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Archiv für den Monat Dezember 2022

Quentin Tarantino: Cinema Speculation – Hervorragende Kinozeitreise (Buchrezension)

Cinema Speculation

Von Tonio Klein

Film-Sachbuch // Ein Lesevergnügen, und ein gleichsam erhellendes wie leidenschaftlich mitreißendes; diese Kombination muss man erst einmal hinbekommen. Zwar wird es auch ein wenig Mäkeleien geben, aber das ist unerheblich: zu einem beträchtlichen Teil Lektorat, Übersetzung und verlegerischer Aufmachung geschuldet, und was dem Autor anzulasten ist: Perfektion muss nicht sein. Ich gehe so weit zu sagen, dass Tarantino hier endlich seine Form gefunden hat. Sein Hang zur Geschwätzigkeit stört in so manchem seiner Filme und auch in seiner – gleichwohl nicht missratenen – Romanfassung von „Once Upon a Time in Hollywood“ (2019), hierzulande unter dem Titel „Es war einmal in Hollywood“ (2021) erschienen. Über das Kino vornehmlich der 1970er-Jahre aber hat er viel zu sagen statt zu schwätzen. Der Schuster bleibt nicht bei, sondern kommt zu seinem Leisten.

Persönliches und Kino-Popkulturelles

Natürlich ist so manches über Tarantinos Entwicklung bereits bekannt, zumal der in Selbstvermarktung sehr Geschickte sich schon oft erklärt hat und auch seine Filme (inklusive derer, bei denen ein anderer sein Drehbuch verfilmte) manches (über-)erklären. Aber alles noch einmal in gleichsam komprimierter und überbordender Form zu lesen, ist ein Genuss sowie ein Abtauchen in eine vergangene Zeit und eine für mich ferne Stadt: Los Angeles. Dort bekam Quentin in sehr zartem Alter Filme zu sehen, die man gemeinhin wesentlich größeren oder ganz großen Kindern zeigt, und mit spätestens zehn Jahren war er ein Nerd, aber auch Experte für das Kino. Was sich natürlich, aber dafür können eher die USA statt er etwas, zunächst auf das US-Kino und vielleicht noch asiatische Kampfkunstfilme unter Ausblendung des europäischen Kinos bezog. Zudem lag, bis heute prägend, sein Schwerpunkt auf B-Filmen mit nicht selten hohem Gewaltanteil. Die kapitelweise abgehandelten Filme spiegeln dies wider, enthalten aber auch zahlreiche moderne Klassiker, weswegen sie hier genannt seien (R = Regie, D = Darsteller/in):

– „Bullitt“ (1968, R: Peter Yates, D: Steve McQueen)
– „Dirty Harry“ (1971, R: Don Siegel, D: Clint Eastwood)
– „Beim Sterben ist jeder der Erste“ („Deliverance“, 1972, R: John Boorman, D: Burt Reynolds)
– „Getaway“ (1972, R: Sam Peckinpah, D: Steve McQueen)
– „Revolte in der Unterwelt“ („The Outfit“, 1973, R: John Flynn, D: Robert Duvall)
– „Die Schwestern des Bösen“ („Sisters“, 1972, R: Brian De Palma, D: Margot Kidder)
– „Daisy Miller“ (1974, R: Peter Bogdanovich, D: Cybill Shepherd)
– „Taxi Driver“ (1976, R: Martin Scorsese, D: Robert De Niro)
– „Der Mann mit der Stahlkralle“ („Rolling Thunder“, 1977, R: John Flynn, D: William Devane)
– „Vorhof zum Paradies“ („Paradise Alley“, 1978, R/D: Sylvester Stallone)
– „Flucht von Alcatraz“ („Escape From Alcatraz“, 1979, R: Don Siegel, D: Clint Eastwood)
– „Hardcore“ (1979, R: Paul Schrader, D: George C. Scott)
– „Das Kabinett des Schreckens“ („Funhouse“, 1981, R: Tobe Hooper, D: Elizabeth Berridge)

In der Besprechung dieser dreizehn Filme erschöpft sich das Buch aber bei Weitem nicht. Nicht nur handelt es sich um Filme, die ihrerseits an weit ältere Klassiker anknüpfen. Auch ist beeindruckend, was Tarantino am Rande alles noch mehr als mitnimmt. Zudem existieren weitere Kapitel, die nicht einem speziellen Werk gewidmet sind. Einleitend „Der kleine Q guckt die großen Filme“ (manchmal eher Filme für Große statt großer Filme). Hier, aber auch quer durchs Buch ist ersichtlich: Tarantino ist nicht nur Filmfreak. Er ist Kinofreak. Und das ist etwas ganz anderes! So dankbar ich bin, wie viel heute im Heimkino verfügbar ist, tauchen wir doch ein in eine ganz andere Welt: fantastische Seherlebnisse und wie/wo sie zu finden waren. Auf der Suche nach der verlorenen Kinozeit, als es einerseits Riesensäle, andererseits Nischenkinos gab. Als das Publikum johlte, sich kaputtlachte oder einen Film wüst ausbuhte. Als sich Klein Quentin unter lauter Schwarzen Blaxploitation ansah. Als der neueste Kinofilm statt die neueste Netflixserie Schulhofgespräch war. Und als der kleine Q jede Menge so schräge wie anscheinend im Herzen (zumindest im Kinoherzen) gute Erwachsene in Haus und Kinosaal kennenlernen durfte. Einem von ihnen, Floyd (mit vollem Namen Floyd Ray Wilson), widmet er das Schlusskapitel, ein offenbar liebenswerter, aber unzuverlässiger Schwarzer, der ein unverfilmtes Drehbuch um einen ultracoolen schwarzen Westerner hinterlassen hat, mit dem Tarantinos „Django Unchained“ (2012) aber nichts zu tun habe. Da der Autor es nicht mehr nötig hat, sein Kino sich sowieso meist nur um Kino/Tarantino dreht und er in dem Buch erfreulich selten Bezug auf sein filmisches Werk nimmt, sei ihm geglaubt. Ebenfalls zeithistorisch hochinteressant, wenn auch weniger persönlich geprägt, ist ein Kapitel über in den USA tonangebende Filmkritiker, mit einer besonderen Hommage an Kevin Thomas. Aber auch die notorische Pauline Kael kommt zu Recht oft vor – bei ihrem berüchtigten Dirty-Harry-Verriss nicht verwunderlich.

Mäanderndes und Analytisches

In den nicht speziell auf einen Film bezogenen Kapiteln liegt es in der Natur der Sache und des Lebens Tarantinos, dass es von Filmen und Namen nur so wimmelt. Das ganze Namedropping, im Roman „Es war einmal in Hollywood“ so zäh und angeberisch zugleich – es kann in diesem Buch kaum genug sein! Tarantino gelingt es, mit flotter Schreibfeder leicht verständlich nicht nur Begeisterung zu wecken, sondern auch Zusammenhänge herauszustellen. So weitschweifig alles ist, fügen sich die Mosaiksteinchen doch zu einem kohärenten Ganzen zusammen. Beispielsweise gibt es nicht nur „New Hollywood“, meist in den Jahren 1967 bis 1976 verortet. Sondern innerhalb dessen eine Entwicklung, halb Weiterführung, halb Bruch. Im Kapitel „New Hollywood in den Siebzigern. Die Anti-Establishment-Autorenfilmer der Nachsechziger-Generation gegen die Movie Brats“ etwa heißt es: „Und von 1970 an war dieses neue Hollywood einfach nur Hollywood.“ Die alte Garde hatte ausgedient, ihre Filme waren „Totgeburten“, einzig William Wylers „Die Glut der Gewalt“ (1970) lässt Tarantino gelten (was mich als Wyler-Fan freut). Die Neulinge wollten nicht einfach den Klassikern ihre Reverenz erweisen, sondern sie gegen den Strich bürsten, wie zum Beispiel Arthur Penn mit „Little Big Man“ (1970). Wenig später begannen aber Jungspunde, die Movie Brats, ihre Karrieren, die dem Alten eben doch huldigten, wenngleich in neuem Gewand. Von diesen sind George Lucas und Steven Spielberg bis heute Repräsentanten einer damals neuen Art des Blockbusterkinos, Martin Scorsese der immer auch roh gebliebene größte Filmnerd neben Tarantino, Francis Ford Coppola der Opulente, aber auch Unstete, der ausführlich gewürdigte Paul Schrader vielleicht als Autor besser denn als Regisseur seiner Drehbücher. Und der ebenfalls ausführlich gewürdigte Brian De Palma ist der große eklektizistische Stilist, der übrigens, so erfahren wir, den großen eklektizistischen Dialogfilmer Tarantino und dessen „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“ (1992) mag. Dass Tarantino das nicht erwartet hatte, ist einer von vielen Belegen dafür, dass er De Palma genau verstanden hat, und ein besonders schönes wie gelungenes Kapitel ist das, welches wie das Buch heißt: „Cinema Speculation“: Brian De Palma war, wie Tarantino nachweist, dicht an der Regie von „Taxi Driver“ dran. Wie nun hätte der Film in den Händen De Palmas ausgesehen? Großer Tango, Zeitlupenballett und ein geringerer Fokus auf den schauspielerischen Leistungen – das überzeugt, wenn man sich De Palmas Werk ansieht. Bezeichnenderweise macht Tarantino hier auch eine der wenigen Ausnahmen von der Regel, auf sein eigenes Werk nicht einzugehen: Natürlich sei die Split-Screen-Krankenhaussequenz in „Kill Bill, Vol. 1“ (2003) zu der Musik von Bernard Herrmann (zwei De-Palma-Soundtracks der 1970er) seine Hommage an De Palma. Genau richtig platziert!

Gelegentlich scheint es des Aus- und Abschweifenden ein wenig zu viel, wovon die Würdigung von Don Siegels Montagen ab Ende der 1930er und seiner Langfilme ab 1946 ausdrücklich ausgenommen sei – das braucht man zum Verständnis seiner Werke der 1970er sowie des Kinohandwerks allgemein. Ansonsten: Die filmbezogenen Kapitel brauchen oft eine gefühlte Ewigkeit, um zum Hauptfilm vorzustoßen. Im Nachhinein hat man aber auch das Drumherum mit großem Gewinn gelesen; übrigens selbst dann, wenn man völlig anderer Ansicht als Tarantino ist. Beispielsweise kann ich mit der sehr forciert ausgestellten Schlichtheit eines Rocky Balboa (Sylvester Stallone) wenig anfangen. Du liebe Zeit, beinahe anti-intellektuell ist das; zudem ist die Verachtung „des Establishments“ in rechtspopulistischen Zeiten schlecht gealtert. Das Lob der gradlinigen, knochenehrlichen Dummheit, die mit viel „Glaub an dich selbst und du schaffst es“-Optimismus ihren Weg geht, ist mir nur schwer erträglich. Tarantino sieht dies völlig anders, wobei klargestellt sei, dass wir hier nur über die ersten beiden Teile reden; danach wird’s zum Spektakel (also für Tarantino schwächer, für mich besser). Der Autor schafft es zwar nicht, mich zu überzeugen, aber mir seine Sichtweise einfühlsam näherzubringen. Sicher, wer über Stallones „Vorhof zum Paradies“ schreibt, kann bezüglich der Zeit und der Entwicklung Stallones „Rocky“ nicht außer Acht lassen. Gut, er kann schon, schriebe dann aber einen schwächeren Text. Man sieht an den „Rocky“-Ausführungen zudem, wie präzise Tarantino verschiedene Facetten eines Filmes begreift, selbst wenn man seinem Fazit nicht zustimmen muss: „Mochte man den Film ,Rocky‘, fand man den ersten Film wahrscheinlich besser. Aber liebte man die Figur des Rocky, fand man auf jeden Fall den zweiten besser.“ Und das ist lange nicht alles im Kapitel über „Vorhof zum Paradies“, das bis in die 1930er und berühmte Film-Jugendbanden zurückreicht. Hier nun behaupte ich, mich halbwegs auszukennen, vor allem bei dem Regisseur William Wyler, durch dessen „Sackgasse“ („Dead End“, 1937) die dann „Dead End Kids“ genannte Clique erstmals auftrat. Deren Entwicklung hat Tarantino so wunderbar wie kenntnisreich beschrieben. Auch die durch Spaltung entstandenen East Side Kids würdigt er, deren Poverty-Row-Filme gewisse Parallelen zu „Vorhof zum Paradies“ erkennen lassen. Übrigens, Warnung: Am ehesten ist von ihnen noch „Ghosts on the Loose“ (1943) zu ergattern, weil dort die wenig später berühmte Ava Gardner ein bisschen mitspielt, aber diesen bezeichnet Tarantino zu Recht als „Tiefpunkt“.

Meinungsstark, aber nicht despektierlich

Wer erwartet, dass Tarantino wie ein Berserker das eine in den Himmel hebt und das andere metzelblutig niederstreckt, wie es Killer/innen in seinen Filmen tun, wird enttäuscht. Beispielsweise geht er recht freundlich mit der Kritikerin Pauline Kael um, was gerade bei ihrer vernichtenden Haltung gegenüber Clint Eastwood nicht selbstverständlich ist. Über eine andere Meinung sollte man sich nur echauffieren, wenn derjenige, welcher sie äußert, keine Ahnung hat und/oder unfair ist. Und dies ist nicht der Fall. Bei jedem Leser wird das Verhältnis zwischen „Endlich sagt’s mal einer“ und „Wie kann er nur?“ ein anderes sein. So hat mir beispielsweise ausgesprochen gut gefallen, dass Tarantino auch das Frühwerk Brian De Palmas (leider ohne „Murder à la Mod“ von 1968) würdigt und „Hi, Mom!“ (1970) viel lieber als den angeseheneren Quasi-Vorgänger „Greetings“ (1968) mag. Gut, das mag mit meiner Eitelkeit zu tun haben; da trifft er – natürlich ohne ihn zu kennen – recht genau meinen Artikel in 70 Millimeter, Heft 3. Gut auch, wie er am Lack von Don Siegels „Telefon“ (1977) kratzt: langweilig und überkonstruiert, alle 20 Filmminuten wird ein Schläfer aufgeweckt und verübt einen Anschlag, statt dass der Mastermind einfach alle zugleich losschickt. Auch wer dies anders sieht, muss aber erkennen, warum es im Kapitel über „Flucht von Alcatraz“ auftaucht: Siegel schien auf dem absteigenden Ast, ein Hit und ein künstlerisches Comeback musste her, und der Knastfilm mit Clint Eastwood war es.

Auf der anderen Seite mag es manche geben, die sich an Tarantinos harschen Worten über ein paar französische Regisseure stören. Claude Chabrol hält er nicht für komplett unfähig, aber für eher langweilig, und besonders hart trifft es einen Einzelfilm, François Truffauts „Die Braut trug schwarz“ (1968). Diesen halte ich für hervorragend, kann aber mit Tarantinos Abrechnung mehr als gut leben, da er verdeutlicht, um welchen Kontext es ihm geht. „Cinema First – Camera First“; so nennt er Alfred Hitchcocks Stil, der nicht nach Unsichtbarmachung, sondern Sichtbarmachung der Kamera gestrebt habe. Das kann man in Teilen zwar auch bestreiten, und vor allem hatte Hitchcock Truffaut erzählt, in seinen späteren Filmen stärker zur unsichtbaren Kamera gestrebt zu haben. Gleichwohl sind bei Hitchcock viele und nie selbstzweckhafte Kamera-Manierismen zu erkennen, und bei seinem Epigonen Brian De Palma noch mehr (die Passage findet sich eingangs des Kapitels über „Die Schwestern des Bösen“). Zudem muss man es nicht mögen, aber ich finde die Haltung, dass Kino auch mal dezidiert filmisch sein darf, sympathisch. Gegenbeispiel ist Howard Hawks, der sich gegenüber Peter Bogdanovich brüstete, die Kamera immer auf Augenhöhe zu haben, also bewusst eine uninteressante Fotografie zu wählen. Dass Tarantino den Unterschied genau verstanden hat, zeigt sich hier: „Ich bin mir sicher, dass Brian sich auf dem College auch ,Rio Bravo‘ ansah. Aber … er [hatte] wahrscheinlich keinen Spaß daran. … ich bin mir sicher, dass De Palma … dachte, dass Howard Hawks nur jede Menge Material dafür verbraucht hatte, John Wayne dabei zu filmen, wie er sich … unterhielt.“ Und dann kommt da so ein François Truffaut daher, um einen Hitchcockfilm in gemächlichem Tempo ganz ohne Hitchcockstil zu drehen. Man muss sich Tarantinos Ansicht nicht anschließen, kann aber verstehen, warum er diesen Ansatz für grundfalsch halten, ihn geradezu als antifilmischen Verrat sehen muss.

Immer noch ein Suchender?

Das überbordende Werk ist kaum angemessen zu rezensieren. Gegen Ende finden sich vielleicht etwas zu viele Rachefilme, wobei ich Tarantinos Begriff „revengeamatics“ nicht entschlüsseln konnte, den man im Netz fast nur in Verbindung mit seinem Buch findet. Eine ganz wichtige Verbindungslinie zu einem Klassiker der 1950er, ein für den Autor und viele Filmemacher ungemein wichtiger Film, sei aber genannt, der zu Recht immer wieder auch im Buch vorkommt: „Der schwarze Falke“ (1956) von John Ford mit John Wayne, im Original „The Searchers“. Hier wird die Wayne-Figur aus Rache zum Indianerhasser (beziehungsweise der Hass wird noch verstärkt), aber letztlich muss sie ein Verlorener und am Ende wohl der titelgebende Suchende bleiben. Viele der im Einzelnen gewürdigten Filme der 1970er werden den „Searcher“ einfach nicht los, ob sie ihn neu erzählen, variieren oder gar umkehren. Ein weiterer Beleg, dass Tarantino sich in der Filmgeschichte auskennt, aber dies in seinem Buch nie Protzerei ist. Vielleicht ist er selbst ja auch noch ein Suchender, was nicht das Schlechteste wäre. Gefunden hat er jetzt jedenfalls nicht nur sein Medium, sondern auch seine Leser, die ihm folgen und ihn genießen können, ohne mit allem einverstanden zu sein. Nein, noch besser: weil sie nicht mit allem einverstanden sind. Es ist doch wesentlich erfreulicher, wenn man ein Buch mögen und sogar lieben kann, in dem der Autor einem nicht nach dem Mund redet. „Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet“ (Schönauer/Tschermak, 2021) ist mutmaßlich ein sehr gutes Buch. Aber für den, der solches eh über die BILD denkt, fällt der Überraschungseffekt zum Teil weg. „Cinema Speculation“ hingegen überzeugt auch beim Anecken, selbst beim heftigen Widerspruch. Was übrigens eine interessante Parallele in Tarantinos Zeilen findet. Dass es einen Unterschied zwischen sehr guten und sehr prägenden Filmen gibt, macht er extrem deutlich und wendet sich Letzteren zu. Auch seine 13 kapitelweise gewürdigten Filme sind kein Kanon, und an manchen meint er, teils erhebliche Schwächen auszumachen. Aber es ist sein Kino, und wir wissen nicht nur immer, warum, sondern können es auch zu unserem Lesevergnügen machen.

Lektorat und Edition: Ich kaufe ein E

Tarantino ist auch bei Personen ungeheuer bekannt, die keine ausgesprochenen Filmliebhaber sind. Es ist schön, wenn seine Bücher große Verbreitung finden; es sei ihm gegönnt, und in der Tat muss man kein Nerd und/oder Experte sein, um seine Zeilen zu goutieren. So kam es also, dass sich in Deutschland mit Kiepenheuer & Witsch ein bekannter Verlag fand, der große Auflage garantieren kann, der aber alles andere als auf Filmliteratur spezialisiert ist. Und Letzteres merkt man schmerzlich. Zunächst, was fehlt: bitte zumindest von den 13 „Hauptfilmen“ Angaben zu Produktion, Cast & Crew etc., wie in einem sauberen Filmbuchregister üblich. Und dann bitte ein Komplettregister mit allen Namen und allen, wirklich allen erwähnten Filmen. Sowie wenigstens ein Inhaltsverzeichnis aller Kapitel. Diese Rezension zu schreiben, hat durch das Fehlen von alldem ein ganzes Stück länger gedauert. Zudem ist dies kein Buch, das man liest und anschließend für immer weglegt, sondern in das der Filminteressierte immer noch mal gern reingucken wird. Ach ja, „Terror in Block 11“ (1954, ein Knastfilm Don Siegels), zu dem hatte doch auch der Tarantino was gesagt, was denn, wo war das gleich? Hier ist man aufs Wühlen oder aufs E-Book angewiesen. Aber der Haptiker (und der, der sich mit diesem Text auch bei einer Weihnachsschenkerin bedanken möchte – das war schon prima in dieser Form!) muss halt wühlen.

Und dann erst die Fehler! Wobei ich von einer schwachen Übersetzung nicht reden möchte und es sicherlich schwierig ist, zu entscheiden, ob das four-letter-word immer mit dem ähnlich klingenden deutschen Wort zu übersetzen ist. Im Englischen ist die Bedeutung schließlich viel weitgefasster als die sexuelle. Diesbezüglich wirken einige wenige Formulierungen wie „Die ganze Musik haben sie umgefickt“ (wohl „fucked up“) ungelenk, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Auch daran, dass jedes Silbentrennungsprogramm alle auf „einander“ endenden Wörter vor „nander“ trennt, muss man sich leider gewöhnen. Zum Glück kommt es nicht allzu häufig vor, und selbst Kiepenheuer & Witsch muss die händische Silbentrennung einsparen. Es finden sich aber auch ein paar Sachen, die wirklich ärgerlich sind. Gut, eine Klammer in einer Klammer kann, wenn der Einschubeinschub am Anfang oder am Ende steht, zu zwei Klammern hintereinander führen; drum verwenden manche für die inneren die eckigen Klammern. Muss man nicht machen, aber oftmals – keinesfalls immer! – sind Einschübe innerhalb von Einschüben von vornherein mit Doppelklammern versehen, was auch zu einer Dreierklammer führen kann. Was soll dieser Mist? Kostprobe von S. 274: „… die erste von insgesamt drei Zusammenarbeiten mit John Schlesinger (die anderen beiden waren ,Yanks‘ ((dt. ,Yanks – Gestern waren wir noch Freunde‘)) und der unterschätzte ,Honky Tonk Freeway‘ ((dt. ,Da steht der ganze Freeway kopf‘))).“ Und dann die falschen/uneinheitlichen Namen/Filmtitel, worauf Lars Johansen, Kollege in diesem Blog und bei 35 Millimeter schon auf Facebook hingewiesen hat: John G. Avildsen (richtig)/Alviden/Alvidson; der Filmkritiker Charles Champlin (!) wird einmal zu Chaplin; Jean-Luc Godards „Bande à part“ (1964) wird zu „Die Außenseiter“ statt „Die Außenseiterbande“. Die wunderbare Film-noir-Sirene Lizabeth Scott wird zu Elizabeth; konsequent mehrfach auf engstem Raum. Ich kaufe ein E? Ich kaufe euch auch mehrere ab. Schließlich, die Aufzählung ist nicht vollständig: Wenn Tarantino einen Schwung älterer Don-Siegel-Filme nennt, hat der Rechercheur für die deutschen Titel nicht aufgepasst und bezeichnet „The Killers“ als „Rächer der Unterwelt“. Hierbei handelt es sich indes um die alternativ „Die Killer“ betitelte erste Adaption der gleichnamigen Kurzgeschichte Ernest Hemingways (1946, Regie: Robert Siodmak), wohingegen Don Siegel die im Englischen identisch betitelte Version „Der Tod eines Killers“ (1964) gedreht hat. Sollte auch für den Nichtexperten mit Google und Blick auf den Regisseur zu knacken sein.

Gebt bitte Tarantino nicht eine schlampige Herausgabe, weil er eh gelesen wird, sondern so viel Aufmerksamkeit und Liebe, wie sein Text hat, ausstrahlt und damit auch verdient. Letztlich aber: hervorragendes Buch, dem die Hülle nicht viel anhaben kann.

Autor: Quentin Tarantino
Originaltitel (2022): Cinema Speculation
Deutsche Erstveröffentlichung: 3. November 2022
394 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Copyright 2022 by Tonio Klein
Oberes Cover © 2022 by Tonio Klein, unteres Cover © 2022 Kiepenheuer & Witsch

 
 

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Wyrmwood – Apocalypse: Zombies als Energiequelle

Wyrmwood – Apocalypse

Von Volker Schönenberger

Horror-Action // Soldat Rhys (Luke McKenzie) hat sich inmitten der Zombie-Apokalypse im australischen Outback mehr oder minder gemütlich eingerichtet. Ein Zaun hält die Untotenhorden von seinem behelfsmäßigen Unterschlupf fern, und ein paar gefangene Zombies nutzt er zur Energieversorgung – aus „Wyrmwood – Road of the Dead“ (2014) wissen wir, dass Atemluft und Blut der zombifizierten Kreaturen mit Methan durchsetzt sind, welches sich als Kraftstoff für allerlei Gerätschaften und Vehikel einsetzen lässt.

Während draußen die Zombies marodieren …

Gelegentlich verlässt Rhys sein Refugium und fährt mit seinem gepanzerten Geländefahrzeug durch die Gegend, um Untote zu fangen. Diese bringt er zum Colonel (Jake Ryan) und zum Doktor (Goran D. Kleut), einem typischen „Mad Scientist“, der mit Rhys’ Beute allerlei Experimente veranstaltet – um ein Heilmittel gegen die Zombie-Infektion zu finden, wie Rhys glaubt. Der Doktor verlangt von dem Soldaten obendrein, ihm endlich Brooke (Bianca Bradey) zu bringen, eine Hybridin, halb Mensch, halb Zombie, deren Bruder Barry (Jay Gallagher) ihr bisweilen ein Antidot verabreicht, wenn die Untote in ihr zu sehr durchschlägt. Mit den beiden Geschwistern hat Rhys noch ein Hühnchen zu rupfen, haben sie doch (im Vorgängerfilm) seinen Zwillingsbruder getötet. Als Rhys mit der Aborigine Grace (Tasia Zalar) immerhin eine andere Hybridin fängt, gerät er ins Visier von deren Schwester Maxi (Shantae Barnes-Cowan).

… fristet Soldat Rhys im selbstgebauten Unterschlupf sein Dasein

„Wyrmwood – Road of the Dead“ kam 2014 überraschend von Down Under und ragte weit über vergleichbare niedrig budgetierte Zombiefilme hinaus. Dem Debütfilm von Kiah (Drehbuch & Regie) und Tristan Roache-Turner (Drehbuch) sah man in jeder Minute an, mit welcher Leidenschaft sie ihre endzeitliche Untotenvision mit Leben erfüllten. Dies kann auch dem Sequel „Wyrmwood – Apokalypse“ attestiert werden. Ursprünglich sollte der Vorgänger mit einer „Wyrmwood – Chronicles of the Dead“ betitelten Serie fortgesetzt werden, wofür die Roache-Turners 2017 bereits ein sechsminütiger Teaser produzierten. Daraus wurde nichts, womöglich sah man das Potenzial dafür aufgrund der Hitserie „The Walking Dead“ bereits abgegrast.

Die Schwestern Maxi (l.) und Grace behaupten sich in der Apokalypse

Das müssen wir aber nicht bedauern, „Wyrmwood – Apocalypse“ füllt den so entstandenen Freiraum spielend aus. Zwar sieht man ihm die Herkunft aus dem mit geringen finanziellen Mitteln ausgestatteten Independentfilm-Milieu an, etwas mehr Budget als der Vorgänger kam aber schon zusammen. Dieses setzten die Macher für Schauplätze und Action ein. Der blutige und über weite Strecken handgemachte Splatter kann sich sehen lassen – FSK 18 für die ungeschnittene Fassung ist die logische Folge. Immer wieder kommt es zu kurzen oder ausgedehnten Kämpfen, bei denen das Blut in Strömen fließt. Die Settings machen Freude, auch wenn Zweifel angebracht sind, ob Rhys’ Zaunkonstruktion stabil genug ist, um die Untoten lange aufzuhalten. Der fein gestaltete, wenn auch nicht gerade die Atmosphäre steriler Laborbedingungen ausstrahlende Forschungskomplex ist da schon besser gesichert.

Im Namen der Wissenschaft wird gern mal Schindluder betrieben

Die „Nutzung“ der Zombies als Energiequelle ist für einige Schenkelklopfer-Gags gut. Rhys weiß eben, wie man sich damit seinen Alltag in der Endzeit einrichtet. Nichts gegen ernsthafte Zombiefilme, aber es tut gut, dass das Untotengenre auch mit Werken wie diesem gespickt ist, die das Sujet nicht allzu ernst nehmen. Sehr schön bauten die Kiah Roache-Turners auch wieder die aus „Wyrmwood – Road of the Dead“ bekannte Idee ein, dass Brooke in der Lage ist, Untote mit Gedankenkraft zu kontrollieren, um sie beispielsweise auf fiese Feinde zu hetzen. Auch ein Zombie-Cyborg weiß zu gefallen.

Der Colonel sieht sich als heimlichen Herrscher

Kann man das Rad des Zombiefilms neu erfinden? Sicher nicht. Aber wenn man mit viel Leidenschaft und ein paar witzigen Ideen ans Werk geht, gelingt eben doch mal ein origineller Genrevertreter. Im Falle von Kiah und Tristan Roache-Turner sogar zwei. Und vielleicht geht die „Wyrmwood“-Reise bald auch in andere Länder. Jedenfalls äußerte Regisseur Kiah Roache-Turner im Interview, er könne sich gut vorstellen, das Konzept in andere Länder und an junge Filmemacher weiterzugeben, um zu sehen, was sie daraus machen. Er würde gern einen „Wyrmwood“-Film aus Korea, Italien oder Deutschland sehen.

Wehe, wenn Brooke nicht ihr Antidot erhält

Besagtes, von Nando Rohner geführtes und sehr aufschlussreiches Interview findet sich im Booklet des Mediabooks mit UHD Blu-ray und Blu-ray, das capelight pictures im Herbst 2022 in den Handel gebracht hat. Und auch das digitale Zusatzmaterial kann sich sehen lassen: Ein 37-minütiges Making-of ist schon aller Ehren wert, und zusätzlich hat das Label den kompletten Vorgängerfilm „Wyrmwood – Road of the Dead“ auf einer separaten Blu-ray beigelegt. Vorbildlich! Wer darauf, aufs Mediabookformat oder auf die UHD Blu-ray verzichten kann, kann auf Blu-ray und DVD in herkömmlichen Softcases zugreifen.

Im Würgegriff des Zombie-Cyborgs

Veröffentlichung: 30. September 2022 als 3-Disc Edition Mediabook (UHD Blu-ray & 2 Blu-rays), Blu-ray und DVD

Länge: 88 Min. (Blu-ray), 85 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: Wyrmwood – Apocalypse
AUS 2021
Regie: Kiah Roache-Turner
Drehbuch: Kiah Roache-Turner, Tristan Roache-Turner
Besetzung: Luke McKenzie, Shantae Barnes-Cowan, Jake Ryan, Bianca Bradey, Tasia Zalar, Jay Gallagher, Nicholas Boshier, Tristan McKinnon, Goran D. Kleut, Alex Jewson, Dean Kyrwood
Zusatzmaterial: Trailer, Trailershow, nur Mediabook und Blu-ray: „Wyrmwood Tagebücher Kapitel 2 – Das Making-of“ (37:29 Min.), nur Mediabook: Bonus-Blu-ray mit „Wyrmwood – Road of the Dead“ (2014), 24-seitiges Booklet mit einem von Nando Rohner geführten Interview mit Kiah Roache-Turner
Label: capelight pictures
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2022 capelight pictures

 

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Der schwarze Vorhang – Wer bin ich, und wie viele?

Street of Chance

Von Tonio Klein

Krimidrama // Nein, Herr Precht, man kann die Frage „Wer bin ich?“ nicht mit „Ja“ beantworten, der Buchtitel „… und wenn ja, wie viele?“ ist blanker Unsinn. Nun aber zu diesem nicht unsinnigen, wenn auch gegen Ende etwas überkonstruierten frühen Film noir, begleitend zu Heft 48 der Zeitschrift 35 Millimeter, deren Redaktion auch ich angehören darf. Den Schwerpunkt bilden diesmal die Paramount Studios, und der Kollege und Noir-Experte Matthias Merkelbach ist in einem Artikel über Paramount Noir, wie auch schon auf seiner Homepage, eher streng mit „Der schwarze Vorhang“ ins Gericht gegangen. Nein, kein Desaster, aber nur Durchschnitt. Meine Wertung ist positiver, unterscheidet sich davon aber nur leicht. Sicherlich kein Meisterwerk, aber gute und vor allem gut fotografierte, spannende Unterhaltung.

Noir-Blaupause

„Street of Chance“, so der Originaltitel, ist im Oktober 1942 in den US-Kinos gestartet. Damals gab es den Begriff „Film noir“ noch nicht; naturgemäß auch kein vorsätzliches „Wir machen jetzt mal einen Noir mit allem, was dazugehört.“ Es ist kein Remake des gleichnamigen 1930er-Glücksspielerdramas mit William Powell und eben auch kein Film, der an die Topoi des Noir andockt, sondern der sie mitbegründet. Was ihn auch zeithistorisch interessant macht und vor allem bereits auf die Psychothrillerwelle ab etwa 1945 verweist. Amnesie, mögliche Persönlichkeitsspaltung, die Frage nach dem unbekannten Brandstifter in einem Biedermann, die sich dieser Biedermann selbst stellen muss: Frank (Burgess Meredith), ein „kleiner Angestellter“ (und die Körperlänge des Darstellers ist wahrlich nicht exorbitant), erlebt nach einem physisch glimpflich verlaufenen Unfall Seltsames: Er befindet sich in Brooklyn, wo er sich nicht auskennt, hat andere Initialen in Hut und Zigarettenetui. Seine Frau Virginia (Louise Platt), von der er sich nach seiner Erinnerung erst am Morgen zum Gang ins Büro verabschiedet hat, ist schon lange ausgezogen und lebt andernorts unter ihrem Geburtsnamen. Er findet sie, ihm nach wie vor in Liebe zugetan, der er seit rund einem Jahr verschollen sei. Zudem wird er von ominösen Schergen verfolgt, die sogar, eine Seltsamkeit am Rande, die Scheibe seines bei Rotlicht haltenden Fluchttaxis zertrümmern, ohne dass dies die Passanten oder den Fahrer zu kümmern scheint. Als es brenzlig wird, verfrachtet er Virginia flugs zu Muddern, bis der Sturm sich gelegt und er als Detektiv in eigener Sache herausgefunden habe: Wer bin ich, und wie viele?

Mutmaßlicher oder vermeintlicher Mörder?

Nach ein paar vergeblichen Versuchen Franks, in Brooklyn wiedererkannt zu werden, holt ihn eine Frau (Claire Trevor), die sich als Ruth vorstellt, zu sich in die Wohnung – wie er denn so leichtsinnig sein könne, auf offener Straße herumzulaufen … Auch sie ist ihm offenbar in Liebe zugetan; zudem schafft sie es, die Häscher (welche sich als Polizisten herausgestellt haben) so abzuwimmeln, als mache sie das nicht zum ersten Mal. Und dafür gibt es einen Grund: Der wohlhabende Mr. Diedrich ist ermordet worden und Frank ist der Hauptverdächtige. Indes kommen drei weitere Personen als Täter in Betracht: des Opfers Gattin (Frieda Inescort) und sein Bruder (Jerome Cowan), die ein Liebesverhältnis haben, sowie Ruth, die als Pflegerin für die stumme Großmutter (Adeline de Walt Reynolds) der Diedrichs in deren Anwesen tätig ist.

Dies alles weiß fein zu unterhalten und miträtseln zu lassen, und im Gegensatz zu Matthias Merkelbach bin ich auch gnädiger mit Burgess Meredith. Ihn, den man als Nebendarsteller aus Filmen Otto Premingers sowie als Trainer aus den „Rocky“-Filmen kennt, sieht man nur selten in einer Hauptrolle, aber er passt zu seiner Figur. Wirkt er zu bieder, sodass man sich nicht eine Sekunde lang seine Täterschaft vorstellen könne? Der Trick scheint mir eher zu sein, dass Frank selbst allzu felsenfest überzeugt ist, es nicht gewesen zu sein; er spricht sogar einmal aus, nicht der Typ zu sein, der einen Mord begehen könne. Und das weckt natürlich Zweifel! Er ist sich seiner so sicher, dass wir uns fast schon wünschen, er und wir mögen negativ überrascht werden. Er fordert von Virginia blindes Vertrauen und gaukelt Ruth vor, sie sei seine einzige und große Liebe, damit sie ihm beim Detektivspiel/Entkommen helfe. Das eine ist überheblich, das andere unfein, und so scheint es zumindest möglich, dass in dem Manne dunkle Seiten schlummern. Die daraus entstehende Spannung ist nicht geringzuschätzen. Zudem ist alles wirklich wunderschön von Theodor Sparkuhl fotografiert, mit Noir-archetypischen und damals eben noch stilbildenden Low-key-Licht-und-Schatten-Gegensätzen im nur von künstlichem Licht erhellten Dunkel der Nacht. Und ein paar Kamerafahrten durch das von Paramounts Stamm-Architekten Hans Dreier stilvoll errichtete und eingerichtete Haus sind atemraubend. Zudem mag die für leicht verruchte Damen immer bestgeeignete Claire Trevor zu gefallen.

Das Schwächste kommt zum Schluss

So gut die Konstellation nach dem Roman „Der schwarze Vorhang“ des verlässlichen Noir-Lieferanten Cornell Woolrich bislang ist, die Auflösung ist gleichzeitig zu konventionell und zu hanebüchen. Nein, Frank führt kein bewusstes Doppelleben wie Harry (Edmond O’Brien) in „Der Mann mit den zwei Frauen“ (The Bigamist; 1953). Und im Vergleich der „Endlich mal eine Hauptrolle für …“-B-Noirs schneidet „Schwarzer Engel“ (1946, Alternativtitel: „Vergessene Stunde“) mit Dan Duryea besser ab. Ebenfalls auf einer Woolrich-Vorlage basierend, findet die Duryea-Figur weit Schlimmeres in ihrer Erinnerungslücke. „Der schwarze Vorhang“ muss ein bisschen tricksen; vielleicht auch, um das mit dem Mann und den zwei Frauen durch die Zensur zu bekommen. Dabei verhebt er sich, wenn sich herausstellt, dass Frank vor einem Jahr schon einmal einen Unfall hatte, wobei er seine Erinnerung verloren und ein neues Leben begonnen hatte. Wie macht man das eigentlich, so ganz ohne Erinnerung? Bildet man sich einfach einen anderen Namen ein oder denkt sich einen aus? Wie kam es zu dem Unfall, warum hat niemand nach Frank gesucht? Keine Ahnung. Und klappt das, was eher in Cartoons wie „Donald’s Dilemma“ (1947) vorkommt, dass jemand einen Schlag verpasst bekommt und selbiges sich wiederholen muss, damit der doppelt Geschlagene sein Gedächtnis wiedererlange? Schließlich: Sind nicht auch die Beantwortung der Täterfrage sowie das finale Schicksal des oder der Schuldigen nur Mittel zum Zweck, moralisch sauber aus der Chose rauszukommen? Obwohl das mit dem zweimaligen Unfall an den Haaren herbeigezogen war, hätte es umgekehrt ganz zum Schluss gern noch the „switch of the switch“ geben dürfen, um nicht allzu wohlgefällig zu enden. Aber „The End“ erscheint dann recht flott.

In Deutschland ist die Regiearbeit von Jack Hively („Panama Lady“) meines Wissens nie im Kino gelaufen, sondern unter dem Titel „Der schwarze Vorhang“ lediglich zu Fernseh-Ehren gekommen. Sie hätte hierzulande durchaus auch in einer DVD-Reihe wie der leider seit ein paar Jahren nicht mehr fortgesetzten „Film Noir Collection“ von Koch Media (heute Plaion Pictures) veröffentlicht werden können. In den USA ist „Street of Chance“ 2022 auf Blu-ray erschienen, das könnte ein deutsches Label nutzen und den Film noir für den hiesigen Markt lizenzieren.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Burgess Meredith haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung (USA): 19. Juli 2022 als Teil der Kollektion „Film Noir: The Dark Side of Cinema VIII“ (3 Blu-rays, mit „Enter Arsene Lupin“ und „Temptation“)

Länge: 74 Min.
Altersfreigabe: ungeprüft (US-Freigabe: not rated)
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Englisch
Originaltitel: Street of Chance
USA 1942
Regie: Jack Hively
Drehbuch: Garrett Fort, nach einem Roman von Cornell Woolrich
Besetzung: Burgess Meredith, Claire Trevor, Louise Platt, Jerome Cowan, Adeline de Walt Reynolds
Zusatzmaterial: Trailer, Audiokommentar von Filmdozent Prof. Jason A. Ney
Label/Vertrieb: Kino Lorber

Copyright 2022 by Tonio Klein

Packshots: © 2022 Kino Lorber, Filmplakat: Fair Use

 

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