ganze neun Jahre – bemerkt man immer weitere Facetten dieses herausragenden Films. Ein Meilenstein.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Stanley Kubrick haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Patrick Magee und Malcolm McDowell in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung: 6. November 2014 als Blu-ray in „The Masterpiece Collection“, 20. Mai 2011 als Blu-ray in der „Visionary Filmmaker Collection“, 20. Mai 2011 als Premium Collection Blu-ray, 6. Dezember 2007 als Blu-ray (auch als limitiertes Steelbook), 4. Juli 2008 als DVD
Länge: 137 Min. (Blu-ray), 131 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: A Clockwork Orange
GB/USA 1971
Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman von Anthony Burgess
Besetzung: Malcolm McDowell, Patrick Magee, Michael Bates, Warren Clarke, Adrienne Corri
Zusatzmaterial: k. Ang.
Vertrieb: Warner Home Video
Copyright 2016 by Matthias Holm
Packshots & Fotos: © Warner Home Video