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Archiv für den Monat Juni 2020

Clint Eastwood (XXV): Der Fall Richard Jewell – Held oder Täter?

Richard Jewell

Kinostart: 25. Juni 2020

Von Philipp Ludwig

Drama // Anfang März 2020 besuchte ich die Hamburger Pressevorführung von „Der Fall Richard Jewell“. Dass es sich hierbei um meinen auf längere Sicht wohl letzten Kinobesuch handeln würde, konnte ich dabei natürlich nicht ahnen. Trotz sich bereits damals zumindest in Ansätzen andeutender Coronakrise.

Als Schauspieler und Regisseur groß: Clint Eastwood

Clint Eastwood hat sich als herausragender Schauspieler über Jahrzehnte hinweg einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis gleich mehrerer Generationen redlich verdient. Auch als Regisseur zeigt er seit vielen Jahren nun schon sein großartiges Talent auch für die Arbeit hinter der Kamera. Filme wie „Letters from Iwo Jima“ (2007) oder „Gran Torino“ (2008) waren für mich persönlich zumindest wahre filmische Ausnahmeerlebnisse. Den Stil von Eastwood zeichnet vor allem seine präzise Schnörkellosigkeit aus. In seinen Filmen erfolgen keine großen Experimente. Rasante Kamerafahrten, visuelle und auditive Tricks oder innovative Erzählstrategien sucht man in der Regel vergebens. Gerade diese klassische Art und Weise der Inszenierung, stringent und ohne viel kreativen Schnickschnack eine Geschichte zu erzählen, muss in den häufig viel zu hektischen Filmen unserer Zeit gewiss kein Nachteil sein. Ganz im Gegenteil. Wenn man einen von Eastwood gemachten Film besucht, weiß man in der Regel, was einen erwartet. Und wird für gewöhnlich auch nicht enttäuscht.

Richard Jewell (M.) hat alles unter Kontrolle

Ein weiteres Merkmal der Arbeit des Regisseurs Eastwood ist sein herausragendes Gespür für die Besetzung von Rollen sowie sein Umgang mit seinen Darstellerinnen und Darstellern. Selbst aus renommierten Haudegen des Geschäfts vermag der Altmeister besondere Leistung herauszukitzeln. Nicht umsonst schwärmt etwa eine unangefochtene Schauspielgröße wie Tom Hanks in höchsten Tönen von seiner früheren Zusammenarbeit mit Eastwood, wie er unter anderem in der populären britischen Talkshow „The Graham Norton Show“ anmerkt. Dennoch ist der Mensch Clint Eastwood natürlich nicht frei von Kontroversen. Der konservative und patriotisch veranlagte Unterstützer der Republikaner verkörpert nicht nur in seinen prägendsten Rollen das Bild eines „weißen Mannes“, das in dieser Form eigentlich schon längst nicht mehr zeitgemäß erscheint. Auch in seinen Filmen schimmert wiederholt ein Stück zu sehr die persönliche Meinung des Regisseurs durch, die trotz all seiner künstlerischen Genialität nicht immer vollends begrüßenswert ist. Gleichwohl – es ist seine Meinung, und er hat jedes Recht, sie zu verkünden.

Clint Eastwood: Liebhaber des „Alltagshelden“?

Clint Eastwood verdankt seinen Ruhm als Schauspieler in erster Linie seiner prototypischen Verkörperungen zahlreicher einsamer Helden und Rächer. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich auch als Regisseur auf die Geschichten von kleinen und großen Helden des Alltags konzentriert. In seinem neuesten, auf wahren Begebenheiten beruhenden Werk widmet er sich nun dem tragischen Fall von Richard Jewell (Paul Walter Hauser, „I, Tonya“). Der dickliche Außenseiter macht im ersten Moment jedoch nicht einmal ansatzweise den Eindruck eines mutigen Helden, hatte von klein auf aber dennoch nur einen Wunsch: Polizist zu werden. Mit der Gesetzestreue nimmt es der mittlerweile 33-Jährige, der immer noch bei seiner Mutter wohnt, allerdings ein wenig zu genau. So verlor er nicht nur recht schnell seine Anstellung als Deputy beim örtlichen Sheriffbüro – auch in zahlreichen weiteren Beschäftigungen als Sicherheitsmann kommt es wiederholt zu Vorfällen, bei denen er es mit der Pflichterfüllung sowie der Auslebung seiner Autorität ein wenig übertreibt, sodass er anschließend vor die Tür gesetzt wird.

Nach den Ereignissen im Centennial Park wird er zum gefragten Medienstar

Nachdem er daher mal wieder seinen Job als Wachmann in einem College verloren hat, heuert er im Sommer 1996 als Sicherheitsmann bei dem Event des Jahres an: den Olympischen Spielen! Für das in seiner Heimatstadt Atlanta stattfindende Großereignis wurde im Centennial Park extra ein großes Festivalgelände für Konzerte und zahlreiche weitere Veranstaltungen eingerichtet. Eines Abends erfolgt für das stets gut besuchte Gelände eine Bombendrohung. 30 Minuten gibt der anonyme Anrufer den Sicherheitsbehörden, einen versteckten Sprengsatz zu finden. Richard Jewell gelingt das tatsächlich, er verhindert somit eine Katastrophe.

Der Held gerät unter Verdacht

Innerhalb weniger Stunden wird der bis dato so unscheinbare Richard zum strahlenden Helden einer ganzen Nation und gefragten Medienstar. Doch bald lenkt FBI-Agent Tom Shaw (Jon Hamm, „Mad Men“) den Verdacht auf den die Aufmerksamkeit ein wenig zu sehr liebenden Richard. Nachdem zudem Details aus dessen Vergangenheit und über die etwas überzogenen Auslebungen seines Sicherheitswahns bekannt werden, wird der zunächst gefeierte Held schnell zum Hauptverdächtigen des Anschlags. Neben seiner Mutter Bobi (Kathy Bates, „The Highwaymen“) kann dieser nur noch auf den streitlustigen und bislang nur wenig renommierten Anwalt Bryan Watson (Sam Rockwell, „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“) hoffen, der ihm trotz zunächst schier aussichtsloser Lage zur Seite steht. Wird es ihnen gelingen, Richards Unschuld zu beweisen? Dazu muss aber vor allem der allzu obrigkeitstreue Möchtegernpolizist verstehen, dass die Ermittler ihm nicht nur nicht helfen wollen, sondern erst recht nicht seine „Kollegen“ sind. Keine einfache Angelegenheit.

FBI-Agent Tom Shaw traut dem Helden nicht

Die eingangs beschriebenen Vorzüge von Eastwoods Filmen zeigen auch in „Der Fall Richard Jewell“ voll und ganz ihre Wirkung. Das Werk überzeugt insbesondere durch seine ruhige und chronologisch stringente Erzählweise. Eastwood nimmt sich angenehm viel Zeit, um uns in den eigenwilligen Charakter Jewells und dessen Lebenswelt einzuführen, ohne dabei in die narrativen Gefahren von Längen oder Langeweile zu geraten. Überzeugen kann der Regisseur vor allem mit der in Echtzeit inszenierten Bombensuche und anschließend versuchten Entschärfung im Centennial Park. Die dabei herrschende Anspannung gerade beim Sicherheitspersonal überträgt sich gekonnt bis in den Kinosaal. Aber auch die kurze Zeit, in der Richard als Held gefeiert wird, und die anschließenden, umfassenden Ermittlungen des FBI sowie der ermüdende Kampf gegen Windmühlen des „Teams Jewell“ werden nicht nur umfassend, sondern stets spannend durchleuchtet.

Der endgültige Durchbruch für Paul Walter Hauser?

Ebenso zeigt sich in „Der Fall Richard Jewell“ Clint Eastwoods Gespür für die optimale Besetzung und seine hervorragende Schauspielerführung am Set. Allen voran erlebt der bislang oft unterschätzte Paul Walter Hauser hier seine absolute Glanzstunde. Der war bislang eher als Nebendarsteller bekannt, speziell als latent dämlich angehauchter Comic Relief in Erfolgsfilmen wie „I, Tonya“ (2017) oder „Blackkklansmen“ (2018). In seiner ersten großen Hauptrolle verfällt er auch als Richard Jewell zunächst in sein daher zu erwartendes Darstellermuster, um dann mit zunehmender Laufzeit ein beeindruckendes darstellerisches Talent zu offenbaren. Ebenso schafft er es mit seiner schrulligen Interpretation von Jewell, für den einen oder anderen bitter benötigten Lacher in dem ansonsten so ernsten Stoff zu sorgen. Mit hervorragenden Darstellerinnen und Darstellern wie dem großartigen Oscar-Preisträger Sam Rockwell, die für ihre Rolle von Jewells Mutter für einen Oscar nominierte Kathy Bates, Jon Hamm oder auch Olivia Wilde („The Lazarus Effect“) ist „Der Fall Richard Jewell“ zudem bis in die Nebenrollen hinein vorzüglich besetzt.

Richards Mutter Bobi beobachtet den Medienandrang vor ihrem Haus

Doch leider ist auch Eastwoods neuester Streich nicht gefeit vor dessen persönlichen Fehlern. So steht sich der Altmeister mit seinen eigenen Ansichten gelegentlich selbst im Weg, wodurch auch der eigentlich durchweg gute Eindruck von „Der Fall Richard Jewell“ etwas leidet. So zeigt sich zum Beispiel Eastwoods implizierte Ablehnung gegenüber staatlichen Institutionen in einer ziemlich überzogenen Dämonisierung des FBI und dessen Ermittlern, die selbst vor der Unterwäsche oder kostbaren Tupperware von Jewells Mutter keinen Halt machen.

Auch führt seine grundlegende Ablehnung gegenüber den Medien zu einer zwar im Grunde berechtigten, aber mitunter gleichfalls überzogen wirkenden Medienschelte. Gerade die Medienkritik brachte dem Regisseur bislang den meisten Ärger ein. Dies liegt insbesondere an seiner filmischen Interpretation der realen Journalistin Kathy Scruggs (Wilde), die Eastwood einen Großteil des Films als besonders verachtenswerte Ausgabe ihres Berufsstandes inszeniert. So scheint diese in ihrem Karrierewahn nicht nur ohne Empathie oder so etwas ähnlichem wie eine menschliche Seele ausgestattet zu sein – sie schreckt auch nicht vor Einbrüchen und Sexdiensten zurück, um an Informationen zu gelangen. Hiermit soll Eastwood nicht nur dem historischen Vorbild unrecht tun, im Zeitalter vom „woke“-Gedanken und „#metoo“ sorgte zudem insbesondere das alte Klischee der „Frau bietet ihren Körper zum Wohl der Karriere an“ zu Recht für einige öffentliche Empörung.

Richards letzter Freund? Der streitlustige, frühere Karriereanwalt Watson Bryant

Ist man als Zuschauerin oder Zuschauer bereit, über diese teilweise problematischen Einschübe des Regisseurs hinwegzusehen, erwartet einen mit „Der Fall Richard Jewell“ rundum solide Eastwood-Kost. Der handwerklich und erzählerisch bestens inszenierte Film kann vor allem aufgrund der herausragenden Schauspielleistungen überzeugen. Er funktioniert zudem als Mahnmal für unsere gegenwärtige Zeit, in der Menschen nicht nur durch die etablierten, sondern insbesondere die umfangreichen sozialen Medien nur allzu schnell vorverurteilt und gesellschaftlich geradezu vernichtet werden. Nicht auszudenken, Richard Jewell hätte sich auch noch mit den Folgen eines massiven Internetmobs auseinandersetzen müssen. Doch auch so hatte die unvergleichliche emotionale Tour de Force für das reale Vorbild üble Folgen, starb dieser doch nur wenige Jahre später am 29. August 2007 an Herzversagen. Er wurde gerade einmal 44 Jahre alt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Clint Eastwood haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Kathy Bates unter Schauspielerinnen, Filme mit Sam Rockwell in der Rubrik Schauspieler.

Doch wird sich der eigenwillige Mandant überhaupt helfen lassen?

Länge: 131 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Originaltitel: Richard Jewell
USA 2019
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: Billy Ray, nach Vorlagen von Marie Brenner, Kent Alexander und Kevin Salwen
Besetzung: Paul Walter Hauser, Sam Rockwell, Olivia Wilde, Kathy Bates, Jon Hamm, Brandon Stanley, Ryan Boz, Charles Green, Mike Pniewski, Ian Gomez
Verleih: Warner Bros. Entertainment GmbH

Copyright 2020 by Philipp Ludwig

Filmplakat, Szenenfotos & Trailer: © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All rights reserved.

 

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Michael Striss: Columbo – Der Mann der vielen Fragen (Buchrezension): Keine weiteren Fragen!

Columbo – Der Mann der vielen Fragen

Von Tonio Klein

Film-Sachbuch // Nachdem ich die Erstauflage des Pfarrers (!) Michael Striss auf Amazon in den Himmel (!!) gelobt habe, ist nach zwölf Jahren, 2019, eine Neuauflage erschienen. Weite Teile werde ich von meinem alten Text übernehmen, vorausgeschickt sei: Das Buch hat sich noch verbessert und ist nach einer Books-on-Demand-Veröffentlichung 2007 im September 2019 im Büchner-Verlag erschienen.

Blick ins Innere

Zu Striss stehe ich mittlerweile in Briefkontakt, damals aber noch nicht. Neben einem Update aufgrund des zwischenzeitlichen Todes Peter Falks sowie Ergänzungen in einigen Fußnoten ist vor allem auf den Gewinn hinzuweisen, der sich aus der Einführung zahlreicher farbiger Abbildungen ergibt. Diese finden sich zwar nicht auf Hochglanzpapier und sind auch etwas zu dunkel geraten. Aber sie und die Bildunterschriften harmonieren perfekt mit dem Text und unterstreichen stets einen Aspekt, der sich auch im Text findet. Ebenfalls löblich ist das vorher nicht vorhandene Namens- und Filmregister.

Von Dostojewski bis zur Bibel: Alles über Columbo

Striss gelingt es meisterhaft, die Kult-Elemente nicht nur höchst vergnüglich für den Fan zusammenzutragen, sondern das Buch hat auch einen beachtlichen Mehrwert. Der Autor verbindet seine Analyse mit Dostojewski, Soziologie, Religion, Psychologie, Sprachtheorie, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen. Und wer jetzt meint, dies müsse in Kauderwelsch abgleiten, der wird sich bei der Lektüre aufs Schönste getäuscht fühlen. Das Buch, ein wahres Kompendium von „Columbo“, widmet sich gleichermaßen den Hintergründen (Entstehungsgeschichte, Kurzbio des Hauptdarstellers, Würdigung von wichtigen Nebendarstellern, Rezeption, Entwicklung, Revival nach etwa zehnjähriger Pause) wie dem Geschehen auf der Mattscheibe selbst – in wie gesagt allen erdenklichen Richtungen. Immer kenntnisreich, nie langweilig oder zu hochgestochen.

Noch ein Blick ins Innere

Es ist gar nicht so leicht, niveauvoll und verständlich zugleich zu schreiben, Striss gelingt es. Gute Kenntnisse in den oben genannten, bei einem Serienbuch nicht unbedingt zu erwartenden Bereichen hat er durchweg, was man zum Beispiel anhand der seltenen Übersetzung des biblischen Gebots mit „Du sollst nicht morden“ erkennen kann. Üblicherweise wird dies mit „… töten“ wiedergegeben, aber Striss hat recht!

Folge für Folge: Bestandteile und schlüssige Bewertungen

Auch die Darstellung aller 69 Folgen gelingt. Sie nimmt einen Großteil des Buches ein und ist mehr als nur eine Auflistung: komplette Nennung von Cast und Crew, originale und deutsche Erstausstrahlung, kurze Inhaltsangabe und eine Auflistung der Dinge, die wir über wiederkehrende Elemente der Serie wie der Hauptfigur erfahren, schön nach Kategorien geäußert. Abschließend eine Bewertung, bei der ich mich naturgemäß nicht immer anschließen kann, aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten und der Autor lädt auch ausdrücklich dazu ein, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Er argumentiert meist so schlüssig, dass man das auch bei einem anderen eigenen Eindruck goutieren kann, nur ein Beispiel: Er mag die ungewöhnliche Folge „Undercover“ nicht, ich mag sie. Aber auch er bringt auf den Punkt, was unter anderem an ihr gelungen ist (ein Wechselspiel mit Identitäten durch Kostümierungen, die letztlich den Charakter von Columbo bestätigen, der gerade dann und nur dann als Cop erkannt wird, wenn er es mal nicht will). Nur ist seine Gewichtung anders. Damit kann ich nicht nur sehr gut leben, sondern das erzeugt bei mir große Bewunderung und Respekt für auch andere Ansichten (den man eh haben sollte, aber durch Striss’ Erklärungen wird dies noch gesteigert).

Ein wunderbares Buch, das Beachtung und Verbreitung verdient.

© 2007 Michael Striss

Columbo – Der Mann der vielen Fragen
Analyse und Deutung einer Kultfigur
Veröffentlichung Erstauflage: 16. August 2007 (Books on Demand)
Veröffentlichung aktualisierte und ergänzte Neuauflage: 11. September 2019
512 Seiten, 15,0 x 22,0 cm, kartoniert, mit farbigem Bildteil
Verlag: Büchner-Verlag
Preis: 25 Euro (Print), 22 Euro (ePDF)

Copyright 2020 by Tonio Klein

© 2019 Büchner Verlag

 

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Ghul – Der Dämon im Folterknast

Ghoul

Von Volker Schönenberger

Horror-Miniserie // Ghule sind in diversen Mythologien anzutreffen. Sie gelten gemeinhin als Leichenfresser und führen in aller Regel Übles im Schilde. Sie sind Dämonen aus dem arabischen Raum und hielten erst mit der Verbreitung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht auch in westlichen Mythen Einzug.

Indien als Polizeistaat

Strike the deal with your blood. And out of the smokeless fire the Ghul will come. Ein mit Blut besiegelter Pakt beschwört aus rauchlosen Feuer den Ghul herauf. So weit, so unheilvoll – mit diesen Worten beginnt der indische Dreiteiler „Ghul“, dessen weltweite Verbreitung sich 2018 Netflix gesichert hat. In der nahen Zukunft haben religiöse Konflikte Indien in Aufruhr versetzt. Die Regierung hat zur Terrorismusbekämpfung die Spezialeinheit National Protection Squad (NPS) ins Leben gerufen und interniert Regimegegner, religiöse Fanatiker und vermeintliche oder tatsächliche Terroristen in einer der vielen Verwahr- und Verhöreinrichtungen, die eigens dafür errichtet worden sind.

Terrorist Ali Saeed wird gefoltert

Die junge Muslima Nida Rahim (Radhika Apte) lässt sich von ihrem intellektuellen Vater (S. M. Zaheer) zur Militärakademie fahren. Danach schwärzt sie ihn aufgrund seiner liberalen Ansichten an – er wird verhaftet. Nida wird zur Verhörspezialistin ausgebildet und – weil sie bei den erweiterten Verhörmethoden die beste Kursteilnehmerin war – in den Gefängniskomplex Meghdoot 31 versetzt, einen ehemaligen Atombunker. Oberstleutnant Sunil Dacunha (Manav Kaul) freut sich über seine neue Rekrutin, mit der er womöglich besondere Pläne hat. Ihre unmittelbare Vorgesetzte Major Laxmi Das (Ratnabali Bhattacharjee) hingegen äußert gegenüber Dacunha, Nida zu misstrauen. Kurz nachdem sie ihren Dienst in der Einrichtung angetreten hat, wird der berüchtigte Terrorist Ali Saeed (Mahesh Balraj) eingeliefert. Doch mit ihm ist auch etwas anderes eingetroffen …

Dystopischer Horrortrip

Da haben die Inder aber einen außergewöhnlichen Genre-Hybrid abgeliefert. Mit Ausnahme einiger kleiner Details gibt sich die erste „Ghul“-Episode „Aus dem rauchlosen Feuer“ als düstere Knast-Thriller-Dystopie, die von Anfang an zu fesseln vermag. Natürlich weiß das Publikum allein schon aufgrund des Serientitels, dass es sich um Horror handelt, auch ein kurzer Prolog inklusive des oben von mir erwähnten Blutpakts verrät das. Ansonsten aber zeichnet die erste Folge Indien als autoritären Polizeistaat, in welchem Kritiker mundtot gemacht werden und Folterkeller den Status ganz normaler staatlicher Einrichtungen haben.

Nida Rahim gerät an ihre Grenzen und darüber hinaus

In der zweiten Episode treten bei der Belegschaft vermehrt Albträume auf, sie trägt dann auch den Titel „Die Albträume werden beginnen“. Rund um den neuen Häftling Ali Saeed ereignet sich Beunruhigendes, sodass schließlich der schlimmste aller Folterknechte auf den Terroristen losgelassen wird: Faulad Singh (Surender Thakur).

Erst Spielfilm, nun Dreiteiler

Mit insgesamt 139 Minuten hat der Dreiteiler eine Länge, mit der er problemlos als Spielfilm durchgehen könnte, zumal in dem Fall ja auch zwei Abspänne entfallen würden. Ursprünglich war die Produktion wohl auch auf einen Spielfilm ausgelegt, doch als Netflix ins Boot kam, wurde das Konzept überarbeitet. Fürs Publikum ist das von untergeordneter Bedeutung, da „Ghul“ von Anfang an als Streaming-Serie verfügbar war und niemand eine Woche auf die nächste Folge warten musste wie beim linearen Fernsehen. Der Spannungsbogen hätte in einem Einteiler nicht besser funktioniert.

Frische Gesichter für unsere Breiten

Ein Vorteil von Produktionen hierzulande nicht ganz so präsenter Filmnationen kommt hier zum Tragen: unverbrauchte Gesichter. Schauspielerisch überzeugt das, auch wenn zugegeben nicht alle Figuren große Herausforderungen an die Besetzung stellen. Speziell Radhika Apte hat mir aber gut gefallen – sie spielte im selben Jahr auch in Michael Winterbottoms Thriller „The Wedding Guest“ an der Seite von Dev Patel. In „Ghul“ macht ihre Figur die größte Wandlung durch, muss sie doch nach und nach erkennen, dass der Staat, an den sie glaubt, ihren Einsatz nicht zu würdigen weiß. Dass ihr größter Dienst für diesen Staat – der Verrat an ihrem Vater – gleichzeitig ihr größtes persönliches Opfer darstellt, macht es für Nida umso schwerer.

Kein Sonnenstrahl erhellt die Düsternis

Horror und Kritik an möglicherweise drohenden polizeistaatlichen Auswüchsen gehen in dem Dreiteiler eine prima funktionierende Symbiose ein. In Verbindung mit der Düsternis des Settings stellt sich im Verlauf der einen Hauch schleppend inszenierten ersten Episode dann doch Hochspannung ein, die bis zum Finale der letzten Folge „Offenbare ihre Schuld, friss ihr Fleisch“ nicht mehr endet. Mit Ausnahme weniger Sequenzen zu Beginn und am Ende der Serie spielt sich die gesamte Handlung in den fensterlosen Räumen von Meghdoot 31 ab. Für ein Kammerspiel ist zu viel Bewegung in der Story, aber „Ghul“ soll ja gar keines sein. Ein beklemmendes Gefühl der Enge stellt sich dennoch ein, dafür sorgt das Setdesign mit den dunklen Knast-Räumlichkeiten, in die mangels Fenstern niemals ein Sonnenstrahl fällt.

Auf „Ghul“ folgt „Vetala“

Der in Mumbai tätige britische Drehbuchautor und Regisseur Patrick Graham hat mit dem titelgebenden Ghul eine wie erwähnt eher im Arabischen beheimatete Schauergestalt in Indien eingesetzt. Für sein Nachfolgeprojekt hat er sich dann auch mal bei der indischen Mythologie bedient: Die Untoten-Miniserie „Vetala“ (2020) läuft ebenfalls exklusiv bei Netflix. Bei ihr wie auch bei „Ghul“ waren koproduzierend die Amerikaner Blumhouse im Boot.

Insgesamt hätte ich mir etwas mehr vom Ghul gewünscht. Dessen Potenzial wird leider gerade zum Finale hin nicht ganz ausgereizt, hier wäre „Viel hilft viel“ die optimale Devise gewesen. So endet der Dreiteiler weniger exzessiv als erhofft, geht aber immer noch als so ungewöhnlicher wie sehenswerter Horrortrip ins Ziel.

Die drei Episoden:

1. Aus dem rauchlosen Feuer (Out of the Smokeless Fire, 44:47 Min.)
2. Die Albträume werden beginnen (The Nightmares Will Begin, 44:17)
3. Offenbare ihre Schuld, friss ihr Fleisch (Reveal Their Guilt, Eat Their Flesh, 49:36)

Veröffentlichung: 24. August 2018 bei Netflix

Länge: 139 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Hindi, Hindi (Audiodeskription)
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch, Hindi
Originaltitel: Ghoul
IND 2018
Regie: Patrick Graham
Drehbuch: Patrick Graham, Kartik Krishnan, Sarang, Sathaye
Besetzung: Radhika Apte, Manav Kaul, Rohit Pathak, Ratnabali Bhattacharjee, Sunil Soni, Kailash Kumar, Harry Parmar, Bajrangbali Singh, S. M. Zaheer, Mahesh Balraj, Surender Thakur
Streaming-Plattform: Netflix

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos, Packshot & Trailer: © 2018 Netflix

 

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