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Archiv für den Monat März 2022

Zum 100. Geburtstag von Patrick Magee: Zulu (1964) – Mit Speeren gegen Gewehre

Zulu

Von Volker Schönenberger

Kriegsdrama // Im Zulukrieg von 1879 kämpfte eine 40.000 Mann starke Armee des südafrikanischen Volks der Zulu gegen das britische Kolonialimperium. Am 22. Januar jenes Jahres gelang es einer Zulu-Streitmacht von 20.000 Kriegern, in der Schlacht bei Isandhlwana eine zahlenmäßig klar unterlegene britische Truppe aufzureiben. Am selben Tag schlugen 139 britische Uniformierte in der Schlacht um Rorke’s Drift 4.000 Zulu zurück (die von der evangelischen Schwedischen Kirche gegründete Missionsstation Rorke’s Drift lag in der britischen Kolonie Natal). Der Zulukrieg endete mit der Niederlage der Zulu in der Schlacht bei Ulundi am 4. Juli 1879. Diese beendete die Existenz des Königreichs Zululand, das in 13 Königtümer aufgeteilt und schließlich 1897 Natal einverleibt wurde.

Die von Douglas Hickox („Theater des Grauens“) inszenierte Verfilmung der Vorgeschichte des Zulukriegs und der Schlacht bei Isandhlwana kam 1979 mit Burt Lancaster, Peter O’Toole und Bob Hoskins unter dem Titel „Zulu Dawn“ in die Kinos, wenn auch nicht in Deutschland (1983 erschien der Film unter dem Titel „Zulu Dawn – Die letzte Offensive“ hierzulande auf VHS). Bereits 1963 hatte Cy Endfield („Das ausschweifende Leben des Marquis de Sade“) die Verfilmung der Schlacht um Rorke’s Drift in Südafrika abgedreht, das Werk kam im Januar 1964 in die britischen und sieben Monate später auch in die bundesdeutschen Kinos. Um „Zulu“, so der Titel, soll es in diesem Text gehen.

Nach der Schlacht von Isandhlwana

Die erste Einstellung des Films zeigt die massakrierten britischen Soldaten auf dem Schlachtfeld von Isandhlwana. Im Anschluss erleben wir eine Zulu-Massenhochzeit, veranstaltet vom Zulu-Herrscher Häuptling Cetshwayo (verkörpert vom südafrikanischen Politiker Mangosuthu Buthelezi, einem Urgroßenkel Cetshwayos). Der Zeremonie wohnen auch der schwedische Missionar Otto Witt (Jack Hawkins) und seine Tochter Margareta (Ulla Jacobsson) bei. Die beiden verlassen die Zulu-Siedlung fluchtartig und kehren nach Rorke’s Drift zurück, nachdem ein Krieger die Kunde vom Massaker bei Isandhlwana gebracht hat.

Ein erbitterter Kampf …

Die nur 139 in Rorke’s Drift stationierten britischen Soldaten werden von den beiden Lieutenants John Chard (Stanley Baker) und Gonville Bromhead (Michael Caine) angeführt. Die müssen sich erst einmal darüber einig werden, wer das Kommando hat – es obsiegt Chard, weil er drei Monate mehr Dienst auf dem Buckel hat (der reale Chard hatte tatsächlich drei Dienstjahre mehr absolviert als der reale Bromhead). Der kleine Trupp baut Barrikaden und erwartet den Ansturm der gewaltigen Zulukrieger-Übermacht.

Mit Gewehren ungeübte Zulu

Die Kampfszenen sind ausgesprochen beeindruckend geraten. Dabei sind die Zulus vornehmlich mit Speer und Schild bewaffnet, während die Briten mit Gewehren samt Bajonettaufsatz kämpfen. Sie geraten allerdings auch selbst unter Gewehrbeschuss, da die Zulu nach der Schlacht bei Isandhlwana die Flinten ihrer Opfer eingesammelt haben. Besonders zielsicher gestaltet sich das aufgrund ihrer mangelnden Übung mit Schusswaffen nicht, dies entspricht wohl dem historischen Ereignis.

Wenn die zahlenmäßig weit überlegenen Zulukrieger heranstürmen, kann man nachempfinden, wie sich der kleine Haufen Briten in Rorke’s Drift gefühlt haben mag. Mit „mulmig“ ist das wohl noch milde ausgedrückt. Diese Stimmung vermittelt „Zulu“ vorzüglich. Das unterstreichen auch ein paar ausgesprochen statische Szenen, in denen die Kamera die Verteidiger in den Blick nimmt, die mit den Gewehren vor dem Körper völlig reglos in der Ruhe vor dem nächsten Sturm ausharren. Ebenfalls sehr gut vermittelt „Zulu“, dass sich das Schlachtenglück letztlich aufgrund der unterschiedlichen Bewaffnung den Briten zuneigte. Chard und Bromhead gelingt es, einige ihrer Soldaten in sehr disziplinierten Reihen in Stellung zu bringen, die nacheinander zum Schuss kommen und auf diese Weise die Angreifer phasenweise geradezu niedermähen. Diese Sequenzen entfalten eine fast perverse Faszination des Tötens und man beginnt den Sinn hinter militärischer Disziplin und soldatischem Drill zu verstehen. Ein zwiespältiges Gefühl, ohne Frage.

Zwei expansiv gesinnte Mächte

Von historischen Zusammenhängen erfahren wir nichts, „Zulu“ interessiert sich einzig für den Verteidigungskampf der britischen Soldaten, einer Kompanie aus Südwales, gegen die anstürmenden Zulu. Die Briten sind als Vertreter der Kolonialmacht natürlich grundsätzlich die Imperialisten, die sich ihre Besitztümer in Afrika schlicht zusammengeraubt haben. Andererseits entsteht schon bei oberflächlicher Lektüre über den Zulukrieg der Eindruck, dass es zu einfach ist, diesen Konflikt darauf zu reduzieren. Die Herrscher über das Volk der Zulu waren während des 19. Jahrhunderts eben auch auf Expansion und Unterwerfung von Nachbarstämmen aus, was den Konflikt zwischen Zulu und Briten (sowie zusätzlich den Buren) deutlich komplexer erscheinen lässt.

Den britischen Helden ein Denkmal

So oder so war „Zulu“ in den Kinos des Vereinigten Königreichs ein Riesenerfolg – eine solche Heldengeschichte wollten die Briten offenbar gern sehen, so unreflektiert sie auch sein mag. Gespielt ist das vorzüglich. Besonders Michael Caine verleiht seinem Lieutenant Gonville Bromhead einige Facetten: Wirkt der Offizier in seinen ersten Szenen noch wie ein affektierter Gockel, so entpuppt er sich im Verlauf der Kämpfe als kluger Stratege, der psychologisch clever auch seinen eine Weile mit seiner Verantwortung hadernden Kollegen Chard wieder aufbaut, damit dieser seiner Rolle gerecht werden kann. Dieses Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller lässt sich gut ansehen. Dem gegenüber steht allerdings die Tatsache, dass kein einziger Akteur auf Seiten der Zulu auch nur irgendein Profil erhält. Der Fokus liegt einzig auf Seiten der Briten, es geht darum, einen heldenhaften Abwehrkampf zu zeigen und den Soldaten ein Denkmal zu setzen.

… um Leben und Tod

Für Michael Caine war es nach einer zehnjährigen Ochsentour mit vielen kleinen Rollen – auch fürs Fernsehen – die erste große Hauptrolle. Ein ungleich größerer Star war damals schon Richard Burton. Er ist in der Originaltonspur am Anfang und am Ende von „Zulu“ als Stimme aus dem Off zu hören.

Patrick Magee als Militärarzt

In der Rolle des engagierten Militärarztes James Henry Reynolds ist Patrick Magee zu sehen, wenn auch nur in zwei vergleichsweise kurzen Sequenzen. Der am 31. März 1922 in Nordirland Geborene begann seine Schauspielkarriere auf einer irischen Wanderbühne, bei der auch der spätere Dramatiker Harold Pinter als Darsteller tätig war. In den 1950er-Jahren zog es Magee nach London, auf dessen Bühnen er auch in Stücken von Pinter und Samuel Beckett zu sehen war, darunter „Krapp’s Last Tape“ („Das letzte Band“), ein Ein-Personen-Stück, welches Beckett ihm auf den Leib geschrieben hatte.

Seine Laufbahn in Film und Fernsehen begann Magee in der zweiten Hälfte der 50er. Eine erste bedeutsame Kinorolle übernahm er in Joseph Loseys Krimidrama „Die Spur führt ins Nichts“ (1960) – darin spielte er einen sadistischen Gefängnisaufseher. In den 60ern entdeckte Magee das Horrorkino – vielleicht entdeckte das Horrorkino auch ihn mit seiner markanten Augenpartie und der prägnanten Stimme: In der von Roger Corman produzierten zweiten Regiearbeit Francis Ford Coppolas, „Dementia 13“ (1963), ist er als Arzt Dr. Caleb zu sehen, der am Ende den Mörder erschießt. Cormans Edgar-Allan-Poe-Verfilmung „Die Maske des Roten Todes“ (1964) zeigt Magee als dekadenten Adligen an der Seite von Vincent Price, die Lovecraft-Verfilmung „Die, Monster, Die! Das Grauen auf Schloss Witley“ (1965) erneut als Arzt. Als seine bekannteste Rolle gilt die des Schriftstellers in Stanley Kubricks „Uhrwerk Orange“ (1971), der von den „Droogs“ heimgesucht und zum Krüppel geschlagen und dessen Frau von der Bande vergewaltigt wird. Kubrick besetzte Magee fünf Jahre später erneut im Kostümdrama „Barry Lyndon“ (1976). Seine letzten Rollen übernahm er Anfang der 80er, darunter im mit dem Oscar als bester Film prämierten Sportdrama „Die Stunde des Siegers“ (1981), in welchem er den britischen Olympiafunktionär Earl Cadogan verkörperte. Patrick Magee starb am 14. August 1982 in London im Alter von 60 Jahren an einem Herzinfarkt. Am 31. März 2022 wäre er 100 Jahre alt geworden.

Nachdenklich: die Lieutenants Chard (l.) und Bromhead nach der Schlacht

„Zulu“ bemüht sich einigen Ungenauigkeiten zum Trotz um eine authentisch wirkende Inszenierung. Als Zuschauer entstand bei mir auch genau dieser Eindruck: dass es so gewesen sein könnte. Ob das der Wahrheit entspricht, sei dahingestellt, aber es belegt, dass Regisseur Cy Endfield und sein gesamtes Team etwas richtig gemacht haben. Großes Ausstattungskino ist es jedenfalls geworden. Sein Budget von umgerechnet 1,72 Millionen Dollar spielte „Zulu“ locker wieder ein, am Ende standen allein an den US-Kinokassen Kinoeinnahmen von acht Millionen Dollar zu Buche.

Technicolor und Super Technirama 70

In meinem Regal steht das englische Blu-ray-Steelbook von „Zulu“. Die Bildqualität ist bestechend, insbesondere die Technicolor-Farben sind brillant. Gedreht wurde in Super Technirama 70. Hierzulande bestehen keine Beschaffungsprobleme, sowohl DVD als auch Blu-ray sind lieferbar. Es lohnt sich, auch wenn „Zulu“ kein Film ist, der Krieg im Allgemeinen, den Zulukrieg im Besonderen und die Rolle des Vereinigten Königreichs in Afrika im Speziellen einer kritischen Betrachtung unterzieht.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Cy Endfield haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Richard Burton, Michael Caine und Patrick Magee unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 11. Dezember 2015 als DVD in der 3-Movie-Collection Abenteuer-Edition DVD (mit „Hatari!“ und „Donovan’s Reef – Die Hafenkneipe von Tahiti“), 5. Februar 2015 als Blu-ray, 7. November 2002 als Special Collector’s Edition DVD

Länge: 138 Min. (Blu-ray), 133 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Zulu
GB 1964
Regie: Cy Endfield
Drehbuch: John Prebble, Cy Endfield
Besetzung: Stanley Baker, Jack Hawkins, Ulla Jacobsson, James Booth, Michael Caine, Patrick Magee, Nigel Green, Ivor Emmanuel, Paul Daneman, Glynn Edwards, Neil McCarthy, David Kernan, Gary Bond, Peter Gill, Tom Gerrard, Richard Davies, Denys Graham, Dafydd Havard, Dickie Owen, Sprecher: Richard Burton
Zusatzmaterial Blu-ray: Wendecover
Zusatzmaterial DVD: Audio-Kommentar von Sheldon Hall und Robert Porter, Making-of, Kinotrailer
Label: Paramount
Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2022 Paramount

 

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The Shooter – Ein Leben für den Tod: Dolph Lundgren sucht Prag heim

The Shooter

Von Volker Schönenberger

Actionthriller // In New York City fällt der kubanische Botschafter dem Attentat eines Heckenschützen zum Opfer. Oder einer Heckenschützin? Als Mörderin macht der CIA die französische Terroristin Simone Rosset (Maruschka Detmers) aus, die sich mittlerweile in Prag aufhält, wo in Kürze ein Gipfeltreffen zwischen Kuba und den USA stattfinden wird. US Marshal Michael Dane (Dolph Lundgren) reist in die tschechische Hauptstadt, um sie zu verhaften. Dort trifft er auf seinen Pflegevater Alex Reed (John Ashton). Den beiden gelingt es tatsächlich, Simone in Gewahrsam zu nehmen, doch kurz darauf kann sie fliehen. Dane verfolgt sie weiter, obwohl er von Anfang an Zweifel daran hat, dass Simone die Täterin ist.

Marshal Dane gerät in ein Komplott

Regie führte Ted Kotcheff, der mit „Rambo“ („First Blood“, 1982) einen der großen Actionklassiker der 80er-Jahre inszeniert hatte. „The Shooter – Ein Leben für den Tod“ entstand eine Dekade später, und das kann man durchaus programmatisch sehen: So wenig die 90er dem vorherigen Jahrzehnt in puncto Action das Wasser reichen können, so wenig kann das auch Kotcheffs 1995er-Regiearbeit dem großen Vorgänger. Damals begann die Zeit, in der aus Kostengründen viel in Osteuropa gedreht wurde. In diesem Fall wurde im Herbst 1994 in Prag gedreht. Das Budget war mit elf Millionen US-Dollar sogar vergleichsweise stattlich, und so lässt sich der Film dann auch gut anschauen, wenn man eben nicht die Maßstäbe von „Rambo“ anlegt.

Terroristin Simone wird geschnappt

Die Politthriller-Elemente nehmen zu Beginn breiten Raum ein, weichen in der Folge aber vermehrt der Action. Die war in den 90ern immer noch handgemacht und damit sehr physisch, so auch hier. Gut so. Dolph Lundgren tut das, was er immer tut: Er schaut robust drein, agiert mit viel Körpereinsatz und liefert schauspielerisch das, was solche Filme brauchen, wobei ich dabei die Dialoge ausklammern muss, da mir nur die deutsche Synchronfassung vorlag, die suboptimal ausfällt und den Film noch billiger wirken lässt, als er tatsächlich ist. Positiv zu werten: Lundgrens Marshal Dane ist kein Übermensch, sondern kriegt auch mal ein paar Blessuren ab, die ihn später sogar behindern. Das mag auch daran liegen, dass er sich bei den Dreharbeiten tatsächlich verletzte und im Anschluss für eine Weile nicht mehr so beweglich war wie zuvor. Ein paar Wendungen bringen mehr inhaltliche Tiefe als bei manch vergleichbarer Produktion. Die gebürtige Niederländerin Maruschka Detmers bekommt sogar ausreichend Bildschirmzeit, um über ihr Aussehen hinaus Profil zu entwickeln, das kennt man aus dem Actiongenre auch anders. Ihr Filmdebüt hatte sie 1983 immerhin mit der Titelrolle in Jean-Luc Godards „Vorname Carmen“ gegeben. 2008 war sie an der Seite von Tom Schilling in der feinen deutschen Liebeskomödie „Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“ zu sehen.

Zu früh gefreut

In den USA kam „The Shooter“ unter dem Titel „Hidden Assassin“ gleich in die Videotheken, so auch in Deutschland. Die deutschen FSK-16-Veröffentlichungen sind ungeschnitten. Die 2018er-Neuauflage der Blu-ray wurde mit dem Alternativtitel „Der Scharfschütze – Ein Leben für den Tod“ in den Handel gebracht. An Lundgrens beste Werke wie „Red Scorpion“ (1988) und „Men of War“ (1994) kommt „The Shooter – Ein Leben für den Tod“ natürlich nicht heran, aber wenn man – wie ich – dem unverwüstlichen alten Schweden gern zuschaut, macht auch dieser Streifen Freude.

Dane gibt alles

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Ted Kotcheff haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Dolph Lundgren unter Schauspieler.

Und noch mehr

Veröffentlichung: 9. November 2018 und 11. Oktober 2011 als Blu-ray, 30. Juni 2003 als DVD

Länge: 104 Min. (Blu-ray), 100 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: The Shooter
Alternativtitel: Der Scharfschütze – Ein Leben für den Tod
Internationaler Titel: Hidden Assassin
TSCH/GB/F/SP 1995
Regie: Ted Kotcheff
Drehbuch: Meg Thayer, Billy Ray
Besetzung: Dolph Lundgren, Maruschka Detmers, Assumpta Serna, Gavan O’Herlihy, John Ashton, Simón Andreu, Pablo Scola, Petr Drozda, Roslav Walter, Michael Rogers, Pavel Vokoun, Martin Hub, Jana Altmanová, Jiri Kraus, Robert Thomas, Guilio Kukurugya
Zusatzmaterial: Wendecover
Label/Vertrieb Blu-ray: MIG Filmgroup
Label/Vertrieb DVD: KSM GmbH

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshots: © MIG Filmgroup

 

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Atomkraft Forever – Nüchternheit durch Ästhetisierung

Atomkraft Forever

Von Lucas Gröning

Energie-Doku // Seit vielen Jahren tobt eine breite öffentliche Diskussion um die Art und Weise, wie im Angesicht der Klimakrise auf ökologisch verträgliche Weise Energie erzeugt werden kann. Gerade im Westen sind diese Debatten sehr präsent und immer wieder geht es beispielsweise um den richtigen Zeitpunkt des Kohleausstiegs oder die Abschaltung von Atomkraftwerken. Mit letzterem Thema beschäftigt sich Carsten Raus im Jahr 2021 sogar in (wenigen) Kinos gelaufener Dokumentarfilm „Atomkraft Forever“. Dieser unternimmt den Versuch, die Problematik von vielen Seiten zu beleuchten, Faktenwissen zu vermitteln und den Diskurs durch ein Aufzeigen der unterschiedlichen Argumentationsstrukturen anzuregen.

Ein Film ohne Agenda

Carsten Rau schließt damit an jene hervorragenden Arbeiten an, die er in der Vergangenheit, vorrangig fürs Fernsehen, produzierte. Dabei schreckte er nie vor potenziell kontroversen Themen zurück. So beschäftigte er sich in „Willkommen auf Deutsch“ (2014) in kritischer Weise mit der deutschen Migrationspolitik und warf zwei Jahre später in „Deportation Class“ (2016) einen Blick auf die menschenverachtenden Abschiebeprozesse, von denen geflüchtete Menschen in der Bundesrepublik betroffen sind. „Atomkraft Forever“ wurde aber nicht bloß durch Raus Erfahrung mit Dokumentationen und dem sensiblen Umgang mit gesellschaftlich relevanten Themen vorbereitet, er näherte sich in „Strom aus der Wüste – Energie für Europa“ (2012) bereits dem Thema Stromerzeugung an. Der Film erörtert die Chancen und Risiken der Erzeugung von Solarenergie in Nordafrika und im Nahen Osten und es wird gefragt, inwiefern ökologisch bedenkenloser Strom beispielsweise in der Sahara gewonnen werden kann. Gute Voraussetzungen also für eine weitere Arbeit in diese Richtung.

Das stillgelegte Atomkraftwerk Greifswald

Für „Atomkraft Forever“ konzentriert sich der Filmemacher nun vorrangig auf den zentraleuropäischen Umgang mit Atomernergie. Im Fokus steht zunächst Deutschland, genauer das seit 1985 stillgelegte Atomkraftwerk in Greifswald. Der Rückbau des Kraftwerkes ist nach wie vor nicht abgeschlossen und wird sich planmäßig bis ins Jahr 2028 ziehen. Im Zentrum stehen dabei ganz unterschiedliche Themen und Perspektiven. Natürlich wird auf die schädliche Wirkung für die Umwelt genauso wie auf historische Fehlentwicklungen und Unfallpotenziale hingewiesen. Auf der anderen Seite werden ökonomische Problemstellungen aufgezeigt, beispielsweise die drohende Arbeitslosigkeit für Beschäftigte, die nach dem Abschluss des Rückbaus vor einer ungewissen beruflichen Zukunft stehen könnten. Auch gegenüber der Vorstellung eines zügigen Umschwungs auf die Versorgung der Bundesrepublik mit grünem Strom vor dem Hintergund einer bis dato langsam verlaufenden Energiewende, scheint sich der Film pessimistisch zu positionieren. Das Thema ist komplex und die aufgeworfenen Ambivalenzen ziehen sich durch die gesamten knapp 90 Minuten der Dokumentation, wobei das Einflechten aller denkbaren Argumente aus „Atomkraft Forever“ vor allem einen Film ohne klare Agenda macht, der nicht als Plädoyer für oder gegen eine der Parteien verstanden werden will.

Das Kraftwerk und ein Blumenbeet

Zwar lassen sich gewisse emotionale Momente nicht wegdiskutieren, doch überwiegend ist der Film von einer enormen Sachlichkeit geprägt und scheint auf der Suche nach klugen, nicht-ideologischen Lösungen für die aufgezeigte Problematik zu sein. Ins Auge fällt dabei eine enorme Bescheidenheit und ein Wille zum Zuhören von Seiten des Filmteams. Kaum hören wir Einschübe zum Einordnen des Gesagten oder Gezeigten, wie es vor allem auf auditiver Ebene in Form von Voiceovers in vielen Dokumentationen Gang und Gäbe ist. Vielmehr lässt der Film durch eine Aneinanderreihung von Interviewsituationen jene Personen sprechen, deren Lebenssituationen unmittelbar, über eine Zuschreibung im Sinne der Betroffenheit aller hinaus, von den getroffenen Entscheidungen beeinflusst sind, oder aber jene Menschen, die über besondere Expertise zu jenen Themenkomplexen verfügen. Der Film nimmt sich also vor allem zurück und gibt allen relevanten Perspektiven auf die Fragestellungen auch quantitiv genügend Raum zur Entfaltung. Das mag langweilig und naiv wirken, ist vor dem Hintergrund extrem schnelllebiger Zeiten, geprägt von rasch aufkommenden poltischen Kontroversen und dem Erstarken von haltlosen Extrempositionen, vielleicht genau das, was es braucht.

Ein Arbeiter im Strahlenraum

Ästhetisch setzt sich diese Nüchternheit fort. Gezeigt werden außer den Interviewpartnern vor allem Innen- und Außenansichten von Atomkraftwerken sowie Siedlungen, in die jene Kraftwerke eingebettet sind. Rau und sein Team scheinen sich des zur Schau getragenen Technizismus und der kühlen Optik, vor allem der Innenräume, bewusst gewesen zu sein. Diese sind langweilig, eintönig und farblos gestaltet, sodass sich das ästhetische Erleben nachvollziehbarerweise den Funktionen für die Arbeiterinnen und Arbeiter unterordnet. Dennoch suchte das Team nach spannenden Bildmotiven um den Aufnahmen zumindest einen Hauch von Schönheit zu verleihen. Gefunden wurden diese in Form von Perspektiven, durch die die im Bild gezeigten Objekte eine ästhetisch ansprechende Platzierung erfuhren, um etwas zu generieren, was sich dem Begriff „Schauwert“ zumindest annähert. Das zeigt sich sowohl in Innenräumen als auch zum Beispiel im Zeigen eines Kraftwerkes vor dem Hintergrund einer floralen, farbenfrohen Vorstadtidylle. Man könnte nun einwenden, dass die Suche nach der richtigen Perspektive alles andere als Nüchternheit begünstigt und doch eigentlich ein Zeichen für das Verlassen eines intersubjektiv nachvollziehbaren Pfades ist. Jedoch sei der Einwand erlaubt, dass darin auch die Möglichkeit liegt, ein Gegengewicht zur langweiligen Gestaltung der Innenräume zu bieten, die ansonsten wohl größtenteils vom Publikum abgelehnt worden wären. Man könnte also dafür argumentieren, dass es sich hier um eine Maßnahme handelt, einem objektiven Blick auf das Thema deutlich näher zu kommen, als wenn diese Anstrengungen unterlassen worden wären. Gerade vor dem Hintergrund, dass anscheinend in die Bilder selbst nicht eingegriffen wurde, denn allein die Platzierung der Kamera sorgt hier für den Ansatz eines ästhetischen Erlebnisses.

Interessantweise scheint es also gerade eine Ästhetisierung durch die Wahl einer bestimmten Perspektive zu sein, um den Blick auf die Wirklichkeit zu verändern, ohne sie jedoch zu verfälschen. Diese Lehre macht aus „Atomkraft Forever“ einen überaus spannenden Film, der seinem Publikum nicht nur das Thema Atomkraft in umfangreichem Maße näher bringt, sondern durch seine formalen Entscheidungen auch ein Plädoyer gegen die einseitige Herangehensweise an komplexe Fragestellungen generell darstellt. Das macht den Film zu einer überaus gelungenen Dokumentation, die nicht nur dem aufgeworfenen Thema gerecht wird, sondern auch metareflexiv einen Beitrag zu öffentlichen Diskursen im Allgemeinen bietet.

Starke Kontraste

Veröffentlichung: 24. März 2022 als DVD

Länge: 94 Min.
Altersfreigabe: FSK freigegeben ohne Altersbeschränkung
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Atomkraft Forever
D 2020
Regie: Carsten Rau
Drehbuch: Carsten Rau
Zusatzmaterial: Kinotrailer, Featurettes, Wendecover
Label/Vertrieb: Camino Filmverleih

Copyright 2021 by Lucas Gröning

Szenenfotos & Plakat: © 2021 Camino Filmverleih

 

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