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Archiv für den Monat Juni 2022

Das Kommando – Kurz vor James Bond falsch abgebogen

Who Dares Wins

Von Volker Schönenberger

Actionthriller // Die seinerzeit auch in der Bundesrepublik Deutschland sehr populäre englische Krimiserie „Die Profis“ (1977–1983) machte Lewis Collins zum Star. Eine Weile sah es so aus, als könne er nach höheren Weihen streben. Sogar als James Bond war er im Gespräch. Weshalb der Aufstieg zum Topstar nicht geklappt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht verhinderten seine Engagements in billigen Actionstreifen wie „Geheimcode Wildgänse“ (1984) und „Kommando Leopard“ (1985) die große Karriere. Collins starb 2013 im Alter von 67 Jahren nach langer Krebserkrankung.

In „Das Kommando“ spielt er Peter Skellen, Captain der Special Air Service (SAS), einer Spezialeinheit der britischen Armee. Zu Beginn des Actionthrillers zieht eine Demonstration der Friedensbewegung durch London und skandiert ihr Verlangen nach atomarer Abrüstung. Ein Attentäter mit einer Armbrust tötet einen prominenten Aktivisten. Ein großer Anschlag wird befürchtet. Aber wann, wo und auf wen?

Auftritt Captain Skellen, dem auf einem Trainingsgelände der SAS Captain Hagen (Bob Sherman) von den US Army Rangers und Captain Freund (Albert Fortell) von der bundesdeutschen GSG 9 vorgestellt werden, die sich dem Training anschließen wollen. Anderntags schlägt Skellen bei einer Übung in Wales über die Stränge, lässt die beiden ausländischen Gäste fesseln und verprügelt sie. Das führt zu seiner unehrenhaften Entlassung aus der SAS, doch schnell stellt sich heraus, dass Skellens Abgang fingiert war. Er soll sich als verdeckter Ermittler einer Terrorzelle anschließen, die eine große Sache plane. Es gelingt dem glücklich mit Jenny (Rosalind Lloyd) verheirateten Vater einer kleinen Tochter (Briony Elliott), mit Frankie Leith (Judy Davis) Kontakt aufzunehmen, der Führerin der Gruppe. Mit der Terroristin landet er zügig im Bett. Frankies Kumpan Rod Walker (John Duttine) hingegen bleibt misstrauisch. Die Terroristen haben zur Tarnung eine Friedensgruppierung namens „People’s Lobby“ unterwandert. Frankie heuert Skellen als eine Art Sicherheitsberater an. Obwohl er ihr Vertrauen gewinnt, gelingt es ihm nicht, herauszufinden, worin der geplante Terrorakt besteht.

Inspiriert von der Geiselnahme in London 1980

„Who Dares Wins“, zu deutsch „Wer wagt, gewinnt“, lautet nicht nur der Originaltitel von „Das Kommando“, sondern auch das Motto der SAS. Die hatte 1980 mit ihrer Befreiungsaktion der Geiseln in der iranischen Botschaft in London weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Das Ereignis inspirierte den Filmproduzenten Euan Lloyd zu seiner Idee für den Film – er lebte zu dem Zeitpunkt in der Nähe der Botschaft und bekam Geiselnahme und Befreiung als Zaungast mit.

SAS übernimmt die Action gleich selbst

Mitglieder der SAS fungierten als Berater am Set, speziell für den großen Showdown. Als der gedreht werden sollte, boten die Soldaten kurzerhand an, die Action-Parts der SAS-Leute darstellenden Stuntmen selbst zu übernehmen. So geschah es dann auch! Die explosiven Actionsequenzen des Films entsprechen dem gehobenen Niveau des 80er-Actionkinos und sind auch heute noch mit Genuss zu schauen.

Mit den Hollywoodstars Richard Widmark und Robert Webber

Die britisch-schweizerische Koproduktion wartet sogar mit Hollywood-Prominenz auf: Richard Widmark („Zwei ritten zusammen“, „Der Weg nach Westen“) tritt im letzten Drittel als US-Außenminister Arthur Currie in Erscheinung. Ebenso Robert Webber („Das dreckige Dutzend“, „Schlacht um Midway“) als amerikanischer General Ira Potter. Immer wieder gern gesehen ist auch Ingrid Pitt („Agenten sterben einsam“), die sich dank ihrer Mitwirkung in Filmen wie „Comtesse des Grauens“ (1971) und „The Wicker Man“ (1973) speziell unter Horrorfans einen Namen gemacht hat. Hier gibt sie die skrupellose deutsche Terroristin Helga, die Skellen von Anfang an misstraut. Die Figur hätte mehr Bildschirmzeit verdient gehabt.

Ronald Reagan war ganz angetan

„Das Kommando“ hatte einen prominenten Fan: Dem Vernehmen nach ließ sich der damalige US-Präsident Ronald Reagan eine Kopie zukommen und war von dem Film sehr angetan. Das überrascht nicht, transportiert das Werk doch eine ähnlich reaktionäre Haltung, wie sie auch Reagan verkörperte. Danach sei etwa die Friedensbewegung von extremistischen Kräften unterwandert. Die Ideologie der linken Terrorgruppe wirkt alles andere als durchdacht, sie plant eine monströse Tat nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“. Ob dies nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, spielt dabei keine Rolle. Nicht, dass man linksextremistischen Terroristen kein gehöriges Maß an Verblendung zutrauen kann (die Zeitgeschichte der 70er und 80er hat dies hinlänglich bewiesen), aber die Chuzpe dieser Gruppierung ist doch bemerkenswert. Kaum zu glauben auch, dass sie mit ihrem Vorhaben strategisch durchkommt, lässt sich doch sogar die Chefin vom erstbesten, angeblich aus der SAS hinausgeworfenen Charmeur um den Finger wickeln. Die später zweimal für den Oscar nominierte Judy Davis („Reise nach Indien“, „Ehemänner und Ehefrauen“) erweist sich zwar als Glücksgriff in dieser Rolle, da sie politischen Fanatismus und weibliche Leidenschaft gleichermaßen zu verkörpern in der Lage ist und ihr Blick einen in den Bann zieht; gleichwohl müssen wir Zuschauer hinnehmen, dass sie auf Captain Skellen einfach reinfällt.

Englische Blu-ray von Arrow Video

Zur Ehrenrettung von „Das Kommando“ lässt sich anführen, dass ein kleiner Subplot um die Finanzierung der terroristischen Aktivität die Story durchaus differenzierter erscheinen lässt, als es die ansonsten konservative Ausrichtung erwarten lässt. Das große Geld zieht im Hintergrund die Fäden und manipuliert die verblendeten Idealisten – ein fast schon linksrevolutionärer Drehbucheinfall (glücklicherweise lässt der Mann mit dem Geldkoffer keine antisemitische Deutung zu, was auch denkbar wäre). Im Mittelteil wirkt die Dramaturgie nicht immer rund. Zwischendurch geht es etwas dialoglastig zu, aber speziell in der englischen Originaltonspur sind die Gespräche sehr ausgefeilt geraten – das Zuhören in einigen Rededuellen bringt Freude. Da ich lediglich die vorzügliche englische Blu-ray von Arrow Video mein Eigen nenne, auf der die deutsche Synchronisation nicht enthalten ist, kann ich über die deutsche Tonspur keine Aussagen machen.

Etwas fragwürdig erscheint mir die Nonchalance, mit der Captain Skellen den Weg als verdeckter Ermittler über das Bett der Terroristenführerin einschlägt, obwohl er doch glücklich verheiratet ist. Er vermisst seine Frau während seiner Abwesenheit auch so sehr, dass er sie einmal heimlich trifft (übrigens ein Risiko, das er als die Spitzenkraft, als die er charakterisiert wird, nicht eingehen dürfte, Liebe hin oder her). Der Film stellt es als selbstverständlich dar, dass Skellen seine Frau betrügt, wenn auch für einen womöglich hehren Zweck. Er lernt auch nichts aus der doch privat und beruflich mehr als heiklen Situation, die an sich genug Aufhänger bietet, ihn zum Überdenken seines Daseins zu veranlassen. Bin ich hier zu sehr Moralist?

Politisch fragwürdig, aber als Actionthriller top

„Darf man den Film heute nun nicht mehr schauen, weil er politisch nicht korrekt oder zu rechtslastig ist?“ Eine sich an Fragen wie dieser entlanghangelnde Debatte tobt seit einiger Zeit im Filmsektor. Die Antwort lautet: Natürlich darf man „Das Kommando“ schauen, und man darf sogar Spaß dabei haben. Wer sollte es einem auch verbieten? Ich jedenfalls hatte damals wie heute meinen Spaß. Als Teenager in den 80ern fehlte mir das Urteilsvermögen, um die inhaltlich kritikwürdigen Aspekte einzuordnen, aber meine jüngste Sichtung anlässlich dieser Rezension hat mir ebenso Freude gemacht. Nur: Will ich einen Film in seiner Gesamtheit würdigen, so ist es unerlässlich, eben auch solche Aspekte in die Betrachtung einfließen zu lassen. Ebenso legitim ist es, „Das Kommando“ rein als Actionthriller zu goutieren und sich nicht um Kritikpunkte zu scheren.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Ingrid Pitt haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Lewis Collins, Robert Webber und Richard Widmark unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 31. Juli 2020 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & DVD), Blu-ray und DVD, 23. April 2013 als Blu-ray und DVD der Reihe „Cinema Treasures“, 30. Mai 2005 als DVD

Länge: 125 Min. (Blu-ray), 120 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel (nur 2020): Deutsch, Englisch
Originaltitel: Who Dares Wins
US-Titel: The Final Option
CH/GB 1982
Regie: Ian Sharp
Drehbuch: Reginald Rose, nach dem Roman „The Tiptoe Boys“ von James Follett
Besetzung: Lewis Collins, Judy Davis, Richard Widmark, Edward Woodward, Robert Webber, Ingrid Pitt, Tony Doyle, John Duttine, Kenneth Griffith, Rosalind Lloyd, Norman Rodway, Maurice Roëves, Bob Sherman, Albert Fortell, Mark Ryan, Patrick Allen, Briony Elliott
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Produzent Euan Lloyd, Regisseur Ian Sharp und Darstellerin Rosalind Lloyd, Trailer, Trailershow, Wendecover, nur Mediabook: „The Electric Theatre Show“ (10 Min.), „The Last of the Gentleman Producers“ (37 Min.)
Label 2020: Nameless Media
Vertrieb 2020: WVG Medien GmbH
Label/Vertrieb 2013/2005: Ascot Elite Home Entertainment

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Packshot Mediabook: © 2020 Nameless Media, Packshot Blu-ray & DVD: © Ascot Elite Home Entertainment

 

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Die Grausamen – Ein Sarg voller Dollar

I Crudeli

Von Andreas Eckenfels

Western // „Western Unchained“, „Westernhelden“ und „Edition Western Legenden“: In der Vergangenheit hat das deutsche Label Koch Films schon einige Reihen auf DVD beziehungsweise Blu-ray veröffentlicht, die Freunden von Cowboys, Indianern und dem Wilden Westen große Freude bereitet haben. Doch der über viele Jahrzehnte weltweit massig gefüllte Katalog an Westernproduktionen ist offenbar noch lange nicht ausgeschöpft. So haben sich die „Köche“ nun dazu entschlossen, eine neue Reihe zuzubereiten, bei dem der Titel allein schon großen Appetit bereitet: „Western All’arrabbiata“.

Colonel Jonas will sich mit der Niederlage der Südstaaten nicht abfinden

Den Zusatz „All’arrabiata“ kennt man natürlich aus der italienischen Küche, die Speise ist schärfer als üblich gewürzt. Dürfen wir also Italowestern erwarten, die für ordentlich Zündstoff sorgen? Bei der Nummer 1 der Edition, „Die Grausamen“ von „Django“-Regisseur Sergio Corbucci aus dem Jahr 1967, kann man zumindest einen ordentlichen Gewaltgrad konstatieren. Ob das so verallgemeinert werden kann, wird die Zukunft zeigen. Aktuell ist offiziell mit dem Spät-Italowestern „Der Mann aus Virginia“ (1977) mit Giuliano Gemma erst der zweite Titel der Reihe bekannt.

Ein irrer Plan

Wenn die glauben, dass der Krieg schon zu Ende ist, irren die sich gewaltig. Für mich ist er erst vorbei, wenn der Süden wieder frei ist! Nach dem verlorenen Bürgerkrieg hat der ehemalige Konföderierten-Colonel Jonas Morrison (Joseph Cotten) einen irren Plan gefasst: Er will die Niederlage nicht akzeptieren und eine neue Südstaaten-Armee aufbauen. Dafür benötigt er Geld. Gemeinsam mit seinen Söhnen Ben (Julián Mateos), Jeff (Gino Pernice) und Nat (Ángel Aranda) sowie zwei Handlangern (Rafael Vaquero, Álvaro de Luna) überfällt er erfolgreich einen Geldtransport der Unionssoldaten und erbeutet die Kriegskasse. Darin: stolze 1,3 Millionen Dollar in bar! Da sie sich noch in Feindesland befinden, wollen die Männer die Scheine in einem Sarg versteckt mit einer Kutsche in die Heimat transportieren. Um die Tarnung perfekt zu machen, wurde die Prostituierte Kitty (María Martín) als trauernde Witwe engagiert. Die Morrisons spielen den Begleitschutz. Doch Kitty ist dem Alkohol allzu stark zugeneigt – und muss bald ersetzt werden.

Ben findet in einem Saloon mit der resoluten Claire (Norma Bengell) schnell Ersatz. Für die versprochenen 2.000 Dollar im Monat kann sie nicht „Nein“ sagen. Doch Claire lässt sich nicht so einfach zügeln. Sie verabscheut die Gewalt der Morrisons zutiefst, dennoch spielt sie ihre Rolle gut. Ein weiter Weg liegt vor dem Gespann, bei dem jede Begegnung mit den verhassten Nordstaatlern ihre Tarnung auffliegen lassen könnte. Banditen und Indianer lauern zudem in der Gegend an jeder staubigen Ecke. Ein Kopfgeld in Höhe von 10.000 Dollar ist bereits auf die Mörder der Unionssoldaten ausgesetzt.

Ein namhafter Fan

Viel mehr Ehre kann einem Film außerhalb der großen Preisverleihungen oder dem Erfolg an den Kinokassen kaum zuteilwerden: Im Jahr 1997 wurde „Die Grausamen“ als einer von 29 Filmen für das erste „Quentin Tarantino Film Festival“ in Austin, Texas von dem Kultregisseur höchstpersönlich ausgewählt. Tarantino führte dem Publikum des Festivals bis 2007 seine Lieblingsfilme vor. Dabei stammten die Kinokopien aus seinem Privatbesitz.

Es ist kein Geheimnis, dass Tarantino von den Filmen von Sergio Corbucci (1926–1990) maßgeblich geprägt wurde. Besonders „Django“ (1966) und „Leichen pflastern seinen Weg“ (1968) zitierte er in seinen eigenen Western „Django Unchained“ (2012) und „The Hateful Eight“ (2015) fleißig.

Recycling mit internationaler Besetzung

„The Hellbenders“, so der US-Titel, ist einer von vier Western, die Sergio Corbucci zwischen seinen zwei oben genannten Klassikern inszenierte. Die Morrisons – der Familienname wurde offenbar nur in der deutschen Synchronfassung hinzugefügt – gehen äußerst skrupellos zu Werke. Beim Überfall werden die Unionssoldaten reihenweise niedergemäht und sicherheitshalber wird den Verletzten noch der Todesschuss hinterhergeschickt. Ein echtes Massaker! Dazu werden nach getaner Arbeit auch die Handlanger eiskalt erschossen. Sie seien nur auf das Geld scharf gewesen, äußert Vater Morrison nüchtern. Sie hätten nicht das größere Ziel vor Augen gehabt. Später schrecken sie auch nicht davor zurück, hilflose Menschen zu ermorden.

Ben (r.) sucht im Saloon nach einer geeigneten Nachfolgerin für Kitty

Joseph Cotten hatte eine ähnliche Rolle wie die des patriotischen Südstaatlers, der die Regierung stürzen und einen neuen Bürgerkrieg provozieren will, bereits im Italowestern „Die Trampler“ (1965) dargestellt, der auf dem Roman „Guns of North Texas“ von Will Cook basiert. Damals an Regie und Drehbuch beteiligt: Albert Band. Der Vater von „Full Moon“-Gründer Charles Band recycelte wohl auch einige Ideen aus Cooks Werk für „Die Grausamen“, bei dem er ebenfalls am Drehbuch mitschrieb und als Produzent tätig war.

Den Ruhm, den sich Joseph Cotten unter anderem durch sein Mitwirken in „Citizen Kane“ (1941) und „Der dritte Mann“ (1949) erarbeitet hatte, war Mitte der 1960er-Jahre schon langsam verblasst. Wie andere ehemalige Hollywood-Stars in dieser Zeit, verdingte er sich mit Filmproduktionen in Europa. Später drehte Cotten weitere Male in Italien, darunter „Gangster sterben zweimal“ (1968) und Mario Bavas „Baron Blood“ (1972). Sein Morrison ist ein von Hass zerfressener, ruchloser Patriot der übelsten Sorte. Nicht mal für seine Söhne scheint er Liebe zu empfinden, nur sein Land trägt er im Herzen. Eine eiskalte Performance von Joseph Cotten.

Auch die weitere Besetzung war international ausgerichtet. Ben, der einzig halbwegs sympathische und sensible unter den Brüdern (weil er eine andere Mutter hatte, wie sein Vater einmal abfällig betont), wird vom Spanier Julián Mateos verkörpert, der seinen wohl bekanntesten Auftritt an der Seite von Yul Brynner und Robert Fuller in „Die Rückkehr der glorreichen Sieben“ (1966) hatte. Den Italiener Gino Pernice besetzte Corbucci bereits in „Django“. Der Spanier Ángel Aranda und die Brasilianerin Norma Bengell spielten ein Jahr zuvor gemeinsam in Mario Bavas „Planet der Vampire“ (1965). Schade, dass gerade Bengells clevere Figur Claire, die sich verbal, aber nicht physisch gegen die Morrisons behaupten kann, im Finale mehr oder weniger aufgrund einer Erkältung, die sie sich in einer regnerischen Nacht eingefangen hat, einfach aus dem Spiel genommen wird.

Die Filmmusik, in der in einigen Passagen Nunzio Rotondo solo die Trompete bläst, wurde von keinem Geringeren als Ennio Morricone komponiert, der allerdings in den Credits mit dem Pseudonym Leo Nichols verewigt ist.

Gefährliche Reise mit vielen Überraschungen

Wieder einmal wird in einem Werk von Sergio Corbucci die Handlung durch einen geheimnisvollen Sarg vorangetrieben, der sich im Schlepptau der Protagonisten befindet. Franco Nero offenbart als „Django“ erst spät den Inhalt des Holzkastens, den er hinter sich herzieht. „Die Grausamen“ erhält seine Spannung wiederum dadurch, dass der Inhalt des Sargs dem Zuschauer eigentlich bekannt ist, von außenstehenden Figuren aber immer wieder hinterfragt wird. Die Morrisons laufen also stets Gefahr, aufzufliegen.

Der Sheriff macht Jonas und seinen Söhnen das Leben schwer

Wie es ihnen gelingt, auf ihrer Reise von Texas über New Mexico bis jenseits des Hondo Rivers immer wieder in letzter Sekunde den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, ist äußerst abwechslungsreich inszeniert. Das Drehbuch hat immer wieder neue Überraschungen auf Lager, um der mörderischen Familie Hindernisse in den Weg zu stellen. Und man fiebert mit ihnen mit, obwohl alle Familienmitglieder verachtenswert sind – mit der erwähnten Ausnahme des Sohns Ben, der sich zum Beschützer von Claire entwickelt.

Dieser Zwiespalt, dem die Zuschauerinnen und Zuschauer hier ausgesetzt sind, macht den Reiz von „Die Grausamen“ aus. Gleichzeitig wird auch gezeigt, zu welchem Wahn übertriebener Patriotismus führen kann. Kein weiterer Klassiker von Sergio Corbucci, dennoch ein kleiner, sehenswerter Italowestern, bei dem sich auch diejenigen bestens unterhalten fühlen werden, die dem Genre nicht unbedingt zugetan sind.

Quadratisch, praktisch, gut?

Koch Films hat uns leider nur die blanke Screener-Disc zur Rezension zur Verfügung gestellt. Gerade die Aufmachung der neuen „Western All’arrabbiata“-Reihe hat mich brennend interessiert. Deshalb habe ich mir die Edition, die exklusiv im labeleigenen Online-Shop verkauft wird, kurzerhand bestellt.

Die Hardcover-Box ist überraschend klein geraten. Das quadratische Format hat etwa die Größe einer CD-Hülle, ist nur etwas dicker. Wenn man den Deckel der Schachtel abnimmt, befindet sich darin ein gefaltetes Miniposter mit einem Plakatmotiv samt italienischem Titel, ein ebenfalls quadratisches Digipack mit der Blu-ray und DVD als auch ein 20-seitiges Booklet. Darin befinden sich lesenswerte Texte von unseren geschätzten Kollegen Marco Koch, seines Zeichens stellvertretender Chefredakteur von „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ und selbst Blogger auf Filmforum Bremen, sowie von „Die Nacht der lebenden Texte“-Autor Lars Johansen, der ebenfalls unter anderem als Redakteur beim „35 Millimeter“-Magazin tätig ist. Beiden Texten merkt man an, dass die Autoren über reichlich Fachwissen verfügen, wodurch diese Edition bereichert wird.

Claire will Ben auf ihre Seite ziehen

Koch Films gelang es auch, den Audiokommentar von Alex Cox zu lizenzieren, der auf der US-Veröffentlichung von Kino Lorber zu finden ist. Ein weiterer, englischsprachiger Kommentar – von Troy Howarth – wurde ebenfalls wie das Interview mit dem damaligen Regieassistenten und späteren Kultregisseur Ruggero Deodato („Nackt und zerfleischt“, „Das Concorde Inferno“) offenbar neu aufgenommen. Das HD-Bild überzeugt zum Großteil, die deutsche Synchronisation wechselt nur in wenigen kurzen Szenen in die Originaltonspur mit Untertiteln. Die Audiokommentare sind leider beide nicht untertitelt.

Das ungewöhnliche Format der „Western All’arrabbiata“-Reihe gefällt mir gut – gerade Leute wie ich, die kaum noch Platz in den Filmregalen haben, dürften hier aufatmen. Die Schachteln passen in fast jede Lücke. Weitere Boxen kann man gut stapeln oder wie üblich Spine-an-Spine nebeneinanderstellen. Ich bin gespannt, welche weiteren Italowesterntitel die Köche uns bald innerhalb der neuen Edition noch servieren werden!

Die Titel der „Western All’arrabbiata“ von Koch Films haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgeführt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sergio Corbucci haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Joseph Cotten unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 5. Mai 2022 als 2-Disc Edition Digipack (Blu-ray & DVD) in einer quadratischen Hardcover-Box (exklusiv erhältlich im Koch Films Online-Shop)

Länge: 92 Min. (Blu-ray), 88 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: I Crudeli
US-Titel: The Hellbenders
IT/SP 1967
Regie: Sergio Corbucci
Drehbuch: Albert Band, Ugo Liberatore, Jose G. Maesso
Besetzung: Joseph Cotten, Norma Bengell, Julián Mateos, Gino Pernice, Ángel Aranda, Claudio Gora, María Martín, Ennio Girolami
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Filmhistoriker Troy Howarth, Audiokommentar von Filmemacher Alex Cox, Interview Filmemacher Ruggero Deodato (22:27 Min.), Super-8-Fassung (18:25 Min.), Deutscher Vorspann (2:34 Min.), Italienischer Vorspann (2:36 Min.), Bildergalerie, italienischer und englischer Trailer, 20-seitiges Booklet mit Texten von Marco Koch und Lars Johansen, Miniposter
Label/Vertrieb: Koch Films

Copyright 2022 by Andreas Eckenfels

Szenenfotos & untere Packshots: © 2022 Koch Films

 
 

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Fall 39 – Wenn Jugendarbeit zum Horror wird

Case 39

Von Volker Schönenberger

Horrorthriller // 38 aktuelle Fälle sind für die Sozialarbeiterin Emily Jenkins (Renée Zellweger) vom Child Services Oregon an sich mehr als genug. Ihr Boss Wayne (Adrian Lester) drückt ihr dennoch einen weiteren aufs Auge: Die zehnjährige Lillith „Lily“ Sullivan (Jodelle Ferland) hat Probleme in der Schule und weist Zeichen von Vernachlässigung auf, schläft täglich im Unterricht ein. Schon das erste Treffen mit der Familie verläuft sonderbar: Dass sich die Eltern Margaret und Edward Sullivan (Kerry O’Malley, Callum Keith Rennie) abweisend verhalten, erscheint noch erwartbar, nicht jedoch, dass sich Edward weigert, ein Wort mit Emily zu wechseln. Stattdessen flüstert er seiner Frau ins Ohr, was er der Sozialarbeiterin zu sagen hat.

Ein verängstigtes Kind

Während eines Besuchs der Sulivans bei Child Services gelingt es Emily, unter vier Augen ein paar Worte mit dem Mädchen zu wechseln. Lily verrät ihr, ihre Eltern belauscht und dabei gehört zu haben, sie würden sie in die Hölle schicken wollen. Da die Kleine keine äußerlichen Zeichen von Gewalt aufweist, sieht Wayne keinen Anlass, den Fall weiter zu verfolgen. Doch eines Abends erhält Emily einen Anruf der total verängstigt klingenden Lily. In Begleitung von Detective Mike Barron (Ian McShane, „John Wick“-Reihe) dringt sie ins Haus der Sullivans ein …

Die Sullivans – nur eine weitere dysfunktionale Familie?

Die während der Dreharbeiten im Herbst 2006 ihren zwölften Geburtstag feiernde Jodelle Ferland („Silent Hill – Willkommen in der Hölle“) macht ihre Sache ganz hervorragend. Eine ganze Weile schließt man Lily sehr ins Herz – bis sie bei einem Gespräch mit Emilys Kollege Doug (Bradley Cooper) zum ersten Mal ein wenig die Fassade fallen lässt. Recht zügig ahnt das horroraffine Publikum, welche Richtung „Fall 39“ einschlagen wird. Doch da die Dimension eine Weile ein paar Hinweisen zum Trotz verborgen bleibt, bleibt das Geschehen fesselnd genug, während es auf das Unausweichliche zusteuert.

Bradley Cooper und Renée Zellweger

Bradley Cooper („American Sniper“) war zum Zeitpunkt der Produktion erst etwa sieben Jahre als Filmschauspieler aktiv und noch lange nicht der Superstar, der er heute ist. Sein Part ist nicht allzu groß, aber denkwürdig. Auch an der zweifachen Oscar-Preisträgerin Renée Zellweger („Unterwegs nach Cold Mountain“, „Judy“) ist nichts auszusetzen, sie überzeugt als völlig normale Frau, in deren Leben etwas Unbegreifliches, Beängstigendes Einzug hält.

Emily nimmt die kleine Liliy unter ihre Fittiche

„Fall 39“ stellt die bislang einzige Hollywood-Regiearbeit des deutschen Regisseurs Christian Alvart dar, der 2005 mit seinem zweiten Film „Antikörper“ auf sich aufmerksam machte. Ab 2011 inszenierte er zwei Kieler „Tatort“-Folgen mit Axel Milberg und die ersten vier Hamburg „Tatort“-Folgen mit Til Schweiger sowie dessen Kinoflop „Tschiller – Off Duty“ (2016). Zu seinen weiteren deutschen Kinoarbeiten zählen „Steig. Nicht. Aus!“ (2018) und die Sebastian-Fitzek-Verfilmung „Abgeschnitten“ (2018).

Mainstream-Horror in bekannten Bahnen

Zu einem großen Wurf reicht es für „Fall 39“ nicht, dafür bleibt der Horrorthriller etwas zu vorhersehbar und dem Mainstream verhaftet. Doch auch wenn man schnell erkennt, wo die Reise hingeht, unterhält der Blick darauf, wie sie verläuft. Einen Pluspunkt gibt es auch für ein Gefühl der Ausweglosigkeit, das sich in puncto Emily nach und nach einstellt. Ob der Film für die Sozialarbeiterin ein positives Ende nimmt oder nicht, lässt sich immerhin nicht erraten. Beides erscheint im Verlauf gleich wahrscheinlich, und so überrascht es auch nicht, dass ein alternatives Finale existiert, das sich im Bonusmaterial der DVD findet. Es sind recht viele entfernte oder alternative Szenen, die Alvart abgedreht hat. Wollte er sich diverse Möglichkeiten offen halten oder war er bei seinem Hollywooddebüt etwas unsicher?

Viel früher beim Fantasy Filmfest als in den USA

Während „Fall 39“ kurz nach seiner Weltpremiere in Neuseeland (!) im August 2009 bereits beim deutschen Fantasy Filmfest lief und kurze Zeit später weltweit in vielen Ländern in die Kinos kam, geschah dies in den Produktionsländern USA und Kanada erst ein Jahr später – sogar satte vier Jahre nach Ende der Dreharbeiten. Die Ursachen dieser Verzögerung entziehen sich meiner Kenntnis. Mit einem weltweiten Einspielergebnis von 28 Millionen Dollar übertraf der Film seine Kosten nur um zwei Millionen. Das und die eher negativen Kritiken mögen der Grund sein, dass die Hollywoodkarriere von Christian Alvart schneller vorbei war, als sie begonnen hat. So schlecht ist „Fall 39“ aber nun auch wieder nicht. Kein Pflichtprogramm für die Horrorsammlung, aber passabler Grusel für ein Publikum, das sich ängstigen will, ohne verstört zu werden.

Die Sozialarbeiterin in Angst

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Christian Alvart haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Renée Zellweger unter Schauspielerinnen, Filme mit Bradley Cooper, Ian McShane und Callum Keith Rennie in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 30. März 2012 als DVD in der Mystery-Edition (mit „Der Fluch der 2 Schwestern“ und „Cloverfield“), 29. Juli 2010 als Blu-ray und DVD

Länge: 109 Min. (Blu-ray), 105 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen Blu-ray: Deutsch, Englisch Französisch, Spanisch, Italienisch, Audiodeskription für Sehbehinderte
Sprachfassungen DVD: Deutsch, Englisch Türkisch
Untertitel Blu-ray: Deutsch, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte, Französisch, Spanisch, Italienisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Finnisch, Niederländisch
Untertitel DVD: Deutsch, Englisch, Türkisch
Originaltitel: Case 39
USA/KAN 2009
Regie: Christian Alvart
Drehbuch: Ray Wright
Besetzung: Renée Zellweger, Ian McShane, Jodelle Ferland, Bradley Cooper, Callum Keith Rennie, Adrian Lester, Kerry O’Malley, Cynthia Stevenson, Alexander Conti, Philip Cabrita, Vanesa Tomasino, Mary Black
Zusatzmaterial: „Die böse Akte – Der Hintergrund von Case 39“ (8:07 Min.), „Unerträgliche Spannung“ (4:24 Min.), „Im Wespennest“ (3:02 Min.), „Spiel mit dem Feuer“ (4:26 Min.), 18 entfernte Szenen inkl. alternatives Ende (30:08 Min.), Trailer zu „Die Legende von Aang“
Label: Paramount Pictures
Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2010 Paramount Pictures / Universal Pictures Germany GmbH

 

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