RSS

Horror für Halloween (XVI): The Woman – Wilder Schreckenstrip ins rabenschwarze Herz einer Familie

04 Okt

The Woman

Für Dallas Mayr alias Jack Ketchum (1946–2018)

Von Volker Schönenberger

Horrordrama // Eine Frau (Pollyanna McIntosh) in der Wildnis. Ja, selbstredend, es handelt sich um „The Woman“ aus dem Filmtitel. An einem Bach dringt sie in eine Höhle ein, tötet mit dem Messer ein wildes Tier. Sie jagt, wie eine Wölfin,schläft im Freien. Bald darauf hat sie ein Kind zur Welt gebracht.

Die Wilde im Wald

Szenenwechsel: Rechtsanwalt Chris Cleek (Sean Bridgers) befindet sich mit seiner Familie bei einer Grillparty. Vordergründig scheint alles in Ordnung zu sein, aber die Cleeks wirken ein wenig neben der Spur. In ruhigem Tonfall gibt Chris seiner Frau Belle (Angela Bettis) Anweisungen, oder er sagt etwas, aus dem sie schließt, was sie zu tun hat. Seine Tochter Peggy (Lauren Ashley Carter) sitzt verstimmt irgendwo herum. Ihr Bruder Brian (Zach Rand) beobachtet ein paar Jungs, die ein kleines Mädchen piesacken, wirkt aber gleichgültig und übt lieber weiter Korbwürfe, weil sein Vater offenbar den Ehrgeiz hat, dass aus ihm ein begnadeter Basketballspieler wird. Das kleine Töchterlein Darlin’ (Shyla Molhusen) schließlich knutscht gern Jungs ab. Eine ganz normale „all american family“ also.

Bilderbuchehe? Wohl kaum

Auf einem Jagdausflug in den Wald entdeckt Chris zufällig die wilde Frau beim Baden. In ihm reift eine Idee: Er kehrt nach Hause zurück und lässt seine Familie den Keller herrichten. Dann schnappt er sich ein Netz, fährt erneut in den Wald, fängt die Frau, bringt sie heim und kettet sie im Keller an die Wand. Dass mit seiner Gefangenen nicht gut Kirschen essen ist, merkt Chris auf schmerzhafte Weise, als sie ihm ein Glied seines Ringfingers abbeißt. Das hindert ihn nicht daran, die Wilde bald darauf seiner Familie vorzustellen. Belle und seine Kinder sind zwar sehr überrascht, fügen sich aber erwartungsgemäß ohne Murren und Knurren, als Chris ihnen mitteilt, er wolle die Frau domestizieren. Immerhin traut sich Chris’ Angetraute abends im Schlafzimmer, eine Frage zu stellen: Diese Frau da unten – findest du es richtig, so mit ihr umzugehen? Eine Ohrfeige als Antwort soll wohl Ja bedeuten.

Was für eine verkorkste Sippschaft!

Puh, dieses Familienoberhaupt ist von der ganz unangenehmen Sorte, und seine Lieben hat er mit seinem Gehabe auch schon verkorkst. Bereits die kleinen Details bei der Grillparty verdeutlichen, dass wir es mit einer dysfunktionalen Familie zu tun haben; als die Gefangene dazukommt, treten sonderbare Verhaltensweisen immer offener zutage. Klar, dass man sich als Rezipient bald die Frage stellt, ob wirklich die Frau die Wilde ist. Das könnte man für plump halten, weil es so naheliegend ist, aber hier ist überhaupt nichts plump.

Entdeckung im Wald

Für Chris Cleek kann man nur Verachtung empfinden, denn die Art und Weise, wie er seine Familie behandelt, entspricht nicht im Entferntesten den Mindestanforderungen an einen liebenden Ehemann und Vater. Seinen Anweisungen ist unmittelbar Folge zu leisten, ohne sie in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Nach außen verbirgt er seinen miesen Charakter, gibt sich gegenüber seiner Sekretärin Dorothy (Lauren Schroeder) charmant, wobei die Szenen den Eindruck erwecken, er sei einem Seitensprung im Büro nicht abgeneigt. Aber genau wissen wir das nicht! Ebenso stellen wir uns die Frage, ob er gegenüber seiner Tochter Peggy mehr als väterliche Gefühle hegt. Jedenfalls empfindet sie seine Nähe als unangenehm, fast wirkt es, als ekle sie sich vor ihm. Das deutet an, dass da womöglich mehr sein könnte. Aber genau wissen wir das nicht! Womöglich wollte Regisseur Lucky McKee erreichen, dass wir Chris einige solch üble Taten zutrauen, ohne dass wir ihn dabei beobachten. Wenn er später noch einige weitere Stufen miesen Verhaltens hinabsteigt, überrascht uns das nicht. Aber welches Gebaren kann einen schon überraschen, werden wir doch zügig Zeuge, wie er eine wilde Frau im Wald fängt, um sie in seinen Keller zu sperren, statt die Behörden über seine Beobachtung zu unterrichten. Bis dahin ahnen wir nur seine Verkommenheit. Wie sehr diese bereits bis ins Mark seiner Familie vorgedrungen ist, erfahren wir wenig später, wenn er die Frau seiner Familie präsentiert. Zwar sind Belle und die Kinder überrascht, vielleicht kommt es ihnen sogar seltsam vor, dass ihr Vater eine Gefangene in den Keller gesperrt hat; aber es kommt ihnen anscheinend nicht der Gedanke, dass mit ihrem Familienoberhaupt etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Oder sind sie bereits so verstört, dass Aufbegehren überhaupt keine Handlungsalternative darstellt?

Feministisch? Vielleicht. Antipatriarchalisch? Ganz sicher!

Ist „The Woman“ ein feministischer Film? Schwer zu sagen, da die erwachsenen weiblichen Hauptfiguren – Belle und die wilde Frau – selbst nicht unbedingt positiv gezeichnet sind. Jedenfalls ist es ein antipatriarchialischer Film, der ganz eindeutig männlichen Machtmissbrauch in den Fokus stellt. Es ist sicher kein Zufall, dass sich später mit Brian ausgerechnet das männliche Kind als am verkommensten unter den dreien erweist. Auch Ehefrau Belle steht voll unter der Fuchtel ihres Mannes, wagt kaum einen eigenen Gedanken. Oben erwähnte Ohrfeige wird nicht die erste Züchtigung gewesen sein, die sie in ihrer unglücklichen Ehe erleiden musste. Aber sie bleibt bei ihm, bis es zu spät ist. Ein Fanal für den Feminismus sieht anders aus.

Familienvater Chris präsentiert seinen Fang

Die Interpretation der Rolle der Frau aus dem Wald gestaltet sich ungleich schwieriger. Hier muss auch unterschieden werden, ob man den Film für sich allein stehend bewertet oder als Sequel von „Beutegier“ (zur Trilogie siehe unten). Kennen wir den Vorgänger, ist es einfach, die Frau als Teil einer mörderischen und kannibalistischen Brut zu sehen. Betrachten wir „The Woman“ ohne Vorkenntnisse, wissen wir nur, dass sie im Wald wie ein wildes Tier lebte, immerhin ein Kind gebar, somit Kontakt zu mindestens einem Mann hatte. Leidet sie an Deprivation, einem Zustand der Entbehrung und Isolation, der mit der psychosozialen Störung des Hospitalismus einhergeht? Ist ihre nicht zu leugnende Entwicklungsstörung gar das Kaspar-Hauser-Syndrom, das auftritt, wenn ein Mensch oder Tier lange Zeit unter völligem Reizentzug gehalten und misshandelt wurde?

Die Frau!

Mir kam während der Sichtung von „The Woman“ wiederholt der Gedanke, die Frau diene in erster Linie als Katalysator für die Cleggs, denn lange Zeit ist sie im Keller angekettet und kaum zu initiativen Handlungen fähig. Aber ihre Anwesenheit setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, welche die Familie an den Rand des Abgrunds bringen – und darüber hinaus. Sie kommt als Personifizierung der Wildnis auf das Grundstück, auf dem die Natur gebändigt wirkt. Wir ahnen sofort, dass ihre von Chris beabsichtigte Zähmung zum Scheitern verurteilt ist. Und so wild die Frau auch ist, entwickelt sie sich phasenweise doch fast zur Sympathieträgerin, bis sie schließlich – aber ich will nicht spoilern.

Sie wird vom Schmutz befreit

Schauspielerisch hat all das hohe Qualität. Ich habe jedem Darsteller und jeder Darstellerin ihren Zustand und ihr Verhalten über die gesamte Strecke des Films abgenommen. Hier sind wir ganz dicht dran. Dazu trägt auch die weitgehend realitätsnahe Atmosphäre bei den Cleggs bei, die völlig ohne die artifizielle Distanz auskommt, die uns den Horror sonst auf Abstand hält. Der Indie-Soundtrack von Sean Spillane mit seinen erdigen Gitarrenklängen unterstreicht das noch, funktioniert viel besser, als es ein Synthie- oder Streicher-Score vermocht hätte. Von der wilden Frau fühlen wir uns abgestoßen und angezogen zugleich, leiden mit ihr mit, wie sie da urplötzlich aus ihrer wilden Freiheit herausgerissen und in einem düsteren Verlies angekettet wird.

Chris zeigt Interesse

Wenn die Szenerie am Ende auf blutigste Weise eskaliert und dabei noch eine finstere Überraschung ans Tageslicht kommt, ist der amerikanische Traum der „Family Values“ vollends zerschmettert. Oder auch nicht, wie man’s nimmt. Ein bitterböser Film, der einen so hilf- wie ratlos zurücklässt. Vergnüglich? Sicher nicht, dafür aber ein außergewöhnlicher, komplexer Horrortrip, der bei wiederholter Sichtung noch gewinnt.

Zwei verschiedene Trilogien

Es gilt, die literarische der filmischen Trilogie gegenüberzustellen, da sich beide voneinander unterscheiden: Jack Ketchums Romane „Off Season“ (1980), „Offspring“ (1991) und der vom mehrfachen Bram-Stoker-Award-Preisträger in Ko-Autorenschaft mit Lucky McKee geschriebene „The Woman“ (2011) erschienen in Deutschland unter den Titeln „Beutezeit“, „Beutegier“ und „Beuterausch“. Der erste Roman wurde bis heute nicht verfilmt, somit bildet der Film „Beutegier“ („Offspring“, 2009) den Auftakt der Film-Trilogie, gefolgt von „The Woman“ (2011). Roman und Drehbuch entstanden in diesem Fall eher parallel, sodass es etwas unpräzise wäre, „The Woman“ als Romanverfilmung zu bezeichnen. Den Abschluss stellt „Darlin’“ (2019) dar, der auf einem Originalskript von Pollyanna McIntosh beruht, das die Figurenkonstellation am Ende von „The Woman“ aufgreift. Die „The Woman“-Titeldarstellerin debütierte damit nicht nur als Drehbuchautorin, sondern auch auf dem Regiestuhl.

Entfesselt

Nach der Veröffentlichung als Einzelfilm im Jahr 2011 hat capelight pictures „The Woman“ neun Jahre später als Mediabook „The Woman Trilogy“ mit dem Vorgänger und dem Nachfolger aufgelegt. Da die FSK der ungeschnittenen Fassung von „Beutegier“ nach wie vor eine Altersfreigabe verweigerte, das Label aber (danke dafür!) auch keine geschnittene Version veröffentlichen wollte, beauftragte capelight ein neues SPIO-Gutachten, das dem Film das Siegel „keine schwere Jugendgefährdung“ zubilligte. Das Mediabook kommt wahlweise mit drei UHD Blu-rays oder herkömmlichen Blu-rays daher. Für alle drei Filme ist üppiges Bonusmaterial auf den Discs enthalten, Bild- und Tonqualität sind gewohnt über jeden Zweifel erhaben. Ein rundum gelungener Dreierpack.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Pollyanna McIntosh haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet.

Veröffentlichung: 25. September 2020 als 3-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (3 UHD Blu-rays bzw. 3 Blu-rays) „The Woman Trilogy“ (mit „Offspring“ & „Darlin’“), 23. Dezember 2011 als Blu-ray, 9. Dezember 2011 als Blu-ray im Steelbook und DVD

Länge: 103 Min. (Blu-ray), 99 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18 (Mediabook: JK/SPIO-Siegel „keine schwere Jugendgefährdung“)
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: The Woman
USA 2011
Regie: Lucky McKee
Drehbuch: Jack Ketchum, Lucky McKee, parallel zu ihrem gemeinsamen Roman
Besetzung: Pollyanna McIntosh, Brandon Gerald Fuller, Lauren Ashley Carter, Chris Krzykowski, Sean Bridgers, Angela Bettis, Marcia Bennett, Shyla Molhusen, Zach Rand, Gordon Vincent, Carlee Baker, Lauren Schroeder
Zusatzmaterial 2020: Audiokommentar von Regisseur/Produzent Andrew van den Houten, Audiokommentar von Autor Jack Ketchum, Andrew van den Houten und Kameramann/Produzent William M. Miller, Interview mit Pollyanna McIntosh und Andrew van den Houten, „Fly on the Wall“ (Hinter-den-Kulissen-Dokumentation), „Progeny: The Birth of Offspring“ (Making-of), „First Stolen’s Bailout“ (Featurette), erweitertes Interview mit Autor Jack Ketchum, Restaurations-Bildvergleich, 8 Webisode-Featurettes, Audiokommentar von Regisseur Lucky McKee, Editor Zach Passero, Sounddesigner Andrew Smetek und Komponist Sean Spillane, Audiokommentar von Hauptdarstellerin Pollyanna McIntosh, Audiokommentar von Filmkritiker Scott Weinberg, Audiokommentar von Lucky McKee, „Dad on the Wall“ (75-minütige Hinter-den-Kulissen-Dokumentation von Mike McKee), „Malam Domesticam“ (Making-of), „Meet the Maker“ (Featurette), entfallene Szenen, Kurzfilm „Mi Burro“ von Zach Passero (produziert von Lucky McKee – entfallene Traumsequenz „Darlin’s Dream“), 24-seitiges Booklet
Zusatzmaterial 2011: Making-of, Hinter den Kulissen, entfallene Szenen, Kurzfilm „Burro Boy“ von Zach Passero (produziert von Lucky McKee – entfallene Traumsequenz „Darlin’s Dream“), Trailershow, Wendecover
Label: capelight pictures
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshots: © capelight pictures

 

Schlagwörter: , , , , , , ,

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..