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Archiv für den Monat April 2020

Der Horla – Tagebuch eines Mörders: Im Banne des Dämonen

Diary of a Madman

Von Volker Schönenberger

Horror // O, der Geier hat die Taube verzehrt, der Wolf hat das Schaf gefressen, der Löwe den Büffel trotz seiner spitzen Hörner verschlungen. Der Mensch wieder hat den Löwen mit Pfeil, Schwert, Pulver und Blei getötet. Aber der Horla wird aus uns Menschen machen, was wir aus Pferd und Ochsen gemacht haben: seine Sache, seinen Diener, seine Speise, allein durch die Kraft seines Willens. Wir unglücklich Unseligen! Mit dieser Texteinblendung beginnt „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“. Die Zeilen stammen aus der Erzählung „Le Horla“ („Der Horla“) des bedeutenden französischen Schriftstellers Guy de Maupassant (1850–1893), die zusammen mit der Erzählung „Un fou“ („The Diary of a Madman“) die Grundlage von „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“ von 1963 bildet, im Original „Diary of a Madman“ betitelt.

Richter Cordier spürt nahendes Unheil

Die erste Szene des Films zeigt die Beerdigung von Simon Cordier (Vincent Price). Der unerwartet Verstorbene galt dem Priester (Lewis Martin) zufolge als einer der angesehensten Richter Frankreichs und als guter Mensch. Doch eine der Trauernden, die junge Jeanne D’Arville (Elaine Devry), bekundet ihrem Vater Andre D’Arville (Edward Colmans) gegenüber, froh zu sein, dass Cordier tot ist. Vater und Tochter erfüllen nun den letzten Wunsch des Verstorbenen – ein Treffen, zu welchem alle Trauergäste zusammenkommen. Monsieur D’Arville öffnet einen Kasten, den Cordier in der Nacht seines Todes Jeanne übergab. Darin befindet sich Cordiers Tagebuch. Der erste Eintrag datiert vom 17. September 1886.

Der Mörder und der Dämon

Mit dem Vorlesen der ersten Zeilen des Tagebuchs setzt die Haupthandlung ein – drei Tage vor der Hinrichtung des vierfachen Mörders Louis Girot (Harvey Stephens). Polizeihauptmann Robert Rennedon (Stephen Roberts) sucht Richter Cordier mit einer Bitte des Todeskandidaten auf: Der hat den Juristen um einen Besuch gebeten. In der Zelle beteuert Girot, die Bluttaten unter dem Einfluss eines Dämons begangen zu haben. Dann greift er auch Cordier an, um ihn zu erwürgen. Der Richter kann sich losreißen, und der Mörder bricht tot zusammen. Dies ist der Beginn einer Reihe beunruhigender Ereignisse im Hause des Richters. Bald darauf lernt der seit zwölf Jahren verwitwete Jurist das Model Odette Mallotte (Nancy Kovack) kennen. Da er als Hobby Skulpturen modelliert, bittet er die junge Frau, ihm Modell zu stehen.

Der Jurist fühlt sich der …

Nicht erst seit William Friedkins „Der Exorzist“ (1973) spielt dämonische oder teuflische Besessenheit eine prägende Rolle im Horrorfilm. „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“ gehört zu den eher harmlosen Vertretern dieses Subgenres, bietet aber immerhin eine stilvolle Rolle für Vincent Price, den Grandseigneur des Gruselfilms. Der darf einmal mehr seine ausdrucksstarke Mimik einsetzen, was er gar nicht mal so übertrieben tut wie in manch anderer Rolle.

… holden Weiblichkeit zugetan

Größtes Manko des Films sind die mangelnden Konturen des Dämons, der wenig Profil gewinnt. Das meiste erfahren wir über ihn, wenn er als innere Stimme des Besessenens in Erscheinung tritt, und das mit vergleichsweise neutralem Timbre. Da kommt recht wenig Horror auf, zumal die Horrorelemente über weite Strecken des Films nur peu à peu eingestreut werden. Der Dämon nennt sich Horla, aber das war es auch schon. Hier wäre es in puncto Horror zielführend gewesen, zumindest in Grundzügen einen gewissen dämonischen Mythos zu skizzieren. Einiges gerät zudem etwas vorhersehbar, was nicht zuletzt an der erzählerischen Klammer und dem Einstieg mit Cordiers Beerdigung liegt. Wenn sich die Handlung in der Rückblende entfaltet und wir schon wissen, dass der Protagonist am Ende tot sein wird, müssen andere Aspekte die Spannung am Köcheln halten. Das klappt nur bedingt. So bleibt „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“ ein routiniert inszeniertes und immerhin gediegen ausgestattetes Gruselstück ohne echte Höhepunkte und ohne herausragende Stellung in Vincent Prices Filmografie. Regisseur Reginald Le Borg wiederum hat ohnehin keine herausragenden Arbeiten in seiner Filmografie, sein bekanntestes Werk mag „Die Schreckenskammer des Dr. Thosti“ („The Black Sleep“, 1956) sein. Guy de Maupassants Vorlage „Der Horla“ kann im Übrigen online in deutscher Übersetzung gelesen werden.

Limitierte Edition von Ostalgica

Das kleine Label Ostalgica hat „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“ in ansprechender Edition als DVD im Schuber veröffentlicht, wobei mir besonders die unterschiedlichen Covermotive sehr gut gefallen – mit Schuber, Cover und Wendecover gibt es drei davon. Die auf 499 Exemplare limitierte Edition enthält als zweite Disc eine AVCHD, ein Format, das mir – Asche auf mein Haupt – zuvor gar kein Begriff war. Diese Disc enthält eine HD-Version des Films, sie lässt sich allerdings nicht auf Standalone-Blu-ray-Playern abspielen, sondern laut Ostalgica lediglich auf in Computern installierten Blu-ray-Laufwerken. Da ich darüber nicht verfüge, kann ich über die Bildqualität keine Angaben machen. Das Bild der DVD hat mir gut gefallen, die Qualität der beiden Tonspuren war solide. Leider fehlen Untertitel. Die AVCHD Das mag manchen Interessierten einen zusätzlichen Kaufanreiz bieten, ebenso die beiden Hörbücher im Bonusmaterial. „Der Horla – Tagebuch eines Mörders“ gehört für Vincent-Price-Sammler natürlich zum Pflichtprogramm. Wer klassischen Gruslern etwas abgewinnen kann, darf ebenfalls einen Blick riskieren, ohne allzu viel zu erwarten. Die 2016er-Auflage des Films enthält übrigens mit dem Endzeitfilm „The Last Man on Earth“ (1964) – der ersten Verfilmung von Richard Mathesons Roman „I Am Legend“ – einen höchst wertigen Bonus.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Vincent Price haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet. Über welche dort noch nicht aufgeführten Filme mit Price würdet Ihr hier gern etwas lesen?

Besessen?

Veröffentlichung: 13. Dezember 2019 als limitierte 2-Disc Edition im Schuber (DVD & AVCHD, limitiert auf 499 Exemplare), 13. Mai 2016 als DVD, 4. Dezember 2015 als 2-Disc Special Edition DVD

Länge: 93 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Diary of a Madman
USA 1963
Regie: Reginald Le Borg
Drehbuch: Robert E. Kent, nach einer Vorlage von Guy de Maupassant
Besetzung: Vincent Price, Nancy Kovack, Chris Warfield, Elaine Devry, Ian Wolfe, Stephen Roberts, Lewis Martin, Mary Adams, Edward Colmans, Nelson Olmsted, Harvey Stephens, Dick Wilson
Zusatzmaterial 2019: Originaltrailer, 2 Hörbücher, Bildergalerie, Musikvideo, Trailershow, Wendecover mit Alternativmotiv, 4-seitiger Grafikflyer mit Artworks, Bonus-Disc im AVCHD-Format mit HD-Version des Films (abspielbar auf in Computern installierten Blu-ray-Laufwerken)
Zusatzmaterial 2016: Bonus-DVD mit „The Last Man on Earth“ (1964) und Kurzfilm „The Christmas Carol“ (1949), Originaltrailer, 2 Hörbücher, Bildergalerie, Musikvideo, Trailershow, Booklet mit Miniposter, Wendecover mit Alternativmotiv
Zusatzmaterial 2015: Originaltrailer, 2 Hörbücher, Bildergalerie, Musikvideo, Trailershow, Wendecover mit Alternativmotiv
Label: Ostalgica
Vertrieb: Media Target Distribution GmbH

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2019 Ostalgica

 
 

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Brian De Palma (VIII): Domino – A Story of Revenge: Die Unordnung des Schauens

Domino

Von Tonio Klein

Thriller // In „Domino“ ist Brian De Palma auf der Höhe, und doch sich selbst treu. Dabei muss der Regisseur, der am 11. September dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feiern wird, mittlerweile nehmen, was er kriegen kann. Eine fiktive Kassengift-Liste führt er seit mehr als 20 Jahren an; mit „Mission: Impossible“ hatte er seinen letzten Hit. 24 Jahre ist das jetzt her. Nicht nur wurden die Abstände zwischen seinen Filmen seither deutlich größer. Auch haperte es mit der Finanzierung. Oftmals musste der Hollywood-Mann nach Europa ausweichen. Auch „Domino – A Story of Revenge“ ist ein Europudding, niedrig budgetiert, sechs europäische Produktionsländer (plus die USA). Noch niedriger waren die Einspielergebnisse. Dabei bekommt De Palma – vom Footage-scheindokumentarischen „Redacted“ (2007) abgesehen – immer noch Stars vor die Kamera. Seine Werke sind nach wie vor ein Leckerbissen für Cineasten. Was Quentin Tarantino – ungleich erfolgreicher – hauptsächlich mit Dialog erreicht, schafft De Palma mit Stil. Wer was vom Kino versteht, steht gern für ihn vor der Kamera.

Ein Fall für den Borger: Christian hat Lars’ Pistole

Jetzt ist bei „Domino“ aber noch deutlicher als zuvor eingetreten, dass neben der Masse (die den Film ignoriert) und den Kritikern (die den Film verreißen) auch die Fans keine Hilfe mehr sind. Selbst viele, die das vorgebliche Hauptwerk des Meisters von etwa 1972 („Sisters – Die Schwestern des Bösen“) bis 1984 („Der Tod kommt zweimal“) lieben, lassen kein gutes Haar am Spätwerk, und „Domino“ reißen sie gleich alle Haare aus. Dem gleichaltrigen und stilistisch teils ähnlichen Dario Argento geht es ähnlich. De Palma hat fertig – oder?

Ouvertüre: Rotblut kommt vor dem Fall

Nein, hat er nicht. Und das auch gleich von Anfang an. Die Kopenhagener Polizisten Christian (Nikolaj Coster-Waldau) und Lars (Søren Malling) fassen bei einem scheinbaren Routine-Einsatz einen finsteren, dunkelhäutigen Gesellen, der aber aufgrund eines furchtbar dilettantischen Fehlers Christians fliehen und Lars die Kehle aufschlitzen kann. In typischer De-Palma-Manie gerät nicht nur die Welt, sondern auch das Bild in Unordnung, kippt die Kamera bei einer Dach-Verfolgung, die stark an Alfred Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (1958) erinnert. Die Fallhöhe ist in jeder Hinsicht immens. Und das Blut ist so rot wie die immer wieder in Bild wie Handlung integrierten Tomaten. Wobei mich diese an Hitchcocks bildlichen Einsatz des Londoner Gemüsemarktes in „Frenzy“ (1972) erinnert haben. Hitchcock-Verehrer De Palma hatte und hat es immer mit opernhaft opulenten Oberflächenreizen. Aber auch mit Hintersinn. Christian und der Verfolgte überleben den Absturz; Letztgenannter wird sich als Ezra (Eriq Ebouaney) erweisen, ein dänischer Staatsbürger libyschen Ursprungs. Und er ist nicht etwa der IS-Terrorist, den wir kurzzeitig in ihm vermuten, sondern jemand, der mit dem IS ein Hühnchen zu rupfen hat. Was sich die CIA zunutze macht, die dabei unter Federführung des offenbar degradierten (oder nur noch halblegal arbeitenden?) Agenten Joe (Guy Pearce) nicht grad zimperlich vorgeht. Wer ist gut, wer ist böse? Gibt es die klassische Zuschreibung überhaupt?

Gefühlschaos – unter anderem

Nicht nur hier wirft die Geschichte klassische Klischees gekonnt durcheinander. Die Bande zwischen Polizeipartnern seien enger als die zwischen Liebespartnern? Zumal, wenn einer, der deutlich ältere Lars, auch noch eine Art Ersatzvater für Christian ist? Oh nein, der verheiratete Lars hatte nämlich auch noch eine Beziehung mit der jungen Kollegin Alex (Carice van Houten). Und Christian kann kaum glauben, dass das nicht die stereotype Affäre, sondern Liebe war. Partner, die einander alles anvertrauen? Pustekuchen. „Tja, er hat dich eben angelogen“, so Alex. Irritationen allenthalben. Da zeigt De Palma, der es mit der schönen Inszenierung schöner Frauen immer schon hatte, Christians Lebensabschnittsgefährtin, die ihn vor der Frühschicht noch einmal ins Bett ziehen will. Woraufhin der Mann allen Ernstes seine Pistole, die er sich sogar schon gegriffen hatte, wieder weglegt und dann zu Hause liegenlässt. Woraufhin er sich Lars’ Waffe leiht, dem sie fehlen wird. Die Frau als Verlockung, die indirekt die beschriebene Katastrophe auslöst, sodass Christian sich die Schuld am Tod des (Ersatz-)Vaters gibt – das ödipale Drama (das sich auch schon in „Mission: Impossible“ findet). Aber eben auch die andere Frau, Alex, die aufrichtig liebt, statt nur mal den älteren Kollegen „rangelassen“ zu haben. Was Christians idealisiertes Bild des Verblichenen nachhaltig stört und seine Schuldgefühle natürlich steigert. Brian De Palma zeigt eine Gefühlswelt in größter Unordnung.

Hier mal ohne Technik: Joe von der CIA hat seine Augen überall

Gefühlswelt? Ach was, die ganze Welt ist in Unordnung. „Domino“ ist ja zunächst einmal ein Thriller. Ezra, der noch mehrere Male schwer gewalttätig werden wird, hat ein durchaus nachvollziehbares Motiv. Die CIA, deren Wunsch, den IS zu bekämpfen, ebenfalls nachvollziehbar ist, hat reichlich unethische wie rechtswidrige Druckmittel. Rache ist etwas Verbindendes: Anna und Christian jagen den Mörder des Geliebten/Partners, Ezra jagt den IS-Mann, der seinen Vater enthauptet hat.

Finale und Coda einer großen Oper

Das führt dazu, dass zwei Seiten unabhängig voneinander auf ein gemeinsames Ziel zusteuern, und in der langen Schlussszene zeigt De Palma noch einmal seine ganze Meisterschaft. Nach einer Hatz durch halb Europa schickt der IS einen Selbstmordattentäter in eine vollbesetzte Stierkampfarena in Almeria. Wir haben natürlich den bei Hitchcock geschulten Informationsvorsprung, sodass De Palma genüsslich die Spannungsschraube anziehen kann. Diesmal steuert er von mehreren miteinander verbundenen Orten und Personen aus auf den Kulminationspunkt zu. Wie schon in „Femme Fatale“ (2002) spielt das Orchester einen Bolero (diesmal passend mit arabischen Klängen vermengt), bis in einer typisch depalmaesken Zeitlupensequenz alles aufeinander zuläuft und das Zusammenwirken verschiedener Aktionen in letzter Millisekunde etwas anderes bewirkt, als geplant war. Schon allein diese „große Oper“ lohnt den Kauf der Blu-ray oder DVD. Brian De Palma kann es noch, und niemand kann es so gut wie er. Aber das ist noch lange nicht alles. In der Coda zeigt sich noch deutlicher, als zu erahnen war, dass niemand niemandem trauen kann, dass nichts ist, wie es scheint, dass einander überkreuzende Rachemotive tatsächlich einen „Domino“-Effekt haben können. Joes herrlich trockener Spruch auf die Frage, woher er vom Verhältnis Alex/Lars gewusst habe, rundet das Ganze kritisch-sarkastisch ab: „Wir sind Amerikaner. Wir lesen eure E-Mails.“ Ja sorry, wie konnte man auch nur fragen?

Bis zum Schluss: Lust und Gewalt des Schauens

Dann kommt aber noch eine böse Schlussszene, und die hat mit etwas in diesem Film sehr Wichtigem zu tun: Gewalt und Voyeurismus. Nun gut, in welchem klassischen De Palma kommt das nicht vor? Aber der Mann ist sich nicht nur treu geblieben, sondern auch mit der Zeit gegangen. In „Dressed to Kill“ (1980) sorgte ein Hobby-Bastler für das Beobachten anderer Leute, in „Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren“ (1981) ein Filmtontechniker, in „Spiel auf Zeit“ (1998) dann schon ein ganz legales, umfassendes Überwachungssystem. Während man das dort aber nur für Casinos und eine Massenveranstaltung brauchte, war das Mitfilmen in „Redacted“ (2007) bereits ein Mittel zur Erregung von Aufmerksamkeit. Dort zwar nur in einer Ausnahmesituation, nämlich im Krieg (der bei De Palma immer auch ein Krieg der Bilder ist), aber in „Passion“ (2012) war die Macht der Bilder schließlich omnipräsent, war sie im Alltag angekommen. Nun ist De Palma zwar wieder bei Ausnahmesituationen wie Terrorismus und Polizeiarbeit gegen selbigen, aber klar ist in Zeiten von Facebook, Youtube, Instagram und TikTok: „Erfolge“ erreicht man über Bilder, um jeden Preis. Und hier geht De Palma weiter als je zuvor. Nicht nur kann Ezra durch ein illegal angezapftes Gesichtserkennungsprogramm auf einem Flughafen identifiziert werden. Auch führt der IS eine sozusagen bild-gewalt(tät)ige Attacke. Enthauptungsvideos (die hier, wie schon in „Redacted“, vorkommen) haben ja eine reale Parallele. Aber De Palma bleibt nicht beim Dokumentarischen. Er inszeniert hochartifiziell, legt dadurch aber auch den Blick auf die Methoden eines Bilderkrieges frei. In einer seiner berühmten Split-Screen-Sequenzen sehen wir eine IS-Terroristin, die auf einem Filmfestival die Schönen und Reichen niedermäht, auf der linken Seite ist die Schützin, auf der rechten sind in Egoshooter-Perspektive die Taten und die Opfer zu sehen. Und da es bei De Palma immer auch um das Sehen geht, geht ein Schuss einmal direkt ins Auge des Opfers. Der Gipfel der Perversion ist, dass wir einen Reporter sehen, der auch im Angesicht der auf ihn gerichteten Waffe nicht aufhört zu filmen (oder zu fotografieren; dies war für mich nicht genau erkennbar). Schließlich ist zu betonen, dass es sich bei der Sequenz um ein Bild im Bild handelt. De Palma ist nicht nur der Stilist, der – wie sonst – ohne narrative Erklärung die Leinwand teilt. Vielmehr tun dies die Terroristen. Wir haben vorher gesehen, dass die Schützin eine Kamera auf ihrer Waffe montiert hat, die in beide Richtungen filmen kann. Das geteilte Bild ist also in der Handlung „echt“, die Täter wollen es so, wollen damit die mediale Aufmerksamkeit und lassen das auch gleich in allen Fernsehkanälen übertragen. Außer vielleicht in „Redacted“ hat De Palma noch nie so deutlich gezeigt, was die Rede von der „Kamera als Waffe“ und vom im Englischen doppeldeutigen „shooting“ bedeutet!

Für Allah und das perfekte Bild: die Attentäterin auf dem Filmfestival

Der Film geht aber darüber hinaus, indem er die Macht der Bilder auch an ganz anderer Stelle betont. Bilder – heutzutage natürlich auf einem Handy – sind das Einzige, was Alex von ihrem Liebesglück mit Lars noch geblieben ist. Das Video der Enthauptung Ezras Vaters – natürlich schaut sich Ezra das ebenfalls auf dem Handy an – ist ihm Erinnerung und Rachemotiv. Darin übrigens werden sich die auf den ersten Blick doch recht unterschiedlichen Charaktere Alex und Ezra als Spiegelbilder erweisen. Ein ums andere Mal sehen wir Szenen auf Überwachungsbildschirmen, einmal sogar mit Bild im Bild im Bild: Ezra muss sehen, wie die CIA seinen Sohn „verhört“ und ihm ein Foto des Vaters als Mörder zu zeigen droht – was Ezra schließlich gefügig macht. Schon wieder ein Bild als Waffe.

Oberflächenreize und versteckte Zeichen

De Palma fordert uns dadurch auch auf, seinen eigenen Bildern zu misstrauen. Gleichzeitig ist er gestalterisch so virtuos, dass er uns mit ihnen verführt. Und dass wir das wirklich gern mit uns geschehen lassen. Hierbei setzt er gezielt Oberflächenreize ein, aber auch kleine, halbwegs versteckte Hinweise. Schon Hitchcock hatte Länder immer mit etwas klischeehaften Symbolbildern illustriert (z. B. „In der Schweiz gibt es Schokolade“ – siehe „Geheimagent“, 1936). Nun eben „In Spanien gibt es Stierkämpfe“. Oder (so schon in Hitchs „Der Auslandskorrespondent“, 1940) „In den Niederlanden gibt es Windmühlen.“ Wobei die übertrieben knallroten Windmühlenflügel eher die schmerzenden Turbulenzen in Alex und Christian ausdrücken könnten: Es wird kein einziges Mal erwähnt, dass beide in den Niederlanden sind, was sich indes vermuten lässt. Aber Alex hat gerade von Lars’ Tod erfahren, und Christians Idealbild vom ehetreuen Ersatzvater Lars zerbricht. Übrigens ist diese (Nicht-nur-)Affäre etwas, das man durch kleine Zeichen in Dialog und Gesichtsregungen von Lars schon zu Beginn ahnen kann. Schließlich wird durch auffällig ins Bild gerückte Kreuze in Lars’ Behausung schon sein Zwiespalt wie sein Tod vorweggenommen. Wie so oft, überlässt Brian De Palma nichts dem Zufall.

Dass der Meister hiervon ausgehend seinen Mikrokosmos ins Chaos stürzt, passt recht gut zu einer Welt, die chaotischer denn je ist. Und bilderhungriger. Ganz am Ende ist das IS-Anschlagsvideo bei etwas gelandet, was wohl eine Darknet-Seite sein soll, was aber vom Format her wie Youtube aussieht. Das verstört nachhaltig. Neben alldem hat De Palma aber auch und wieder einmal einen formell extravaganten, im besten Sinne künstlichen und streckenweise hochspannenden Thriller gedreht, der neben Parallelmontagen, Zeitlupe und Split Screen auch die beunruhigenden Streicher-Dissonanzen seines Stammkomponisten Pino Donaggio wiederaufleben lässt. Was in „Passion“ übrigens in der Finalszene ein pures, nostalgisches Selbstzitat aus „Dressed to Kill“ war, aber diesmal eine dermaßen direkte Referenz nicht nötig hat. Donaggio hat zwar seinen unverwechselbaren Klang, der nun schon etwas nostalgisch wirkt – der Komponist hat mit Unterbrechungen seit „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“ (1976) für De Palma geschrieben. Aber die Musik und der ganze Film wirken eher so, dass man sich über ein Wiedersehen und -hören alter Bekannter freut, statt sich über ein Dauerrecycling zu ärgern. Es ist eben so, wie am Anfang gesagt: Brian De Palma ist mit der Zeit gegangen, aber sich selbst treu geblieben. Wenn doch bloß mehr Zuschauer ihm die Treue halten würden! Man möge mich steinigen, meine Ansicht wird kaum mainstreamfähig sein, aber ich war begeistert.

Wohin führt Christians Weg?

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Brian De Palma haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Carice van Houten unter Schauspielerinnen, Filme mit Nikolaj Coster-Waldau in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 22. August 2019 als Blu-ray und DVD

Länge: 89 Min. (Blu-ray), 85 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Domino
Land DK/F/BEL/IT/NL/GB/USA 2019
Regie: Brian De Palma
Drehbuch: Petter Skavlan
Besetzung: Nikolaj Coster-Waldau, Carice van Houten, Guy Pearce, Eriq Ebouaney, Søren Malling
Zusatzmaterial: Wendecover
Label/Vertrieb: Koch Films

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2019 Koch Films

 
 

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Lebendig skalpiert – Der Western aus dem Münsterland

Lebendig skalpiert

Von Volker Schönenberger

Horror-Westernkomödie // Eine junge Apachenjägerin (Taynara Wolf) schleicht sich an eine Herde Wasserbüffel heran. Doch gerade als sie ihren Bogen anlegen will, wird sie von einer Kompanie Soldaten der Konföderierten Armee gestört. Zwei üble Gesellen nehmen sie gefangen, doch bevor die beiden die Apachin vergewaltigen, greift immerhin der Südstaaten-General (Ralf Richter) mit seinem Adjutanten Brutus ein und bewahrt die junge Frau vor dem Schlimmsten. Die Indianerin ist zwischen die Fronten des Amerikanischen Bürgerkriegs geraten.

Auf der Jagd

Die Südstaaten-Armee erleidet gegen die Unionstruppen eine vernichtende Niederlage. Der General bekommt einen Schuss in den Bauch. Seinen baldigen Tod ahnend, trägt er seinem Adjutanten auf, die Fahne der Einheit und die Tochter des Generals in Sicherheit zu bringen. Als er schwer verletzt wird, rettet ihm die dankbare Indianerin mit einem Serum aus Klapperschlangengift das Leben. Nebenwirkung: Sein Gesicht wird entstellt, und er entwickelt grenzenlose Mordlust.

Erstkontakt mit Jochen Taubert

Deinen ersten Taubert vergisst du nie! Natürlich war mir der Name Jochen Taubert schon zuvor ein Begriff, aber da ich mich bis 2019 nie ausgiebig mit dem deutschen Amateur- und Undergroundfilm beschäftigt hatte, ist sein Werk bislang an mir vorbeigegangen. Die Heimkino-Veröffentlichung von Tauberts jüngster Regiearbeit „Lebendig skalpiert“ durch die Busch Media Group war nun willkommener Anlass, das zu ändern.

Der General vor seiner letzten Schlacht

Die Horror-Westernkomödie bietet Trash in Reinkultur gepaart mit großer Schauspielkunst. Okay, beim zweiten Punkt habe ich etwas übertrieben, um nicht zu schreiben: hemmungslos gelogen. Taubert drehte mit bewährtem Team im schönen Münsterland rund um seine Heimatstadt Stadtlohn. Ebenfalls von dort stammt Hauptdarstellerin Taynara Wolf, vormals Kandidatin bei „Germany’s next Topmodel“ – da weiß man sogleich, wo der schauspielerische Hase langläuft. Wolf hatte ein Jahr zuvor auch eine kleine Rolle in „Tal der Skorpione“ (2019) innegehabt, der im selben Segment anzusiedeln ist wie „Lebendig skalpiert“. Spätestens dort hat sie wohl Jochen Taubert kennengelernt, der darin ebenfalls eine Rolle hatte – genau wie Ralf Richter („Das Boot“). Im deutschen Undergroundfilm unterstützt man sich eben gegenseitig.

Der Liebste ist tot!

Wer Filme wie diesen ernst nimmt, dem ist nicht zu helfen. Sie sind hemmungslos und leidenschaftlich amateurhaft und erheben gar nicht erst irgendeinen höheren Anspruch. Angesichts der Dialoge rollen sich einem natürlich schon die Zehennägel auf, erst recht bei der Stimme aus dem Off, die einiges erklärt, was bei „Lebendig skalpiert“ doch vermutlich keinen Zuschauer interessiert. Andererseits machen die stümperhaften Worte für Trashfans einen Gutteil des Reizes aus.

Er mag es blutig und gut abgehangen

Lebendig skalpiert wird eher selten – mir ist nur eine einzige solche Tat aufgefallen. Gleichwohl geht es blutig zur Sache, die FSK-18-Freigabe der ungeschnittenen Fassung ist berechtigt. Da wird nach Herzenslust gemetzelt, niedergestochen, erschossen, totgeschlagen und -gehackt. Der Lebenssaft fließt in Strömen. Auch das zwar nicht auf höchstem Niveau, aber doch ansehnlich genug und handgemacht, sodass Freude aufkommt. Auch einige nackte Tatsachen werden geboten, hübsch zusammenhanglos, wie sich das in diesem filmischen Segment gehört. Wer nach ernsthafter Westernware sucht, möge anderswo weitersuchen, Trash- und Underground-Freunde kommen auf ihre Kosten.

Skalpieren – ein Hobby für Genießer

Mit Filmen wie „Ich piss’ auf deinen Kadaver“ (1999), „Piratenmassaker“ (2000), „Turbo Zomi – Tampons of the Dead“ (2011) und „Spiel mir am Glied bis zum Tod“ (2014) hat sich Jochen Taubert seinen Ruf im deutschen Independent-Film wacker erarbeitet – worin auch immer dieser Ruf bestehen mag. Da ich mit seinen Arbeiten wie erwähnt nicht vertraut bin: Welche seiner Regiearbeiten sind unverzichtbar, will man Jochen Tauberts Œuvre ergründen?

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Ralf Richter haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Ob er eine gespaltene Persönlichkeit entwickelt?

Veröffentlichung: 24. April 2020 als Blu-ray und DVD

Länge: 87 Min. (Blu-ray), 83 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: keine
Originaltitel: Lebendig skalpiert
D 2020
Regie: Jochen Taubert
Drehbuch: Jochen Taubert
Besetzung: Taynara Wolf, Ralf Richter, Alina Lina, Christian Stock, Heiko Bender, Texas Patti, Sabrina Arnds, Elisabeth Habicht, Uwe Choroba, Giovanna Pepe, Ingo Kunert, Ramona Groth, Sascha Goldbach, Hans Schulte, Markus Beyer, Jochen Taubert
Zusatzmaterial: Filmmusik live on Stage (11:04), Interview mit Alina Lina (1:08), Premierenparty (8:12), Musikvideo „Es war einmal im Weste(r)n (3:48), Behind the Scenes 1 (1:33), Behind the Scenes 2 (7:54), Interview mit Jochen Taubert (3:32), Trailershow, Wendecover
Label: Busch Media Group
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos, Packshot & Trailer: © 2020 Busch Media Group

 
 

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