Farming
Von Philipp Ludwig
Drama // Adewale Akinnuoye-Agbaje dürfte insbesondere den Fans der Serie „Lost“ (USA 2004–2010) noch in bester Erinnerung sein. In dieser gab er durch seine imposante körperliche Erscheinung dem mysteriösen Priester Mr. Eko ein überaus passendes Gesicht. Der britische Schauspieler mit nigerianischen Wurzeln feiert mit „In My Skin“ nun sein Regiedebüt, in dem er unter anderem seine eigene, so beeindruckende wie verstörende Lebensgeschichte filmisch verarbeitet. Dem deutschen Kinopublikum blieb das Werk allerdings vorenthalten, sodass es bei uns als Direct-to-Video-Veröffentlichung erschien.
Das behandelt die zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren in Großbritannien verbreitete Methode des „Farmings“. Dabei gaben zahlreiche nigerianische Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder in die Obhut britischer Pflegeeltern. Um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen, kamen so zehntausende afrikanische Kinder in Pflegefamilien unter. Eines von ihnen war der Regisseur Akinnuoye-Agbaje selbst. In seinem filmischen Erstlingswerk verarbeitet er seine persönlichen sowie die von anderen Betroffenen gehörten Kindheits- und Jugenderinnerungen nun in der fiktiven Figur des Enitan (Damson Idris, bekannt aus der „Black Mirror“-Episode „Smithereens“). Der wird als kleiner Junge von seinen Eltern (der Regisseur übernimmt hier die Rolle des eigenen Vaters) in die Obhut von Ingrid (Kate Beckinsale, „Underworld“-Reihe) gegeben, während diese sich in London ihrem Jurastudium widmen. Die umtriebige Pflegemutter aus einfachen Verhältnissen hat sich in der englischen Provinz illegal gleich eine ganze Reihe an afrikanischen Pflegekindern zugelegt. Sie pendelt dabei in ihrem undurchsichtigen Verhalten stets zwischen deren finanzieller und persönlicher Ausnutzung sowie tatsächlicher mütterlicher Zuneigung.
Nachdem Enitans Eltern ihr Studium beendet haben, geht es für ihn, gemeinsam mit seinen beiden kleinen Geschwistern, zurück in die Heimat. Der introvertierte Junge kommt mit den strengen rituellen Gepflogenheiten in Nigeria allerdings so gar nicht zurecht, sodass seine Eltern keine andere Möglichkeit sehen, als den rebellischen Sohn erst einmal wieder zurück nach England in die Obhut von Ingrid zu begeben. Doch auch hier wächst der in sich gekehrte, künstlerisch begabte Enitan weiterhin sehr isoliert auf und staut aufgrund seiner Abneigung gegenüber der eigenen Herkunft eine Menge Wut in sich. Diese entlädt sich, als er es als Jugendlicher nicht mehr ertragen kann, länger von der örtlichen Skinheadgang aufs Übelste rassistisch beschimpft und malträtiert zu werden. Beeindruckt von seinem Mut und dem Hass, der in Enitan schlummert, nimmt ihn der soziopathische Gang-Anführer Levis (John Dagleish, „Judy“) bald unter seine Fittiche. Doch ob dieser und seine Rowdytruppe tatsächlich die für Enitan lang ersehnten Freunde darstellen oder diese ihn nur zum Spaß wie ein „kleines Äffchen“ halten, bleibt fraglich. Da auch seine Pflegemutter zunehmend den Zugang zu dem stetig gewalttätigeren Sechzehnjährigen verliert, versucht schlussendlich nur noch seine ehemalige Lehrerin, die ebenfalls nigerianischstämmige Ms. Dapo (Gugu Mbatha-Raw, „Belle“), ihm zu helfen. Doch kann sie Enitans Absturz in eine Welt aus Gewalt, Hass und Kriminalität aufhalten?
Harter Tobak
Mit „In My Skin“ bietet Adewale Akinnuoye-Agbaje seinem Publikum keine leichte Kost. Nahezu durchweg begleitet den Film eine unentspannte Grundstimmung. Erleichterung oder einen Comic Relief sucht man vergebens. Gerade dies ist auch ein zentraler Kritikpunkt, den der Regisseur mit seinem Erstlingswerk liefert. Der Ernst und vor allem die rohe Gewalt und Abgestumpftheit, die zahlreichen seiner Protagonisten zugrunde liegen, vermögen den Zuschauern dann doch ein wenig zu großes Unbehagen zu bereiten. Dies mag zwar aufgrund der eigenen Erinnerungen des Filmemachers authentisch sein, wirkt mitunter aber leider doch arg überzogen. Dies betrifft vor allem die Darstellung der lokalen Skinhead-Gang, denen sich der zunächst von ihnen aufs Übelste gemobbte Enitan anschließt. Zwar wirken deren kleidungstechnische Ausstattung und der Musikgeschmack zur Skinheadsubkultur der 1980er Jahre in England passend, ihre überzeichneten Verhaltensweisen hingegen sind doch ziemlich an jedem menschlichen Sinn und Verstand vorbei inszeniert. So driften insbesondere die einfachen Bandenmitglieder mitunter ins unfreiwillig Komische ab. Es wird dadurch leider auch ein Stück weit zu offensichtlich, dass Akinnuoye-Agbaje uns metaphorisch wohl aufzeigen will, dass diejenigen, die Enitan permanent als „Affe“ bezeichnen, gerade selbst herumhüpfen, wie wir es eben diesen Tieren zutrauen. Ohne dabei den tierischen Vorbildern in einem Vergleich mit rassistischen Arschlöchern hier zu nahe treten zu wollen.
Nun ist es natürlich immer so eine Sache, die Glaubwürdigkeit der Schilderungen eines anderen Menschen als Unbeteiligter in Frage zu stellen – die Skinhead-Subkultur wurde in anderen Werken wie beispielsweise „This Is England“ (2006) aber auch schon deutlich stimmiger und vor allem weniger überzogen dargestellt. Das größte Problem bei „In My Skin“ ist aber sowieso die Schwierigkeit, zu dessen eigener Hauptfigur echte Empathie zu entwickeln. Dabei wäre es in der grimmigen Grundstimmung des Films umso wichtiger, eine emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. Leider gestaltet sich dies als schwieriges Unterfangen. Denn bereits nach kurzer Laufzeit wird von dem noch naiven und sensiblen Enitan im Kindesalter, zu dem man noch am ehesten einen persönlichen Zugang finden dürfte, ein Zeitsprung zum jugendlichen Protagonisten vollzogen. Dieser ist leider ab diesem Zeitpunkt zunächst nicht bloß sehr verschlossen und emotional kühl – er zeigt bereits vom Start weg großes Aggressionspotenzial. Wirklich sympathisch wirkt er dadurch nicht. Trotz allen Mitgefühls für seine aufgrund der schwierigen Kindheit bedingte Situation fiel es mir daher sehr schwer, über eine antirassistische Grundsympathie hinaus mit der zentralen Figur mitzuleiden. Trotz der mitunter unfreiwilligen Komik der Skinheaddarsteller gehen einem die rassistischen Quälereien nämlich schon sehr unter die Haut. Leider wird Enitan selbst innerhalb kürzester Zeit zu einem besonders gewalttätigen Mitglied seiner neuen Gang, wodurch eine eventuell aufkommende Sympathie ihm gegenüber schnell im Keim erstickt wird.
Trotz kleiner Schwächen: ein gelungenes Debüt
Nichtsdestotrotz liefert uns Adewale Akinnuoye-Agbaje mit „In My Skin“ einen Film über ein spannendes Thema wie das „Farming“, das bei uns in Deutschland in dieser Form nur wenigen bislang ein Begriff sein wird. Durch den weltweit zu beobachtenden Anstieg rassistischer Tendenzen hat das Werk zudem leider auch, trotz des historischen Settings, einen brandaktuellen Hintergrund. Gerade wenn es darum geht, wie die Folgen von rassistischer Hetze und ein Gefühl des Nicht-Dazu-Gehörens von den Betroffenen aufgenommen und verarbeitet werden. Der Regie-Debütant kann sich zudem auf ein hervorragendes Darstellerquartett verlassen. Vor allem den jungen Damson Idris muss man hier hervorheben, der trotz der zunächst bestehenden emotionalen Einschränkungen seiner Figur Enitan sein großes schauspielerisches Talent offenbart und dessen zunehmende innere Anspannung und Zerrissenheit mit viel Gefühl verkörpert. Ebenso überzeugt der renommierte britische Theaterdarsteller John Dagleish in einer für ihn eher ungewohnten Rolle, als gleichzeitig charismatischer und soziopathisch-brutaler Bandenführer Levis. Leider ist aber auch diese eigentlich interessant angelegte Figur in ihrer Bösartigkeit nicht immer vor einer inszenatorischen Übertreibung gefeit.
Akinnuoye-Agbaje verpackt seine eigenen Lebenserinnerungen somit in einen zumindest handwerklich top gemachten und packend inszenierten Film, der aufgrund fehlender Identifikationsfiguren für ein überzeugendes Drama emotional etwas zu steril und kühl bleibt. Für die derzeit bestehenden Einschränkungen in Bezug auf öffentliche Kinobesuche hat „In My Skin“ aber zumindest das Potenzial, im Heimkino für Abwechslung zu sorgen. Als Feel-Bad-Movie ist er in einem eventuell aufkommenden Corona-Blues allerdings eher weniger zur persönlichen Aufheiterung geeignet. An der Blu-ray ist technisch nichts auszusetzen. Sowohl Bild- und Tonqualität entsprechen den heutigen Standards. Nur die im Prinzip nichtexistenten Extras (abgesehen vom Trailer) sind dann doch ein wenig dürftig.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Kate Beckinsale haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet.
Veröffentlichung: 30. Januar 2020 als Blu-ray und DVD
Länge: 107 Min. (Blu-ray), 103 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Farming
GB 2018
Regie: Adewale Akinnuoye-Agbaje
Drehbuch: Adewale Akinnuoye-Agbaje
Besetzung: Damson Idris, Kate Beckinsale, Gugu Mbatha-Raw, John Dagleish, Cosmo Jarvis, Theo Barklem-Biggs, Skye Lourie, Adewale Akinnuoye-Agbaje
Label/Vertrieb: Koch Films
Copyright 2020 by Philipp Ludwig
Szenenfotos, Packshot & Trailer: © 2020 by Koch Films