Suspiria
Von Tonio Klein
Horrorthriller // Dario Argentos Kino ist eines der Sinne, nicht des Sinns. Geht das gut, wie in seinen meisten Werken, wird man überwältigt und vom narrativen Unsinn abgelenkt. Geht es nicht gut, wird man erschlagen. Während offenbar fast alle „Suspiria“ ganz oben in Kategorie 1 sehen, ist er für mich Kategorie 2, der Film, bei dem mit dem hochgeschätzten Großmeister die Gäule durchgingen. Schade, dabei ist das doch alles andere als Trash-Blödsinn. „Das Triviale mischt sich mit dem Erhabenen“; so sollte dieser Text ursprünglich beginnen, aber bei der erneuten Lektüre der Einleitung zu einem Argento-Interview stellte ich fest, dass Thomas Gaschler und Eckhard Vollmer diese Idee auch schon hatten (Sammelband „Dark Stars – 10 Regisseure im Gespräch“, 1992). Und im Grunde stimmt es, bezogen auf „Suspiria“ auch nicht. Wenn es das doch mal täte! Aber narrativer Stuss, kunstfertige Raumverschachtelungen und derbe (optische wie akustische) Effekte werden uns so kübelweise vor die Füße gekippt, dass die Soße, wie Öl und Wasser, einfach kein Ganzes ergibt. Erst die Dosis macht das Gift.
Hirnrisse in der Pseudo-Geschichte
Nun ist es wirklich nicht so, dass ein Film mit Logiklöchern automatisch und nur deswegen abzuwatschen ist. Argento ist ein Präsentator, ein Verunsicherer, ein Penetrator (des Körpers, der Mauern, der vierten Wand). Ein Geschichtenerzähler ist er nicht. Das darf er natürlich so machen. Weswegen das bei mir – übrigens tatsächlich nur in diesem einen Fall – nicht verfing? Das größte Problem ist nicht, dass „Suspiria“ keine Geschichte zu erzählen hat. Sondern, dass er so tut. Argentos „Horror Infernal“ (1980) ist die ehrlichere und daher überzeugendere Verabschiedung vom rational-linearen Erzählen. Und in anderen Werken hat er, wie Vorbilder à la Alfred Hitchcock und Fritz Lang, beim Überwältigen nicht das Ablenken vergessen. Dazu braucht man aber Maß und wenigstens ansatzweise Subtilität. Eigenschaften, die „Suspiria“ fehlen. So wie sich der Magen auch bei erstklassigem Essen umdreht, soweit die Menge zu groß ist, weigern sich die Sinne, den Bombast aufzunehmen – zumindest meine Sinne. Schaut her, was ich kann, alles ist Kunst, alles ist zelebriert, alles ist – auf besonderem Material eingefangen – schreiendes Technicolor. Es gibt nicht nur die im Giallo-Horror-Slasher damals standardmäßige „stabbing scene“, sondern das Messer dringt sogar ins offene Herz ein. Es gibt Lärm, in Form des um wenige Standardthemen kreisenden Progressive Rock von „Goblin“. Der ganze Film ist extrem laut und unglaublich nah, wo doch gezielt eingesetzte Stille und sich hereinschleichende Geräusche viel wirkungsvoller sein könnten. Nun gut, wirkungsvoller wofür? Vielleicht ging es Argento gar nicht um etwas wie Suspense. Aber ein – auf Einzelszenen bezogen durchaus gelungenes – Dauerfeuer führt zur Übersättigung.
Und bei diesem Effekt bin ich weder in der Lage noch gewillt, einzutauchen und das Hirn auszuschalten, sodass man einmal fassungslos sein kann, welche geballte Menge an Quatsch uns da über die Leinwand blubbert wie der (1977 natürlich viel zu helle) ganz besondere Saft. Quatsch im Großen wie im Kleinen. In/vor einem deutschen Flughafen findet sich ein Plakat mit dem „Black Forest“, aber ein Taxi mit Münchner Kennzeichen. Wobei dem Film hier zugutegehalten sei, dass der gemeinhin kolportierte Handlungsort Freiburg – Basis ist meine deutsche Synchronisation – nie erwähnt wird. Wenn es dafür Belege geben sollte, steht in Freiburg aber auch ein Hofbräuhaus, oans, zwoa, g’suffa, in dem ein echt boarischer Watsch’ntanz aufgeführt wird. Nun ja. In einer berühmten Ballettschule leiht sich US-Neuankömmling Suzy Bannion (in der Synchro idiotischerweise „Banner“) von einer X-Beliebigen die Ballettschuhe, ohne Überprüfen der Größe. Vorher hatte Pat (Eva Axén), eine rausgeschmissene Schülerin, bei ihrer Freundin Unterschlupf gesucht, wo sich niemand daran stört, dass draußen Wäsche zum Trocknen hängt – im strömenden Regen. Pat, die recht schnell unsanft ermordet wird, hatte ein Geheimnis entdeckt, worauf es zur Standard-Argento-Schlüsselszene kam – Suzy sah und hörte Pat und muss sich genau an ihre, Suzys, Wahrnehmung erinnern. „Sie rief den Namen einer Blume“, aber keine Ahnung, welcher – wie, bitte, soll das gehen, wenn man etwas nicht genau verstanden hat, aber Blumennamen doch arg unterschiedlich klingen?
Vom Kleinkram zum Großkram
Sicher, dies alles ist Erbsenzählerei, und der Film nutzt Orte in München ganz bewusst, nennt auch das BMW-Gebäude beim Namen. Aber womit haben wir es eigentlich im Großen und Ganzen zu tun? An einer weltweit renommierten Ballettschule scheint es nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Suzy wird bei strömendem Regen nicht hereingelassen, obwohl sich eine Stimme am Summer meldet, Pat flieht in den Wald und ist am nächsten Morgen abgeschlachtet. Na herzlich willkommen. Als Suzy an diesem nächsten Morgen doch hineineingelangt, erweist sich die Schule als überzeichnete Karikatur einer Hochleistungs-Tanzakademie. Hier gibt es nicht nur den handelsüblichen Zickenkrieg, hier scheint jeder grotesk überzeichnet.
Leider am schlimmsten tut sich Alida Valli hervor, die am 31. Mai 2021 100 Jahre alt geworden wäre. Musste sich Argento hier wieder einmal an seinen mutmaßlichen Obsessionen gegenüber Übermutterfiguren abarbeiten? So wie Piper Laurie in „Aura“ (1993) und Clara Calamai in „Rosso – Die Farbe des Todes“ (1975) mit greller Schminke stets bedrohlich wirken, tut es Valli als „Miss Tanner“ (im Deutschen noch „Fräulein“) auf etwas andere Art. Sie ist als Ballettlehrerin die Zuchtmeisterin mit allem Drum und Dran, das strenge Schulterpolsterkostüm, die strenge Haarschnecke, die natürlich strenge Attitüde, in der das Dauergrinsen von Vornherein etwas Schneidendes hat. Du liebe Zeit, mit dieser dauereingefrorenen Haltung wandelt sie durch den ganzen Film, kommandiert den Tanzrhythmus, lästert vor Faktotum Pavel (eine Mischung aus Frankensteins Monster und „Der Kieferorthopäde musste noch üben“) über dessen angeblichen Schwachsinn, brüllt den blinden Pianisten Mark (Miguel Bosé, dort „Bosè“ geschrieben) zusammen und sorgt dafür, dass ihm sein Stock nicht zur Verfügung steht. Auch wenn im Hochleistungstanz „per aspera ad astra“ gilt: Suzy, raus, und zwar schnell!
Und was machen nun die Hexen?
Natürlich drängt Suzy zum Geheimnis statt von ihm weg, obwohl es schon „Curiosity killed a Pat“ hieß. Irgendwann ist klar, dass die Akademie irgendwas mit Hexen zu tun hat. Denen scheint es recht gut zu gehen, denn gewisse Seltsamkeiten versuchen sie nicht im Geringsten zu verbergen. Die offenbar steinalte Direktorin, die noch nie jemand gesehen hat, lässt sich öfter einmal mit einem grauenerregend-röchelnden Schnarchen vernehmen, und selbst, wenn das nicht zu verheimlichen ist, behaupten die Leiterinnen (darunter Joan Bennett), die Dame befände sich in Südamerika. Das ganze Personal schläft offiziell nicht im Hause, begibt sich aber in Wirklichkeit in geheime Räume der Schule, sozusagen ins Herz der Finsternis. Dies zu verbergen, gibt sich aber niemand sonderlich Mühe, weil die Schüler das Absatzklackern der nicht ausgezogenen Schuhe hören können. Suzy fällt auf, was eigentlich alle merken müssten: Die Richtung der Schritte ist deutlich hörbar. Ihre Freundin und Mitschülerin Sara (Stefania Casini) hatte allerdings ebenfalls ein paar Ungereimtheiten entdeckt und notiert, woraufhin sich Suzy einmal über Hexen informiert. Puha, auf einem Kongress für Psychiater und Psychologen hat erst der junge Udo Kier einen Pseudo-Erklärbär-Auftritt, um dann an Rudolf Schündler alias Prof. Milius abzugeben – und der schwadroniert mit einem heiligen Ernst über Hexen, dass es wehtut. Wenn solche „Hexenexperten“ allen Ernstes als Kapazitäten zu Psychologen-/Psychiaterkongressen kämen, hätte ich doch ernsthafte Sorgen um die Zunft.
Getretener Quark wird breit, nicht stark
Sicher, auch hier ist der Gegeneinwand naheliegend. Ja, das ist (auch) ein Horrorfilm, da gehört es nun einmal dazu, dass Wesen vorkommen dürfen, die es nicht gibt. Aber das Drehbuch wirft sie zu brutal auf die Realität. Es gebe also die griechische Hexe Helena Markos, die in mehreren Ländern Ende des 19. Jahrhunderts wegen Hexerei angeklagt war – ernsthaft, was waren das für Länder? Dessen ungeachtet gründete sie 1895 die Tanzakademie, auf der es zwar schon einmal zu Zerstörung und Neugründung kam, aber seit Jahrzehnten bringt das Institut die besten Ballerinas und Ballerinos der Welt hervor. Was macht die Oberhexe dort eigentlich den lieben langen Tag? Man sollte doch meinen, dass Hexen hexen, wie ein Roald-Dahl-Kinderbuch heißt. Das tut Markos aber immer nur, wenn ihr (selbstverschuldet!) jemand ansatzweise auf die Schliche kommt. Ansonsten sind ihre Dienerinnen ganz unzauberhafte Balett-Zuchtmeisterinnen, und die Herrin gibt eben die Oberschnarchnase. Dafür lohnen sich ihre 140 Jahre Leben echt nicht (zudem ist die Maske am Ende ein überzeugendes Argument gegen solche Lebensverlängerung). Das Hexenwesen als eines, das Macht und Einfluss wolle, das pure Böse sei und sich sozusagen vom Leid der Mitmenschen nähre: Es ist bloße Behauptung, um ein leeres Zentrum kreisender Quark. Auch deswegen ist die Kongress-Szene (übrigens die beim BMW-Gebäude) so lächerlich.
Argento hat die Idee der „Mutter der Seufzer“, als die sich Helena Markos schließlich entpuppt, vom Schriftsteller Thomas De Quincey, was zum ersten Teil der später „Mütter-Trilogie“ genannten Filme wurde. Und Teil 3, der von vielen ungeliebte „La terza madre“ (2007, hierzulande unter dem englischen Titel „The Mother of Tears“), bringt endlich Licht in das Dunkel. Wobei man sich einmal fragen kann, ob das ausgelutschte „Rom wird fallen im Kampf des Satanischen gegen das Göttliche“ wirklich eine Verbesserung ist. Entweder nimmt Argento seinen Okkultschmarrn schrecklich ernst, wie in „La terza madre“, oder er tut zumindest so, wie in „Suspiria“ – beides legt die narrativen Schwachstellen offen, statt von ihnen abzulenken.
Wo bleibt das Positive?
Kümmern wir uns aufgrund des immens guten Rufes des Filmes einmal um andere Aspekte. Es kann ja nicht nur darum gehen, wie etwa in Ulrich von Bergs Verriss von Hitchcocks „Der zerrissene Vorhang“ (1966) auf ein eh schon waidwundes Stück Wild noch einzuprügeln (zu finden im von Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen herausgegebenen Sammelband „Alfred Hitchcock“, 1999). Zugegebenermaßen hat mich der sehr lustige wie durchaus auch kenntnisreiche Text ein wenig zu diesen Zeilen inspiriert. Indes, bei reiner Lästerei soll es nicht bleiben. Ich finde den Film – zumindest in nicht unwesentlichen Aspekten – blöd, aber ich finde nicht die Menschen blöd, die ihn lieben, und davon gibt es viele, mit oft klugen Argumenten. Das kann man nicht so einfach abtun, also begeben wir uns in die Abgründe der Argento-Welt. Da gibt es – nicht nur in diesem Film – ein (Achtung, Titel eines Filmes des Argento-Vorbildes Fritz Lang) Geheimnis hinter der Tür. Da ist Argento auch ein Meister des filmischen Raumes. Der niederländische Künstler M. C. Escher zeichnete unmögliche Perspektiven, Argento siedelt die Akademie nicht nur isoliert im dunklen, verwunschenen Wald, sondern in einer „Escherstraße“ an. Dies nun ist ihm als scheinbarer Logikfehler nicht übel zu nehmen: Weder München noch Freiburg hat eine Escherstraße (Sebastian Selig begibt sich in Flintrop/Stiglegger, „Dario Argento – Anatomie der Angst“, 2013, höchst lesenswert auf Reise zu den Drehorten), meine Heimat Hannover könnte aushelfen (siehe Foto).
Entscheidend ist, dass Argento hier sehr konsequent ist und uns nicht nur in der Tanzakademie ein unmögliches Labyrinth zeigt, sondern die vierte Wand einreißt. Das ist ja schließlich kein 3D-Film, die Leinwand zeigt Räume in nur zwei Dimensionen, und in einer Schlüsselszene wird dieser scheinbare Gegensatz in die Handlung überführt. Eine an Escher erinnernde perspektivische Zeichnung findet sich auch auf einer Tür in der Akademie, und genau dort ist der vermeintlich zweidimensionale Raum wirklich ein dreidimensionaler – dort findet sich der Geheimgang zu Helena Markos. Wobei dann wieder irritiert, dass die Türritze offenbar vorher niemand sehen konnte. Wie dem auch sei, „Suspiria“ reiht sich als Kino der verborgenen Räume, der Irritationen, der vermeintlichen Gewissheiten schon in Argentos Kosmos ein. Und natürlich als Meta-Kino, das uns auch immer etwas darüber sagt, worum es zwischen Film und Betrachter nun einmal geht: das Sehen. Hier sehen nicht nur wir einen Film, hier geht es auch um das Sehen der Figuren, oder um das Gesehenwerden, um die Möglichkeiten dabei, aber auch die Grenzen und die sich aus allem ergebenden Gefahren. Bei Argento oft im wahrsten Sinne blutige Gefahren. Wer hartgesotten ist, aber „Augenszenen“ nicht verträgt, sollte bei diesem Regisseur eher vorsichtig sein.
Der Zuschauer als Blinder
Wobei ganz interessant ist, inwieweit Argento diesmal den Zuschauer mit einer Figur gleichsetzt – oder eine Figur mit dem Zuschauer. Ersteres klappt äußerst gut, Letzteres geht fürchterlich daneben, in dieser Reihenfolge: Der blinde Mark wird sein Leben aushauchen, und irgendwann ahnen wir das auch. In einem abstrakt leergefegten Freiburg/München scheinen weiße Gebäude auf einem riesigen schwarzen Platz im nicht minder schwarzen Nachthimmel selbst die Bedrohung, und Argento zeigt ein Geschick dafür, Orte gegen den Strich zu bürsten. Etwas, das er öfter virtuos kann, beispielsweise beim nächtlichen Rom in „Rosso – Die Farbe des Todes“, das nahezu leergefegt das Klischee einer weltberühmten Auch-Touristenstadt konterkariert. In „Suspiria“ verzichtet Argento nun darauf, etwas zu tun, das sich bei „Blinden-Suspense“ eigentlich anbietet: Informationsvorsprung, wie es das etwa in „Warte, bis es dunkel ist“ (1967) und „Stiefel, die den Tod bedeuten“ (1971) gibt: Ja merkt denn die blinde Audrey Hepburn / Mia Farrow nicht, dass direkt neben ihr die gut sichtbare Leiche ist? Oh Gott, sie berührt sie echt nicht. Hier nun haben wir den Informationsvorsprung des Sehenden gegenüber dem Blinden nicht. Funktioniert ebenfalls, wir haben nicht um ihn, sondern mit ihm Angst. Der Tod kommt auch für uns aus dem Nichts (wobei die widerliche Auflösung gern eine Nummer kleiner hätte ausfallen dürfen).
Die sehende Figur als Blinde
Wenn indes nicht wir mit einer Figur blind sind, sondern eine Figur mit uns, kann mich das nach wie vor nicht überzeugen. Johannes Binotto hat im erwähnten Argento-Sammelwerk eine Erklärung für eine Szene versucht, die ich beim ersten, zweiten und dritten Sehen einfach nur schwachsinnig finde (die Szene, nicht die Erklärung). Argento verweigert hier nicht dem Zuschauer einen Informationsvorsprung vor der Figur, was bei einer Bedrohung aus dem Nichts funktioniert – sondern er verweigert der Figur den Informationsvorsprung vor dem Zuschauer, den sie definitiv haben müsste. Ein mutmaßlicher Killer verfolgt eine Schülerin, sie gelangt auf einen Dachboden und kann die Tür schließen, der Verfolger versucht, den Riegel mit einem Rasiermesser aufzuhebeln, das Opfer klettert durch ein Fenster und will von dort ein anderes Fenster erreichen. Hierzu muss die Schülerin in den Raum springen, dessen Boden sich unterhalb des Bildkaders befindet. Sie tut es – mit schrecklichen Folgen. Binotto meint, hier sei mal wieder die vierte Wand durchtrennt, indem sozusagen die Kamera morde und das Opfer nur dasjenige sehen ließe, was auch wir sehen. Was jenseits des Bildes ist, sei noch gar nicht da. Argento zeige keine, sondern erschaffe eine Realität. Kann man so sehen. Ich gestehe, den „Warum guckt sie nicht?“-Impuls ums Verrecken nicht ausschalten zu können. Vielleicht, weil die Szene einen Vorlauf vor dem Sprung hat, in dem sich bereits massive Plausibilitätsfragen aufdrängen. Das Opfer ist im verschlossenen Raum, der Täter stochert mit dem Rasiermesser in den Türspalt, um den Riegel aufzuhebeln. Er ist da doch machtlos! Kann die Frau sich nicht etwas schnappen, um die Tür zu blockieren, ihrerseits die Waffe weghebeln, dem Mörder nach dem Eindringen eines über die Rübe ziehen? Es sind ja Gegenstände vorhanden. Allein, dass sie diese nicht zur Verteidigung nach hinten, sondern zur Flucht nach vorn einsetzt, lässt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Und dann bei der „Koffertreppe“ auch noch der kleinste und leichteste Koffer ganz unten, woraufhin die Chose zeitweilig umkippt. Sind wir hier bei „Scary Movie“ (2000), wo ein Opfer bei der Wahl der Waffen nicht das wirklich gefährliche Zeugs, sondern die Banane nimmt? Natürlich kann man Argento nicht vorwerfen, so blöd zu sein; die Szene ist sicherlich bewusst so gestaltet und die Hexe will die Frau ganz genau zu dem Punkt treiben, an dem sie schließlich landet. Aber es ist eben dermaßen in die Länge gezogen, dass man ins Grübeln kommt, und das schmerzt.
Zudem vermag ich dieses reine Effektkino nicht so sehr zu goutieren und scheint es mir nicht aus einem Guss. Ivo Ritzer hat dies (ebenfalls im genannten Sammelwerk, und wie üblich: klug, aber mit deutlich mehr Fremdwörtern als nötig) ganz anders gesehen. Er konstatiert zu Recht, dass hier kaum noch erzählt, sondern mehr präsentiert wird, fast wie im Frühzeit-Jahrmarktkino der puren selbstzweckhaften Attraktion. Aber genau dies sei große Kunst. Natürlich gilt auch hier: Kann man so sehen. Indes wage ich mal den Einwurf, dass auch ein solches Kino von einer Illusion lebt, dass es nicht nur präsentiert, sondern imaginiert, dass wir nicht nur sehen, was da ist, sondern uns vorstellen, was nicht da ist. Sonst würden die ganzen bewusst drastischen, „sensationellen“ Effekte nicht funktionieren. Wir wissen natürlich, dass das Messer in ein falsches Herz sticht, aber stellen uns ein echtes Herz vor. Wir wissen, dass ein Hund einem Menschen keine Fleischfetzen herausreißt, aber wir stellen es uns vor. Wir wissen, dass in „Ein andalusischer Hund“ (1929) kein Menschenauge in Großaufnahme zerschnitten wird, aber wir stellen es uns vor. Wir stellen uns auch vor, dass jenseits des Bildkaders etwas ist (oder zeitlich zwischen den Bildern), selbst wenn wir nicht genau wissen, was es ist. Und genau dies tun auch die Figuren. Sie sagen sich nicht: „Das Messer sticht nur in eine Puppe von mir, ich brauche mich nicht vorzusehen.“ Sie sagen sich nicht: „Den Raum unter dem Bildkader gibt es nicht, ich kann ruhig springen.“ Nein, sie gucken, Herrgott noch mal! Zumal, auch deswegen geht die Rechnung nicht auf, man ja nicht springt, weil es etwas „nicht gibt“, sondern weil man denkt, da sei etwas, und dies sei ungefährlich. Es ist zwar wahr, dass wir zusammen mit dem Opfer eine begrenzte Sichtweise haben, aber es ist nicht einsichtig, warum das Opfer das nicht ändern sollte.
Skizzen einer Erklärung – und zu Alida Valli
Was bleibt? Ein interessanter Film, mit dem sich zu beschäftigen lohnt und nach dem man Argento keinesfalls als Schwachkopf abtun darf. Für mich aber ein überladenes, prätentiöses Werk, das seinen Effekt- und Kunstwillen wie eine Monstranz vor sich herträgt. Überwältigungskino kann auch erschlagen. Was bei mir das Gegenteil eines Eintauchens oder gar eines Sogs bewirkt hat. Man kann das alles faszinierend finden, aber auch froh sein, wenn es endlich zu Ende ist. Interessanterweise gibt es eine mögliche Erklärung dann doch im Narrativen, also einem Aspekt, der nicht Argentos Stärke ist und den die Exegeten (leider habe ich Robert Zions sicherlich hochinteressante Argento-Monografie nicht) bewusst links liegen lassen. Hexen, so heißt es, bekämen ihre Macht durch die Angst ihrer Opfer. Vielleicht auch durch die dadurch bedingte Gleichgültigkeit und Fügsamkeit? Die scheinen ja hier alle zu haben, wenn sie jahrzehntelang das Offensichtliche ignorieren, solange sie das auf die Tanzbretter schickt, die die Welt bedeuten. Suzy ist anders, und wenn sie sich am Schluss nicht beirren lässt, nimmt die olle Helena Markos als 140-jährige Hexe Schrumpeldei auf einmal Gestalt an (mit jeder Menge Matschepampen-Maske, die ich eher als lächerlich empfunden habe). So lässt sie sich leicht besiegen, und die ganze Fassade implodiert so effektvoll wie überraschend schnell. Feuer, Wasser (vor allem Letzteres hatte die Bildsymbolik von Anfang an geprägt) – und Suzy kann lächeln. Der Zuschauer weniger, zumindest, wenn er sich – wie ich – fragt, was das Ganze nun sollte.
Alida Valli – eine Projektion, eine Chiffre, und als fiese Argento-Übermutter eine sehr klischeehafte. War sie das nicht auch schon vorher? Ein berühmter früherer Auftritt ist derjenige in Alfred Hitchcocks „Der Fall Paradin“ (1947), und das meine ich nicht mal despektierlich. Da war sie als mordende Femme fatale faszinierend, weil es weniger um sie als um den Mann (Gregory Peck) ging, der gegen alle Logik an ihre Unschuld glaubt, weil er das will. So wie im Verhältnis Charles Laughton / Marlene Dietrich in „Zeugin der Anklage“ (1957) ging es um den Mann als Opfer, innerlich Gefangener, der Frau Verfallener. Zwei gelungene Justizdramen, in denen eben mehr als Justiz steckt. Schriftsteller Martin Mosebach meint in Freddy Langers Sammelband „Frauen, die wir lieben“ (2008) über den Moment, in dem sich Vallis Haar vor der Hinrichtung löst, weil es zu diesem Zweck abgeschnitten werden soll: „In diesem Augenblick hätte jeder Mann [!] im dunklen Kinosaal die überführte Verbrecherin freigesprochen …“ Nun ja. In „Suspiria“ löst sie ihr „Lächeln“ und ihr Haar nicht, und jeder Mann, jede Frau will sie an die Wand klatschen. Mich hat diese Figur kaltgelassen, und auch für frühere Filme kann ich Valli zwar schätzen, aber nicht mehr. Wenn man sich in ihrer Filmografie umsieht, muss der Eindruck des etwas Wahllosen verbleiben; da ist von ganz frühen italienischen Filmen (ab 1935!) über viele Regiegrößen wie Luchino Visconti („Sehnsucht“, 1954) bis zu Italo-Genre-Schund alles dabei. Eine Nunsploitation-Gurke wie „Geständnis einer Nonne“ (1979), in der allen Ernstes Anita Ekberg als Hauptfigur schnell den Habit ablegt, wenn sie „es“ gerade mal braucht, ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann. Es sei ihr gegönnt, dass der als Alida Maria Laura Altenburger von Marckenstein und Frauenberg am 31. Mai 1921 in Pola, Istrien, damals Italien, Geborenen eine internationale Karriere gelang. Diese ist ausgesprochen vielseitig und reichhaltig und weist beachtliche Höhen auf. Beachtlich ist auch ihre Auftrittszeit von 1935 bis 2002, was Kino, Fernsehen und Theater in zahlreichen Ländern umfasst. 2006 starb sie hochgeehrt in Rom. Ein großer Hollywoodstar ist sie nie geworden, und wenn man bei den Oscars und Golden Globes schaut, findet man nur eine Nominierung für Letzteres, für den mexikanischen „El hombre de papel“ (1963). Indes mag diese Sichtweise zu eng sein und konnte sie in Italien durchaus Auszeichnungen einheimsen, so zum Beispiel 1955 den Golden Goblet für ihre Hauptrolle in Viscontis „Sehnsucht“. Dass mich „Suspiria“ nicht gerade sehnsüchtig nach ihr macht, liegt nicht an ihr – sie machte offenkundig, was Argento von ihr wollte, und dies sehr gut. Ob man das sehen will, wird sicherlich eine offene Frage bleiben.
Seit „Suspiria“ 2014 vom Index der Bundeszentrale für jugendgefährdende Medien gestrichen wurde, gibt es keinen Mangel an Veröffentlichungen der ungeschnittenen Fassung mehr. Eine Auswahl empfehlenswerter Editionen findet sich unten. Um der Chronistenpflicht Genüge zu tun, sei auf die 2018er-Neuverfilmung des Stoffs hingewiesen, die sich so viele Freiheiten nimmt, dass sie nicht mehr als Remake bezeichnet werden kann. Regisseur Luca Guadagnino („A Bigger Splash“, „Call Me by Your Name“) stand sicher auch nicht der Sinn nach einem schnöden Remake. Mein geschätzter „Die Nacht der lebenden Texte“-Autorenkollege Lucas Gröning hat dem Werk 2019 einen ausführlichen Beitrag angedeihen lassen.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dario Argento haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Alida Valli unter Schauspielerinnen, Filme mit Udo Kier in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung (Auswahl): 4. April 2019 als 10-Disc Ultimate Edition von „Suspiria“ (2018) von Luca Guadagnino (2 4K UHD Blu-rays, 3 Blu-rays, 2 DVDs, 3 Soundtrack-CDs, limitiert auf 3.000 Exemplare, Dario Argentos „Suspiria“ als Bonusfilm auf Blu-ray und UHD Blu-ray), 29. September 2017 als Blu-ray im Restored 40th Anniversary Edition Blu-ray im Mediabook, 3. Juli 2017 als nummeriertes 3-Disc Edition Leatherbook (Blu-ray & 2 DVDs, limitiert auf 1.111 Exemplare), 11. Dezember 2015 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray und DVD, 4 limitierte Covervarianten), 7. November 2014 als nummeriertes 4-Disc Edition Mediabook (Blu-ray, 2 DVDs & Soundtrack-CD, limitiert auf 4.350 Exemplare), 22. Januar 2003 als 3-Disc Ultimate Collector’s Edition (2 DVDs & Soundtrack-CD)
Länge: 101 Min. (Blu-ray), 96 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Suspiria
Alternativtitel: Suspiria – In den Krallen des Bösen
IT 1977
Regie: Dario Argento
Drehbuch: Dario Argento, Daria Nicolodi
Besetzung: Jessica Harper, Joan Bennett, Alida Valli, Udo Kier, Flavio Bucci, Miguel Bosé, Stefania Casini, Rudolf Schündler, Barbara Magnolfi, Susnna Javicoli, Eva Axén, Margherita Horowitz, Jacopo Mariani, Fulvio Mingozzi, Franca Scagnetti
Zusatzmaterial: keine Angabe
Label/Vertrieb: diverse (u. a. Koch Films, ’84 Entertainment, Dragon)
Copyright 2021 by Tonio Klein