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Archiv für den Monat März 2021

Der siebente Kontinent – Michael Hanekes Kinostart

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Der siebente Kontinent

Von Volker Schönenberger

Drama // Familie Schober verlässt ihr Haus im österreichischen Linz. An der Volks- und Hauptschule wird die kleine Eva (Leni Tanzer) aus dem Auto gelassen, kurz darauf steigt ihre Mutter Anna (Birgit Doll) aus, um ihren Job in einem Optiker-Fachgeschäft anzutreten – später erfahren wir, dass sie es gemeinsam mit ihrem Bruder Alexander (Udo Samel) führt. Vater Georg (Dieter Berner) fährt mit dem Auto weiter zu seiner Arbeitsstätte, einem großen Industriebetrieb. Eine ganz normale Arbeitnehmerfamilie also.

Wir erleben ihren Alltag, der sich – genau – alltäglich gestaltet. Einkaufen, duschen, die Fische füttern, zu Abend essen. Annas Bruder Alexander ist zu Gast, der offenbar den Tod der Mutter noch nicht verkraftet hat. Immerhin tröstet seine Schwester ihn. Abends läuft der Fernseher. Anna schreibt regelmäßig Briefe an ihre Schwiegereltern (fürs Filmpublikum von einer monotonen Stimme aus dem Off vorgelesen), in denen sie von der Karriere ihres Mannes berichtet.

Eine Ohrfeige

Früh bekommt die scheinbar heile Welt einen Riss: Als Anna erfährt, Eva habe an der Schule vor einer Lehrerin behauptet, blind zu sein, stellt sie ihre Tochter zur Rede. Eva bestreitet das, doch ihre Mutter presst die Wahrheit aus ihr heraus, indem sie beteuert, sie werde ihr schon nichts tun. Als das Mädchen es daraufhin zugibt, folgt sogleich eine Ohrfeige. Schlimm genug, sein Kind zu schlagen, aber es zu tun, unmittelbar nachdem man beteuert hat, es nicht zu tun, steigert den erzieherischen Offenbarungseid noch. Um eine Zurschaustellung pädagogisch unfähiger Eltern geht es allerdings keineswegs, so viel sei verraten. Vielleicht soll die Szene eher darauf deuten, dass Anna merkt, was das bürgerliche Dasein in der Wohlstandsgesellschaft mit ihr macht – es lässt sie zu einer ihr Kind züchtigenden Mutter mutieren. Das bleibt allerdings spekulativ, weil die Szene nicht mehr aufgegriffen wird. Nach einer knappen Stunde folgt der erste Hinweis, dass die Schobers eine große Veränderung planen: Die Zeitung müssen wir auch noch abbestellen. Im Anschluss schreibt Georg erstmals selbst einen Brief an seine Eltern.

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Abendmahl mit Annas Bruder

Die richtigen Fragen statt die vereinfachenden Antworten zu liefern – und das Fragment dem scheinbaren Ganzen vorzuziehen … Ich war ganz erleichtert, diesen Einstieg des Essays „Die Wunden der Gesellschaft – Überlegungen zur Trilogie der emotionalen Vergletscherung von Michael Haneke“ von Prof. Dr. Marcus Stiglegger zu lesen. Das Label Camera Obscura hat den Text im Booklet des Mediabooks „Michael Haneke – Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ veröffentlicht (er sollte aufgrund von Spoilern erst nach Sichtung der drei Filme gelesen werden). Denn in der Tat hat „Der siebente Kontinent“ mir keine Antworten geliefert, sondern Fragen aufgeworfen. Fragen nach dem Zustand unserer bürgerlichen westlichen Gesellschaft, dem Befinden dessen, was wir Mittelstand nennen. Auch Stigleggers Erwähnung von „Fragment“ charakterisiert den Film gut. Die Alltagserlebnisse sind scheinbar willkürlich aneinandergereiht, lassen oftmals keinen unmittelbar bedeutsamen Zusammenhang erkennen. Kapitel eins spielt an einem Tag im Jahre 1987, Kapitel zwei zeigt einen Tag 1988. Erst im dritten und letzten Kapitel, angesiedelt 1989, folgt die Aneinanderreihung der Szenen der inneren Logik der Handlung, auch wenn es fragmentarisch bleibt.

Von Austria nach Australien

Ein Sehnsuchtsort scheint Australien zu sein, symbolisiert durch ein wiederholt eingeblendetes Motiv eines Sandstrandes, dem gegenüber sich ein Felsmassiv befindet (was den kräftigen Wellengang dazwischen unwahrscheinlich macht, ein seltsames Detail). Sehnen sich die Schobers von Österreich dorthin, auf den siebenten Kontinent? Jedenfalls haben sie genug von ihrem bürgerlichen Leben, und lange Zeit lässt uns Michael Haneke darüber im Unklaren, wohin die Reise geht. Gemein von ihm.

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Was geschieht hier?

Besonders schwierig gestaltet sich die Interpretation des Lebens der Schobers deshalb, weil die Familie zwar einerseits fast leblos und emotionslos agiert und wirkt, in der Routine geradezu erstarrt, dies andererseits aber ab und zu durchbrochen wird. Sei es durch einen frühmorgendlichen Quickie der Eheleute, der für beide durchaus befriedigend ausfällt, sei es durch einen Gefühlsausbruch in der Autowaschanlage oder die dann doch zu beobachtende Hinwendung der Mutter zu ihrer Tochter. Die kleine Eva spricht wiederholt ihr Nachtgebet Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Fast schon zynisch …

Die Psyche der Familie wird uns verweigert

Die filmischen Mittel setzt Haneke bewusst ein. Die Tonspur bleibt nahezu frei von musikalischer Begleitung, geschnitten wird fast schon unsauber, die Szenen werden fast schon rüde abgebrochen, was das Fragmentarische betont. Wenn man sich als Filmgucker am Ende fragt, welche Beweggründe die Schobers für ihr Tun hatten – in der Gesamtheit und als Individuen –, stellt man fest, dass uns der Regisseur die Antwort darauf verweigert hat. Er hat uns diese Familie zwar nahegebracht, uns aber Einblicke in die Tiefe ihrer Psyche vorenthalten. Haneke hat auch offen zugegeben, dass er sich nicht erklären wollte. Das wird nicht jedem gefallen, aber es lässt das Drama in uns nachwirken und regt zum Nachdenken an. Zum Nachdenken über die Familie, aber auch über das eigene Dasein in der Gesellschaft, die Haneke mit den Schobers skizziert.

Die Trilogie der emotionalen Vergletscherung

„Der siebente Kontinent“ (1989) markiert nicht nur den ersten Kinofilm von Michael Haneke („Funny Games“, „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“), sondern auch den Auftakt der erwähnten Trilogie der emotionalen Vergletscherung, deren zweiten und dritten Teil Hanekes folgende Kinofilme „Benny’s Video“ (1992) und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ (1994, Alternativtitel: „Amok“) bilden. Hierzulande 2007 als 3-DVD-Edition erschienen, hat Camera Obscura die Trilogie nun auf drei Blu-rays gepresst und im Mediabook-Format veröffentlicht. Derart verstörende Werke bedürfen analytischer Begleitung, und dem Erfordernis kommt das Label in vorbildlicher Weise nach, beginnend mit dem erwähnten Booklet-Essay Stigleggers. Der Film- und Kulturwissenschaftler ist obendrein gemeinsam mit dem Film-Psychoanalytiker Prof. Dr. Andreas Hamburger in einem eigens für die Veröffentlichung produzierten zweiteiligen Filmgespräch „Die Abgründe der Gesellschaft“ zu sehen. In Teil eins mit einer Länge von knapp 20 Minuten widmen sich die beiden dem Film „Der siebente Kontinent“, daher ist er auch auf der Blu-ray dieses Films zu finden. In Teil 2 diskutieren Stiglegger und Hamburger in 27 Minuten „Benny’s Video“. Sehr aufschlussreich und unbedingt sehenswert, um die Filme tiefer zu verstehen.

Als sei das nicht genug, findet sich auf allen drei Blu-rays je ein Interview mit Michael Haneke zum jeweiligen Film. Zu „Benny’s Video“ gibt es ein paar nicht verwendete Szenen, und zu guter Letzt ist auf der Blu-ray von „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ die knapp anderthalbstündige Doku „Michael Haneke – Liebe zum Kino“ („Michael H. – Profession: Director“, 2013) von Yves Montmayeur enthalten. Hier erfährt man somit viel über diesen vielfach prämierten Drehbuchautor und Regisseur, einen echten Auteur. Da es auch über die Bild- und Tonqualität der drei Filme nichts zu meckern gibt, bleibt über das Mediabook festzuhalten: eine vorbildliche Edition mit drei Frühwerken dieses schwer zu deutenden Filmemachers. Pflichtprogramm für jeden Filmfreund, der jenseits des Mainstream-Kinos nach gesellschaftsrelevanten Stoffen sucht. Mit „Der siebente Kontinent“ gelang Michael Haneke ein schmerzhafter, spröder Kino-Karrierestart.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Michael Haneke haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

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Veröffentlichung: 26. März 2021 als 3-Disc Edition Mediabook „Michael Haneke – Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ (3 Blu-rays), 2. März 2007 als 3-Disc Edition Digipack „Michael Haneke Trilogie“ (3 DVDs, jeweils mit den Filmen „Benny’s Video“ und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“)

Länge: 108 Min. (Blu-ray), 107 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel (nur Mediabook): Deutsch
Originaltitel: Der siebente Kontinent
A 1989
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke, Johanna Teicht
Besetzung: Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Silvia Fenz, Robert Dietl, Elisabeth Rath, Georges Kern, Georg Friedrich
Zusatzmaterial Mediabook: Bonusfilm „Michael H. – Profession: Director“ (88 Min.), 3 Interviews mit Michael Haneke, Analysen von Prof. Dr. Andreas Hamburger und Prof. Dr. Marcus Stiglegger, nicht verwendete Szenen von „Benny’s Video“, Booklet mit einem Essay von Marcus Stiglegger
Zusatzmaterial DVD-Edition: Interview mit Michael Haneke (17 Min., Französisch mit optionalen deutschen Untertiteln)
Label Mediabook: Camera Obscura Filmdistribution
Label Digipack: Alamode Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

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Szenenfotos & Packshot Mediabook: © 2021 Camera Obscura Filmdistribution,
Packshot Digipack: © 2007 Alamode Film

 

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Synchronic – Die Designerdroge und die Zeit

Synchronic

Von Volker Schönenberger

Science-Fiction // „Synchronic“ lautet der Name einer neuartigen Designerdroge, die in New Orleans die Runde macht. Sie wirkt anscheinend enorm halluzinogen (wie der Auftakt des Films sogleich verdeutlicht) und ist nicht mal illegal. Die Rettungssanitäter Steve Denube (Anthony Mackie) und Dennis Dannelly (Jamie Dornan) werden immer öfter mit den bizarren und bisweilen tödlichen Folgen bei ihrer Arbeit konfrontiert. Die beiden sind gut befreundet, könnten aber unterschiedlicher kaum sein. Während Dennis mit seiner Ehefrau Tara (Katie Aselton), der Teenagertochter Brianna (Ally Ioannides) und einer Neugeborenen ein vermeintlich glückliches Familienleben führt, ist Steve eher für One Night Stands zu haben. Sein Hund Hawking scheint ihm als dauerhafter Partner zu genügen.

Bei Steve wird ein großer Hirntumor diagnostiziert, dem Sanitäter wird sein baldiger Tod prognostiziert, was er seinem Partner verschweigt. Als die beiden erneut auf Konsumenten der Droge treffen, stellt sich heraus, dass auch Dennis’ Tochter Brianna dort war – doch nun ist sie verschwunden. Bald darauf begegnet Steve Dr. Kermani (Ramiz Monsef), der sich ihm als der Schöpfer von Synchronic offenbart und von den außergewöhnlichen Folgen des Konsums der Designerdroge berichtet. Zeit spielt dabei eine kaum zu glaubende Rolle. Steve wagt den Selbstversuch.

Von den Regisseuren von „The Endless“

So oft geschieht es nicht, dass man neue Regisseure entdeckt, die sich als außergewöhnliche Visionäre entpuppen. Und zugegeben: Bei „Resolution – Cabin of Death“ (2012) hatte ich die Klasse des Regisseursduos Justin Benson und Aaron Moorhead noch nicht vollends erkannt, auch wenn mir der mit Kleinstbudget gedrehte Indie-Horrorthriller schon 2014 ausgesprochen gut gefiel. Richtig rund wurde der Film für mich erst mit seiner famosen Quasi-Fortsetzung „The Endless“ (2017). Dazwischen erschufen die beiden mit „Spring – Love Is a Monster“ (2014) einen stimmungsvollen Hybriden aus Horrorfilm und Romanze.

Science-Fiction bekommt noch mehr Raum

Der Science-Fiction-Einschlag war bei den genannten Arbeiten von Benson und Moorhead schon hoch, in „Synchronic“ verdrängt er den Horror nun vollends. Mit „Fifty Shades of Grey“-Star Jamie Dornan und dem als Falcon im Marvel Cinematic Universe bekannten Anthony Mackie hatten die Regisseure dabei erstmals namhafte Darsteller an Bord. Dabei nimmt Letztgenannter im Verlauf der Handlung zusehends das Zepter der Hauptfigur in die Hand.

Was ist Zeit?

Auf den Faktor Zeit muss man sich einlassen, ebenso darauf, dass er Fragen offen lässt und sogar das eine oder andere Logikloch mit sich bringt. Das lässt sich bei dem Thema einfach nicht vermeiden, aber ich will nicht spoilern und unterlasse an dieser Stelle Erläuterungen dazu. Dem Unterhaltungswert von „Synchronic“ tut das keinen Abbruch, wer sich für derlei Fragen interessiert, den erwartet ein Hochgenuss. Der Film vermengt einige Themen wie Freundschaft, Krankheit, Tod mit Science-Fiction- und Thriller-Elementen zu einem fantasievollen Ganzen. Justin Benson und Aaron Moorhead widerstanden dabei der Versuchung, allzu viel New-Orleans- und „Mardi Gras“-Atmosphäre einzubauen, was womöglich den Plot überdeckt hätte. Von Voodoo spüren wir nur einen Hauch, und die beiden Sanitäter müssen einmal einen Patienten verarzten, der mit schwarzem Zylinder und weißer Gesichtsschminke auffällig kostümiert ist und sich grimassierend auf einem Drogentrip befindet. New Orleans ist als Handlungsort aufgrund seiner Geschichtsträchtigkeit dennoch eine gute Wahl, denn die Historie wird eine Rolle spielen.

Drehbuch von dem einen, Kamera von dem anderen Regisseur

Die zwei Regisseure folgen konsequent einem „Do It Yourself“-Ansatz: Von Benson stammt das Drehbuch, beide betätigten sich im Verbund mit einem Kollegen als Cutter, und Moorhead agierte als Kameramann. Gerade beim Thema Zeit gelingen ihm schöne und abwechslungsreiche Bilder, wobei der Computer tatkräftige Hilfe leistete, speziell in ein paar surreal entrückten Motiven wie etwa gleich zum Auftakt. Bei diesem Gesamtkunstwerk verzeiht man auch gern einen etwas rührseligen Moment im Finale. Am Ende sind die Fäden zusammengeführt und die Rätsel entwirrt.

Im deutschen Kino nur auf den Fantasy Filmfest White Nights

„Synchronic“ feierte seine Weltpremiere im September 2019 beim Toronto International Film Festival und war in der Folge bei einigen Festivals im Programm, darunter dem Sitges in Katalonien. Hierzulande lief das Werk im Januar 2020 bei den Fantasy Filmfest White Nights, eine flächendeckende Kinoauswertung war ihm nicht vergönnt, sie wäre verdient gewesen. Höchste Zeit für die Blu-ray und DVD – und für weitere Arbeiten von Justin Benson und Aaron Moorhead. Disney hat die beiden als Regisseure einiger Episoden der Marvel-Superheldenserie „Moon Knight“ gebucht, aber wann der konzerneigene Streamingkanal Disney+ sie ausstrahlt, ist noch offen. Ich bin versucht zu schreiben, Benson und Moorhead seien bereit für größere Aufgaben. Das sind sie zweifellos, aber vielleicht sind sie im Independentfilm besser aufgehoben. Hoffen wir so oder so auf mehr. Es lohnt sich, das Duo im Auge zu behalten.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Justin Benson und Aaron Moorhead haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Jamie Dornan und Anthony Mackie unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 8. April 2021 als Blu-ray und DVD

Länge: 102 Min. (Blu-ray), 98 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: Synchronic
USA 2019
Regie: Justin Benson, Aaron Moorhead
Drehbuch: Justin Benson
Besetzung: Anthony Mackie, Jamie Dornan, Katie Aselton, Ally Ioannides, Ramiz Monsef, Bill Oberst Jr., Betsy Holt, Shane Brady, Kate Adair, Carl Palmer, Matthew Underwood, Martin Bats Bradford, Sam Malone, Rhonda Johnson Dents
Zusatzmaterial: Filmvorschau mit den Regisseuren Aaron Moorhead und Justin Benson, Die Entwicklung der Zeitreisesequenz, Wer ritzte „Allways“ in den Stein?
Label/Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Packshot: © 2021 Universal Pictures Germany GmbH

 

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Zum 100. Geburtstag von Dirk Bogarde: Die Brücke von Arnheim – Alliiertes Fiasko in den Niederlanden

A Bridge Too Far

Von Volker Schönenberger

Kriegsdrama // Mitte September 1944 starteten die Westalliierten die Operation Market Garden. Innerhalb weniger Tage wurden fast 40.000 Fallschirmjäger aus britischen und US-amerikanischen Luftlandedivisionen in zwei niederländischen Provinzen hinter den feindlichen Linien abgesetzt. Dahinter steckte die Absicht, in den Niederlanden Rheinübergänge zu erobern, um den Westwall zu umgehen. Gemäß Plan „Market“ sollten die Luftlandetruppen Brücken über den nördlichen Rheinarm Nederrijn besetzen, dazu auch Überführungen ein paar anderer Flüsse und Kanäle. Alliierte Landstreitkräfte sollten diese dann laut Plan „Garden“ zügig überschreiten, um das Gebiet zu halten und den Weg ins deutsche Kernland zu öffnen.

Der irischstämmige US-Journalist und Schriftsteller Cornelius Ryan (1920–1974) verarbeitete die Ereignisse der Operation Market Garden zu seinem 1974 veröffentlichten militärhistorischen Buch „A Bridge Too Far“, in Deutschland unter dem Titel „Die Brücke von Arnheim“ erschienen. Sein 1959er-Werk „The Longest Day“ („Der längste Tag“) über die Landung der Westalliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 hatte bereits die Vorlage zu dem gleichnamigen Film von 1962 gebildet. Der fuhr satte fünf Regisseure und eine große Schar von Top-Stars im Cast auf. „Die Brücke von Arnheim“ hatte 1977 mit Richard Attenborough („Gandhi“) nur einen Regisseur zu bieten, steht gegenüber „Der längste Tag“ an Starpower aber kaum zurück.

Der Plan von Feldmarschall Montgomery

„Die Brücke von Arnheim“ beginnt anhand von Archivaufnahmen mit einem kurzen historischen Abriss der Kriegsereignisse in Westeuropa kurz vor Beginn des Geschehens. Nach der Invasion in der Normandie befreiten die Alliierten im August Paris, die deutsche Wehrmacht wurde allerorten zum Rückzug gezwungen. Mit dem Vorrücken der alliierten Streitkräfte verlängerten sich aber auch die Versorgungswege, weshalb die Operation Market Garden gestartet wurde, die der britische Feldmarschall Bernard Montgomery, Oberkommandierender der britisch-kanadischen 21st Army Group, ausgearbeitet hatte (im Film sind Montgomery und weitere historische Persönlichkeiten in Archivaufnahmen zu sehen).

Hart umkämpft: die Brücke von Arnheim

Auf Seiten der Wehrmacht ist Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt (Wolfgang Preiss) gerade erneut zum Oberbefehlshaber der deutschen Weststreitkräfte ernannt worden. Er sieht sich mit gewaltigen Problemen konfrontiert, da seine Armeen aus dem letzten Loch pfeifen. In England hat Lieutenant General Frederick Browning (Dirk Bogarde) in seinem Hauptquartier die Offiziere Major General Robert Urquhart (Sean Connery), Major General Maxwell Taylor (Paul Maxwell), Brigadier General James Gavin (Ryan O’Neal) und Major General Stanisław Sosabowski (Gene Hackman) versammelt. Er teilt ihnen ihre Einsatzgebiete in der Operation Market Garden zu. Die Aufgabe, die fürs Gelingen der Operation bedeutsamste Brücke von Arnheim zu erobern und zwei Tage lang zu halten, kommt dabei Urquhart zu, der dafür immerhin die Unterstützung von Sosabowski und dessen Luftlandebrigade der polnischen Streitkräfte im Westen erhält. Dennoch beschleicht einige der Soldaten das Gefühl, zu einem Himmelfahrtskommando aufzubrechen. Speziell Sosabowski äußert gegenüber Browning Bedenken. Dieser beschwichtigt ihn mit der Aussage, die Deutschen hätten dort lediglich zweitklassige Streitkräfte stehen. Browning erfährt zwar von seinem Adjutanten Major Fuller (Frank Grimes), dass die Deutschen wider Erwarten Panzer in der Gegend platziert haben, tut diese Information aber ab. Eine der gewaltigsten Luftlandeoperationen in der Geschichte des Krieges nimmt ihren Lauf – sie wird im Fiasko enden. Die Brücke von Arnheim erweist sich als eine Brücke zu weit (Originaltitel des Films: „A Bridge Too Far“), womit gemeint ist, dass es Scheitern verurteilt war Major General Urquhart mit Nachschub und Unterstützung zu versorgen, sodass er die Brücke hätte halten können.

Topstars hüben wie drüben

Michael Caine, Edward Fox, Elliott Gould, Anthony Hopkins, Robert Redford, Denholm Elliott – weitere namhafte Darsteller, die alliierte Offiziere verkörpern. Als Staff Sergeant Eddie Dohun ist James Caan in einem recht eigenständigen Nebenstrang zu sehen, der nicht immer glaubwürdig wirkt, dem Vernehmen nach aber belegt ist. Auf Seite der Deutschen schlüpften unter anderem Hans von Borsody, Hardy Krüger und Maximilian Schell in die Uniformen der Wehrmacht und der Waffen-SS. Als niederländische Zivilpersonen sind Laurence Olivier und Liv Ullmann zu sehen. Aus Authentizitätsgründen sprachen die Darsteller in ihren Rollen die korrekten Sprachen ihrer Figuren, also Englisch, Deutsch und Niederländisch.

Himmelfahrtskommando: Major Cook überquert mit seinen Männern einen Fluss

Acht Oscar-Preisträger plus fünf -Nominierte sind schon eine Hausnummer. Diese Ansammlung von Starpower führt dazu, dass dem einzelnen Darsteller wenig Raum bleibt, seiner Figur Profil zu verleihen. Das gelingt am ehesten noch einigen zu Beginn, etwa bei der erwähnten Zusammenkunft der höchsten Offiziere der Operation bei Lieutenant General Browning. Die Nonchalance, mit der sich Browning über Bedenken hinwegsetzt, gehört zu den nicht allzu vielen schauspielerisch bemerkenswerten Momenten. Allerdings löste die Porträtierung des zum Zeitpunkt der Entstehung des Films bereits verstorbenen Lieutenant Generals eine große Kontroverse aus. Darsteller Dirk Bogarde, der Browning aufgrund seines Kriegsdienstes als Mitglied des Stabs von Feldmarschall Montgomery persönlich gekannt hatte, war das dem Vernehmen nach auch sehr unangenehm.

Dirk Bogarde

Der in London geborene Bogarde wäre am 28. März 2021 100 Jahre alt geworden. Zu seinen prägendsten Kriegserlebnissen als Nachrichtendienst-Offizier der britischen Streitkräfte gehörte im April 1945 das Betreten des Konzentrationslagers Bergen-Belsen wenige Tage nach dessen Befreiung. Ausführliche Erinnerungen daran gab er 1986 in einem TV-Interview preis, in welchem er auch bekundete: Nach dem Krieg wusste ich, dass nichts jemals so schlimm werden konnte. (…) Nichts würde mich mehr in Furcht versetzen können, kein Mensch würde mich mehr in Furcht versetzen können, auch kein Regisseur. Nichts konnte so schlimm sein wie der Krieg oder das, was ich im Krieg gesehen habe. Trotz einer aus seinen Kriegserfahrungen resultierenden Abneigung gegen die Deutschen spielte er 1974 in der italienischen Produktion „Der Nachtportier“ sogar einen ehemaligen SS-Offizier und KZ-Wächter. Bogarde starb am 8. Mai 1999 im Alter von 78 Jahren in seiner Heimatstadt. Er hatte stets seine Hauptrolle in Luchino Viscontis Thomas-Mann-Verfilmung „Tod in Venedig“ (1971) als Karrierehöhepunkt bezeichnet. „Die Nacht der lebenden Texte“-Autor Tonio Klein hat sich in seiner Rezension des Thrillerdramas „Teufelskreis“ (1961) etwas ausgiebiger mit ihm befasst. Auch auf einer Bogarde gewidmeten Webseite findet sich viel Wissenswertes über den Schauspieler.

Gedreht auf der Wilhelminabrücke

Sein für die 1970er-Jahre stattliches Budget von 22 Millionen US-Dollar spielte „Die Brücke von Arnheim“ eher in Westeuropa wieder ein als in Nordamerika, wobei die Kosten für die Produzenten durch den Verkauf von Verleihrechten bereits vor dem Kinostart mehr als ausgeglichen waren. Gedreht wurde hauptsächlich in den Niederlanden. Da die Umgebung der heutigen John-Frost-Brücke in Arnheim, Hauptstadt der Provinz Gelderland, in den 1970er-Jahren modern bebaut war, eignete sie sich nicht als Drehort. Für sie hielt die Wilhelminabrücke in Deventer in der Provinz Overijssel her, die die IJssel überspannt, den nördlichsten Mündungsarm des Rheins.

Der Kampf tobt auch in der Luft

Mit Filmen wie „Die Brücke von Arnheim“ lässt Hollywood die Muskeln spielen. Als Leistungsschau mit viel Kriegsgerät vermag das Kriegsdrama zu beeindrucken. Vom Absprung der Fallschirmjäger über einige Panzer- und Artilleriegefechte bis hin zu Straßenkämpfen wartet die Produktion mit etlichen Bestandteilen martialischer Kriegs-Action auf, die Fans solcher Filme gefallen dürften. Natürlich stürzen sich Kriegs- und Militärexperten gern auf diese Werke, um Ungereimtheiten und Fehler zu entdecken, was oft und auch in diesem Fall gelingt. Da das Gros des Kinopublikums aber nicht über derlei Fachwissen verfügt, mögen das lässliche Mankos sein. Einige Teilnehmer der Operation Market Garden standen dem Regisseur während der Dreharbeiten als militärische Berater zur Verfügung.

Das Leid der Zivilpersonen

Immerhin gelingt es Regisseur Richard Attenborough, kleine Szenen einzubauen, die etwas von der Tragik des Krieges vermitteln, etwa wenn der von Robert Redford verkörperte Major Julian Cook den Maas-Waal-Kanal überquert und sich die bei Tageslicht ablaufende Unternehmung zum Massaker ausweitet, weil die US-Soldaten in ihren Ruderbooten auf dem Wasser perfekte Zielscheiben abgeben. Sequenzen, in denen uniformierte oder zivile Opfer des Krieges ein menschliches Gesicht bekommen, nehmen insgesamt aber zu wenig Raum ein; meist dominiert der Blick auf das strategische Geschehen und den Kampf um die wichtigen Brücken. Der allerdings ist präzise, in der Hinsicht hat „Die Brücke von Arnheim“ große Qualität. Verschiedene kleinere Handlungsfäden laufen zusammen und ergeben ein stimmiges Bild, so beispielsweise auch Szenen mit niederländischen Zivilisten, die teils im Widerstand aktiv sind. Einige von ihnen wird der Krieg aufreiben. Die letzte Szene des Films setzt der Zerstörung ihrer Heimat ein Andenken.

Roland Emmerichs liebster Kriegsfilm

Kein Geringerer als der deutsche Hollywood-Regisseur Roland Emmerich („The Day After Tomorrow“) outete sich 2019 in einem Interview anlässlich des Kinostarts seines Weltkriegsdramas „Midway – Für die Freiheit“ als großer Fan von „Die Brücke von Arnheim“. Dies sei sein Lieblingskriegsfilm. Man sehe, wie eine Militäroperation entsteht, was damit bezweckt wird und wie das umgesetzt wird. Mit dieser Charakterisierung des Geschehens liegt Emmerich richtig. Gegen die Proklamation eines Lieblingsfilms lässt sich obendrein nichts anführen, dies ist völlig legitim. Als eines der besten Kriegsdramen überhaupt geht „Die Brücke von Arnheim“ aber nicht durch, gehört meines Erachtens auch nicht in eine solche Auflistung. Gleichwohl eine beeindruckende Großproduktion mit hohen Schauwerten.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Dirk Bogarde, James Caan, Michael Caine, Sean Connery, Denholm Elliott, Edward Fox, Gene Hackman, Anthony Hopkins, Hardy Krüger, Laurence Olivier, Ryan O’Neal, Wolfgang Preiss, Robert Redford, Maximilian Schell und Fred Williams haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung: 8. Juni 2018 als Blu-ray im Mediabook, 6. Juni 2014 als Blu-ray, 11. April 2014 als DVD, 15. September 2003 als 2-Disc Special Edition DVD und DVD

Länge: 176 Min. (Blu-ray), 160 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch/Deutsch/Niederländisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: A Bridge Too Far
USA 1977
Regie: Richard Attenborough
Drehbuch: William Goldman, nach einer Vorlage von Cornelius Ryan
Besetzung: Sean Connery, Ryan O’Neal, Michael Caine, Gene Hackman, Anthony Hopkins, Dirk Bogarde, Hans von Borsody, Edward Fox, James Caan, Maximilian Schell, Hardy Krüger, Laurence Olivier, Robert Redford, Hartmut Becker, Frank Grimes, Paul Maxwell, Walter Kohut, Peter Faber, Siem Vroom, Marlies van Alcmaer, Erik van ’t Wout, Liv Ullmann, Elliott Gould, Ben Cross, Denholm Elliott, Fred Williams, Wolfgang Preiss
Zusatzmaterial Blu-ray: Original-Kinotrailer
Zusatzmaterial Mediabook: Booklet, Kinoplakat
Zusatzmaterial Special Edition DVD: Audiokommentar von Drehbuchautor William Goldman, 3 Dokumentarfilme („Heroes from the Sky“, „A Distant Battle – Memories of Operation Market Garden“, „Richard Attenborough – A Filmmaker Remembers“), Fotogalerie, Original Kinotrailer
Label/Vertrieb Mediabook: FilmConfect Home Entertainment
Label/Vertrieb Blu-ray & DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment (MGM)

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshot Mediabook: © 2018 FilmConfect Home Entertainment, Packshots deutsche Blu-ray & DVDs: © Twentieth Century Fox Home Entertainment

 

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