Der siebente Kontinent
Drama // Familie Schober verlässt ihr Haus im österreichischen Linz. An der Volks- und Hauptschule wird die kleine Eva (Leni Tanzer) aus dem Auto gelassen, kurz darauf steigt ihre Mutter Anna (Birgit Doll) aus, um ihren Job in einem Optiker-Fachgeschäft anzutreten – später erfahren wir, dass sie es gemeinsam mit ihrem Bruder Alexander (Udo Samel) führt. Vater Georg (Dieter Berner) fährt mit dem Auto weiter zu seiner Arbeitsstätte, einem großen Industriebetrieb. Eine ganz normale Arbeitnehmerfamilie also.
Wir erleben ihren Alltag, der sich – genau – alltäglich gestaltet. Einkaufen, duschen, die Fische füttern, zu Abend essen. Annas Bruder Alexander ist zu Gast, der offenbar den Tod der Mutter noch nicht verkraftet hat. Immerhin tröstet seine Schwester ihn. Abends läuft der Fernseher. Anna schreibt regelmäßig Briefe an ihre Schwiegereltern (fürs Filmpublikum von einer monotonen Stimme aus dem Off vorgelesen), in denen sie von der Karriere ihres Mannes berichtet.
Eine Ohrfeige
Früh bekommt die scheinbar heile Welt einen Riss: Als Anna erfährt, Eva habe an der Schule vor einer Lehrerin behauptet, blind zu sein, stellt sie ihre Tochter zur Rede. Eva bestreitet das, doch ihre Mutter presst die Wahrheit aus ihr heraus, indem sie beteuert, sie werde ihr schon nichts tun. Als das Mädchen es daraufhin zugibt, folgt sogleich eine Ohrfeige. Schlimm genug, sein Kind zu schlagen, aber es zu tun, unmittelbar nachdem man beteuert hat, es nicht zu tun, steigert den erzieherischen Offenbarungseid noch. Um eine Zurschaustellung pädagogisch unfähiger Eltern geht es allerdings keineswegs, so viel sei verraten. Vielleicht soll die Szene eher darauf deuten, dass Anna merkt, was das bürgerliche Dasein in der Wohlstandsgesellschaft mit ihr macht – es lässt sie zu einer ihr Kind züchtigenden Mutter mutieren. Das bleibt allerdings spekulativ, weil die Szene nicht mehr aufgegriffen wird. Nach einer knappen Stunde folgt der erste Hinweis, dass die Schobers eine große Veränderung planen: Die Zeitung müssen wir auch noch abbestellen. Im Anschluss schreibt Georg erstmals selbst einen Brief an seine Eltern.

Die richtigen Fragen statt die vereinfachenden Antworten zu liefern – und das Fragment dem scheinbaren Ganzen vorzuziehen … Ich war ganz erleichtert, diesen Einstieg des Essays „Die Wunden der Gesellschaft – Überlegungen zur Trilogie der emotionalen Vergletscherung von Michael Haneke“ von Prof. Dr. Marcus Stiglegger zu lesen. Das Label Camera Obscura hat den Text im Booklet des Mediabooks „Michael Haneke – Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ veröffentlicht (er sollte aufgrund von Spoilern erst nach Sichtung der drei Filme gelesen werden). Denn in der Tat hat „Der siebente Kontinent“ mir keine Antworten geliefert, sondern Fragen aufgeworfen. Fragen nach dem Zustand unserer bürgerlichen westlichen Gesellschaft, dem Befinden dessen, was wir Mittelstand nennen. Auch Stigleggers Erwähnung von „Fragment“ charakterisiert den Film gut. Die Alltagserlebnisse sind scheinbar willkürlich aneinandergereiht, lassen oftmals keinen unmittelbar bedeutsamen Zusammenhang erkennen. Kapitel eins spielt an einem Tag im Jahre 1987, Kapitel zwei zeigt einen Tag 1988. Erst im dritten und letzten Kapitel, angesiedelt 1989, folgt die Aneinanderreihung der Szenen der inneren Logik der Handlung, auch wenn es fragmentarisch bleibt.
Von Austria nach Australien
Ein Sehnsuchtsort scheint Australien zu sein, symbolisiert durch ein wiederholt eingeblendetes Motiv eines Sandstrandes, dem gegenüber sich ein Felsmassiv befindet (was den kräftigen Wellengang dazwischen unwahrscheinlich macht, ein seltsames Detail). Sehnen sich die Schobers von Österreich dorthin, auf den siebenten Kontinent? Jedenfalls haben sie genug von ihrem bürgerlichen Leben, und lange Zeit lässt uns Michael Haneke darüber im Unklaren, wohin die Reise geht. Gemein von ihm.

Besonders schwierig gestaltet sich die Interpretation des Lebens der Schobers deshalb, weil die Familie zwar einerseits fast leblos und emotionslos agiert und wirkt, in der Routine geradezu erstarrt, dies andererseits aber ab und zu durchbrochen wird. Sei es durch einen frühmorgendlichen Quickie der Eheleute, der für beide durchaus befriedigend ausfällt, sei es durch einen Gefühlsausbruch in der Autowaschanlage oder die dann doch zu beobachtende Hinwendung der Mutter zu ihrer Tochter. Die kleine Eva spricht wiederholt ihr Nachtgebet Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Fast schon zynisch …
Die Psyche der Familie wird uns verweigert
Die filmischen Mittel setzt Haneke bewusst ein. Die Tonspur bleibt nahezu frei von musikalischer Begleitung, geschnitten wird fast schon unsauber, die Szenen werden fast schon rüde abgebrochen, was das Fragmentarische betont. Wenn man sich als Filmgucker am Ende fragt, welche Beweggründe die Schobers für ihr Tun hatten – in der Gesamtheit und als Individuen –, stellt man fest, dass uns der Regisseur die Antwort darauf verweigert hat. Er hat uns diese Familie zwar nahegebracht, uns aber Einblicke in die Tiefe ihrer Psyche vorenthalten. Haneke hat auch offen zugegeben, dass er sich nicht erklären wollte. Das wird nicht jedem gefallen, aber es lässt das Drama in uns nachwirken und regt zum Nachdenken an. Zum Nachdenken über die Familie, aber auch über das eigene Dasein in der Gesellschaft, die Haneke mit den Schobers skizziert.
Die Trilogie der emotionalen Vergletscherung
„Der siebente Kontinent“ (1989) markiert nicht nur den ersten Kinofilm von Michael Haneke („Funny Games“, „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“), sondern auch den Auftakt der erwähnten Trilogie der emotionalen Vergletscherung, deren zweiten und dritten Teil Hanekes folgende Kinofilme „Benny’s Video“ (1992) und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ (1994, Alternativtitel: „Amok“) bilden. Hierzulande 2007 als 3-DVD-Edition erschienen, hat Camera Obscura die Trilogie nun auf drei Blu-rays gepresst und im Mediabook-Format veröffentlicht. Derart verstörende Werke bedürfen analytischer Begleitung, und dem Erfordernis kommt das Label in vorbildlicher Weise nach, beginnend mit dem erwähnten Booklet-Essay Stigleggers. Der Film- und Kulturwissenschaftler ist obendrein gemeinsam mit dem Film-Psychoanalytiker Prof. Dr. Andreas Hamburger in einem eigens für die Veröffentlichung produzierten zweiteiligen Filmgespräch „Die Abgründe der Gesellschaft“ zu sehen. In Teil eins mit einer Länge von knapp 20 Minuten widmen sich die beiden dem Film „Der siebente Kontinent“, daher ist er auch auf der Blu-ray dieses Films zu finden. In Teil 2 diskutieren Stiglegger und Hamburger in 27 Minuten „Benny’s Video“. Sehr aufschlussreich und unbedingt sehenswert, um die Filme tiefer zu verstehen.
Als sei das nicht genug, findet sich auf allen drei Blu-rays je ein Interview mit Michael Haneke zum jeweiligen Film. Zu „Benny’s Video“ gibt es ein paar nicht verwendete Szenen, und zu guter Letzt ist auf der Blu-ray von „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ die knapp anderthalbstündige Doku „Michael Haneke – Liebe zum Kino“ („Michael H. – Profession: Director“, 2013) von Yves Montmayeur enthalten. Hier erfährt man somit viel über diesen vielfach prämierten Drehbuchautor und Regisseur, einen echten Auteur. Da es auch über die Bild- und Tonqualität der drei Filme nichts zu meckern gibt, bleibt über das Mediabook festzuhalten: eine vorbildliche Edition mit drei Frühwerken dieses schwer zu deutenden Filmemachers. Pflichtprogramm für jeden Filmfreund, der jenseits des Mainstream-Kinos nach gesellschaftsrelevanten Stoffen sucht. Mit „Der siebente Kontinent“ gelang Michael Haneke ein schmerzhafter, spröder Kino-Karrierestart.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Michael Haneke haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 26. März 2021 als 3-Disc Edition Mediabook „Michael Haneke – Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ (3 Blu-rays), 2. März 2007 als 3-Disc Edition Digipack „Michael Haneke Trilogie“ (3 DVDs, jeweils mit den Filmen „Benny’s Video“ und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“)
Länge: 108 Min. (Blu-ray), 107 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel (nur Mediabook): Deutsch
Originaltitel: Der siebente Kontinent
A 1989
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke, Johanna Teicht
Besetzung: Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Silvia Fenz, Robert Dietl, Elisabeth Rath, Georges Kern, Georg Friedrich
Zusatzmaterial Mediabook: Bonusfilm „Michael H. – Profession: Director“ (88 Min.), 3 Interviews mit Michael Haneke, Analysen von Prof. Dr. Andreas Hamburger und Prof. Dr. Marcus Stiglegger, nicht verwendete Szenen von „Benny’s Video“, Booklet mit einem Essay von Marcus Stiglegger
Zusatzmaterial DVD-Edition: Interview mit Michael Haneke (17 Min., Französisch mit optionalen deutschen Untertiteln)
Label Mediabook: Camera Obscura Filmdistribution
Label Digipack: Alamode Film
Vertrieb: Al!ve AG
Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshot Mediabook: © 2021 Camera Obscura Filmdistribution,
Packshot Digipack: © 2007 Alamode Film