Sniper – The White Raven
Kriegsdrama // Im Frühjahr 2014 mündeten bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften auf der Krim zur Annexion der zur Ukraine gehörenden Halbinsel durch Russland. Die Invasoren dringen auch in den ukrainischen Teil des Donezkbeckens vor (hierzulande mittlerweile als Donbass bekannt) – der Krieg im Donbass in der Frühphase des Russisch-Ukrainischen Kriegs hat begonnen.
Man merkt es wohl schon aufgrund dieser einleitenden Sätze: Mit der 1993 mit „Sniper – Der Scharfschütze“ begonnenen Actionfilm-Reihe mit Tom Berenger hat „Sniper – The White Raven“ (2022) bis auf den Titel gar nichts zu tun. Hier handelt es sich um eine ukrainische Produktion, deren Hauptfigur der Physiklehrer Mykola Voronenko (Pavlo Aldoshyn) ist. Der lebt mit seiner Frau Nastya (Maryna Koshkina) in aller Abgeschiedenheit in einer selbstgezimmerten Hütte im Einklang mit der Natur auf einem Feld. Ihren Pazifismus dokumentieren sie mit einem aus Steinen auf den Boden gelegten Friedenssymbol. Früher hätte man sie Hippies genannt. Ihre Idylle findet ein jähes Ende, als zwei versprengte Russen die Hütte des Ehepaars entdecken. Kurz darauf ist Nastya tot. Witwer Mykola schließt sich der ukrainischen Armee an (vielleicht auch einer paramilitärischen Privatarmee), wirft seinen Pazifismus über Bord, gibt sich den Kampfnamen „Rabe“ und absolviert die harte Grundausbildung der Streitkräfte. Anfangs wird er als Pazifist nicht ernst genommen und aufgrund mangelnden Geschicks beim Auseinanderbauen und Zusammensetzen seiner Waffe verspottet. Doch als Scharfschützen für die Front gesucht werden, meldet er sich freiwillig zu der Sonderausbildung.
Vom Pazifisten zum Killer
Ein Pazifist mutiert zum eiskalten Killer in Uniform – plakativer geht es kaum. Sehen wir es dem Regisseur Marian Bushan und allgemein dem ukrainischen Kino in der aktuellen Situation des Landes nach, einen klar erkennbar in propagandistischer Absicht gedrehten Kriegsfilm inszeniert und produziert zu haben. Dem russischen Kino mangelt es daran ja ebenfalls nicht (auch wenn es meines Wissens bislang keine russischen Kriegsfilme zum russisch-ukranischen Krieg gibt – zumindest keine, die es zu uns geschafft haben).
Gedreht wurde mit tatkräftiger Unterstützung ukrainischer Militäreinheiten im Herbst 2020 in einer Region um die Hauptstadt Kiew. Sieht man von der politischen Agenda von „Sniper – The White Raven“ ab, bekommen wir es mit einer hoch spannenden Betrachtung des Scharfschützenwesens zu tun. Die Szenen von Mykolas Grundausbildung folgen dabei üblichen Pfaden der Militärfolklore. Immerhin bekommen wir einen interessanten Einblick in die spezielle Scharfschützenausbildung (ob dieser authentisch ist, sei dahingestellt). Mykola Voronenko entwickelt sich zu einem gefürchteten Heckenschützen, der den russischen Soldaten hohen Blutzoll abverlangt und sogar mit der Handfeuerwaffe effektiv umzugehen versteht.
Erinnerung an „Duell – Enemy at the Gates“
Dass die Gegenseite mit dem Scharfschützen Syeryy (Oleg Drach) einen ebenbürtigen Kontrahenten ins Spiel bringt, erinnert an „Duell – Enemy at the Gates“ (2001), der wie „Sniper – The White Raven“ einen realen Scharfschützen porträtiert – in dem Fall einen Russen im Zweiten Weltkrieg. Die Production Values von Jean-Jacques Annauds Kriegsdrama mit Jude Law und Ed Harris erreicht „Sniper – White Raven“ nicht, wohl aber die mörderische Spannung, die das Duell im Zweiten Weltkrieg auszeichnet. Der Showdown des ukrainischen Films erinnerte mich ein wenig an die so düstere wie todbringende Stimmung im Videospiel „Black“, einem 2006 exklusiv für die PlayStation 2 veröffentlichten First Person Shooter, den ich gern gespielt habe (mit einer Portierung für die PlayStation 4 kann ich wohl nicht mehr rechnen, schnüff). Das Scharfschützensujet bringt es im Übrigen mit sich, dass wir keine brachiale Schlachten-Action zu sehen bekommen, sondern eher nadelstichartige Auseinandersetzungen. Das passt auch zum realen Konflikt, der bekanntermaßen erst ab Februar 2022 so richtig eskalierte (ohne dass ich damit die Tragik der Ereignisse seit 2014 herunterspielen will).
Die Figur des Mykola Voronenko basiert auf dem Ukrainer Mykola Voronin, der zusammen mit Regisseur Marian Bushan das Drehbuch schrieb. Ein deutscher Rezensent bei einem großen Online-Händler behauptet, der russische Regisseur habe ursprünglich eine Dokumentation über Voronin drehen wollen, was dieser abgelehnt habe. Ebenso heißt es in besagter Rezension, die Story des Films lasse einige bedeutsame Details aus dem Leben des Scharfschützen aus und nehme sich insofern große Freiheiten. Das mag so sein, ich konnte es weder verifizieren noch widerlegen.
Wird Trauer überbewertet?
Die Welt ist anscheinend klein in der Ukraine in der Frühphase des Krieges mit Russland. So klein, dass Voronenko wiederholt Menschen begegnet, die eine Weile zuvor Einfluss auf sein Leben genommen haben. Das wirkt arg unwahrscheinlich. Auch die charakterliche Entwicklung des Protagonisten erscheint nicht ganz rund. Seine Trauer um die Ermordung seiner Frau wird lediglich bis zu ihrer Beerdigung dargestellt, anschließend spielt sie keine Rolle mehr. Ebenso lässt ihn sein erster Todesschuss seltsam kalt. Unwahrscheinlich bei jemandem, der kurz zuvor noch Pazifist war.
Scharfschützenfilme gibt es einige, sicher nicht erst seit „Duell – Enemy at the Gates“. Gar nicht so selten porträtieren sie reale Menschen, wie etwa Clint Eastwoods „American Sniper“ (2014), der sehr kontrovers aufgenommen wurde. Interessant ist auch „Red Sniper – Die Todesschützin“ (2015), und das insbesondere deshalb, weil es sich dabei um eine russisch-ukrainische Koproduktion handelt, mittlerweile wohl undenkbar. Erwähnt sei noch der bemerkenswerte russische Beitrag „Red Ghost – Nazi Hunter“ (2020), der allerdings komplett fiktiv ausgefallen ist.
Der ukrainische Held
„Sniper – The White Raven“ zeichnet ein Porträt eines ukrainischen Helden. Das kann man machen, das Kriegsfilmgenre ist voll davon. Dass dahinter eine politische Absicht steckt, ist ein bedauerlicher Unterton, gleichwohl vermag das Werk auf hohem Niveau zu unterhalten, zumal das patriotische Motiv nicht über Gebühr strapaziert wird. Der seit nunmehr neun Jahren in unterschiedlicher Intensität tobende Krieg zwischen der Ukraine und Russland verleiht dem Film einen realen Bezug, der einen beim Schauen zwangsläufig darüber nachdenken lässt. Und das ist bei allen in Richtung Glorifizierung gehenden Kritikpunkten ein weiteres Positivum. Abschließend die Frage: Welche Scharfschützenfilme jenseits der in diesem Text erwähnten Werke könnt Ihr empfehlen?
Veröffentlichung: 20. Januar 2023 als Blu-ray, DVD und Video on Demand
Länge: 112 Min. (Blu-ray), 107 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Ukrainisch/Russisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Sniper – The White Raven
UKR 2022
Regie: Marian Bushan
Drehbuch: Marian Bushan, Mykola Voronin
Besetzung: Pavlo Aldoshyn, Maryna Koshkina, Andrey Mostrenko, Roman Semysal, Oleg Drach, Roman Yasinovskiy, Oleg Shulga, Vadim Lyalko, Vadim Kurilko, Vladyslav Dmytrenko, Eugen Volosheniuk, Oleksandr Bykov, Egor Kozlov, Zachary Shadrin
Zusatzmaterial: Behind the Scenes (2 Min.), Originaltrailer, Trailershow, Wendecover
Label: Busch Media Group
Vertrieb: Al!ve AG
Copyright 2023 by Volker Schönenberger
Szenenfotos: © 2023 Busch Media Group
Thomas Oeller
2023/03/11 at 22:35
Mir fällt da nur ein Film ein, aber nicht mehr der Titel, ging irgendwie um Scharfschützen die eine Ölpipeline bewachen
Birgit
2023/03/08 at 10:06
Möchte den Western „Winchester ’73“ von Anthony Mann mit James Stewart aus dem Jahr 1950 nennen – hier streiten sich gleich mehrere Scharfschützen um ein besonderes Gewehr.
Samara
2023/03/07 at 14:17
Zum Thema rein Scharfschützen Film, fällt mir Shooter mit Mark Wahlberg ein…
SmileySmile77
2023/03/06 at 21:18
Wenn ich mich recht erinnere hatte Dennis Quaid in dem 1998 gedrehten *Savior* einen Sniper gespielt. Der Film soll sehr hart und realistisch sein.
Frank Hillemann
2023/03/05 at 11:43
Ausser den schon genannten habe ich keine weiteren auf dem Schirm.
Falko
2023/03/05 at 04:57
Wenngleich kein Kriegs-, so doch zumindest ein Scharfschützenfilm: Leon der Profi.
Hasret Alaz
2023/03/04 at 20:41
Also ich kenne auch nur die oben erwähnten Filme.
Michael Behr
2023/03/03 at 13:15
Wenn auch Nicht-Kriegsfilme zählen, möchte ich „Two-Minute Warning“ nennen. Das Setting im Stadion mit dem Scharfschützen, an den scheinbar kein Herankommen ist, hat mir gut gefallen.
Klaus
2023/03/03 at 11:43
Abseits der Kriegsfilme fällt mir spontan Fred Zinnemanns „Der Schakal“ von 1973 ein, der hochspannend ein Attentat auf den damaligen französischen Präsidenten de Gaulle schildert.
Frank Warnking
2023/03/03 at 11:41
andere als die Erwähnten fallen mir nicht ein
Björn Kramer
2023/03/03 at 11:15
The Sniper mit Richie jen und Sniper Special ops mit Steven Seagal
Laetitia Junker
2023/03/03 at 06:45
Mir ist leider kein anderer Film bekannt außer die im Text genannten, American sniper fand ich sehr sehr gut, da dieser Film alles ungeschönt zeigt.
Jens
2023/02/03 at 19:32
Alle mir bekannten wurden hier tatsächlich schon genannt… Muss aber sagen mir hat gerade die etwas harsche Charakterentwicklung in White Raven gefallen, basiert genau diese doch meiner Meinung nach auf dem Tod seiner Frau – die Aufgabe des pazifiszischen Gedankens zugunsten der Rache des Todes seiner Frau. Aber vielleicht sehe ich das auch falsch…
Volker Schönenberger
2023/02/03 at 19:34
Wieso falsch. Deine Interpretation hat doch dieselbe Berechtigung wie meine oder eine andere.