The Insider
Thrillerdrama // 1995 wandte sich der Biochemiker Jeffrey Wigand (* 1942) als Whistleblower an das von Lowell Bergman (* 1945) als Producer verantwortete Nachrichtenmagazin „60 Minutes“ des US-Fernsehsenders CBS. Er berichtete den renommierten Journalisten, wie sein Arbeitgeber Brown & Williamson, eine Tochtergesellschaft von British American Tobacco, dem Tabak in den von B & W produzierten Zigaretten systematisch suchterzeugende und -verstärkende Zusätze beimengte und die Öffentlichkeit wider besseren Wissens generell über die Gefahren des Zigarettenkonsums täuschte. Trotz heftigen Widerstands von unterschiedlichen Seiten sowohl beim Sender als auch bei Brown & Williamson gelangten die Informationen ab Februar 1996 an die Öffentlichkeit. Die Investigativjournalistin Marie Brenner (* 1949) beleuchtete die Vorgänge im Mai 1996 für die Zeitschrift Vanity Fair in einer Reportage mit dem Titel „The Man Who Knew Too Much“.
Diese und andere Enthüllungen über die Machenschaften der US-Tabakindustrie mündeten letztlich in das „Tobacco Master Settlement Agreement“, eine Vereinbarung zwischen 46 US-Staaten und den vier größten US-Tabakproduzenten Philip Morris Inc., R. J. Reynolds, Brown & Williamson and Lorillard. Die Staaten beendeten ihre Gerichtsverfahren zur Zahlung der von der Tabakindustrie verursachten Kosten für das Gesundheitswesen, im Gegenzug verpflichteten sich die vier Konzerne zur Zahlung von 368,5 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von 25 Jahren.
Die US-Journalisten und der Hisbollah-Boss
Michael Manns „Insider“ betitelte filmische Aufarbeitung der Ereignisse setzt im Libanon ein. Dort gelingt es dem von Al Pacino verkörperten Lowell Bergman, den schiitischen Geistlichen und Führer der Hisbollah, Großajatollah Muhammad Hussein Fadlallah (Cliff Curtis), Bergmans von Christopher Plummer gespielten Chefreporter Mike Wallace (1918–2012) ein Interview zu gewähren. Dabei zeigt sich, dass die beiden zu ihren Überzeugungen und journalistischen Prinzipien stehen und sich auch von den schwer bewaffneten Bodyguards des Schiitenführers nicht einschüchtern lassen.
Derweil muss Dr. Jeffrey Wigand (Russell Crowe) seiner Ehefrau Liane (Diane Venora) beichten, dass sein Arbeitgeber Brown & Williamson ihn gerade gefeuert hat. Bald darauf erhält Bergman ein anonymes Paket mit vertraulichen Dokumenten aus der Tabakindustrie, genauer: vom Konzern Philip Morris. Weil er einen Experten braucht, der ihm die Informationen aus der Fachsprache ins Verständliche überträgt, kontaktiert er Wigand. Der erklärt sich zu einem Treffen an seinem Wohnort in Louisville (Kentucky) bereit und erläutert dem Journalisten, bei den Dokumenten handle es sich um eine Brandsicherheitsproduktstudie von Philip Morris. Ein paar beiläufige Äußerungen des Wissenschaftlers machen Bergman stutzig: Wigand erwähnt, die Studie sei nur der Bodensatz, aber mehr werde der Journalist nicht von ihm bekommen. Als Wigand auch noch seine Verschwiegenheitsklausel erwähnt, ist Bergmans Instinkt endgültig geweckt.
Drei Oscar-Preisträger im Cast
Mit Russell Crowe („Gladiator“), Al Pacino („Der Duft der Frauen“) und Christopher Plummer („Beginners“) bietet „Insider“ gleich drei Oscar-Preisträger auf. Und auch die Nebenrollen sind namhaft besetzt, wenn auch zum Teil mit wenig Leinwandzeit: Gina Gershon („Showgirls“) ist als Helen Caperelli zu sehen, Geschäftsführerin von CBS News. Stephen Tobolowsky („Spaceballs“) spielt Eric Kluster, Präsident von CBS News, Philip Baker Hall („Magnolia“) spielt Donald Hewitt, den Schöpfer und Executive Producer von „60 Minutes“. Michael Gambon („Harry Potter“-Reihe) ist als Thomas Sandefur zu sehen, Konzernboss von Brown & Williamson. Colm Feore („Der fremde Sohn“) gibt den Juristen Richard Scruggs (* 1946), der sich seinerzeit für den Staat Mississippi mit der Tabakindustrie anlegte. Da ich gerade bei Mississippi bin: In der Rolle von Michael Moore (* 1952), seinerzeit Attorney General jenes US-Staats: Michael Moore! Genau, der Gute spielt sich selbst (und selbst der Gerichtssaal, in welchem Wigand in Mississippi befragt wird, ist der reale).
Sie alle und weitere Darstellerinnen und Darsteller mit Sprechrollen stemmen gemeinsam die schwere Aufgabe, dem beachtlichen Figurenensemble Profil zu verleihen, ohne dass das Filmpublikum die Übersicht verliert. Es gelingt dank präziser Dialoge und der Kamera von Dante Spinotti („Heat“), der genau weiß, wann er wie nah oder fern an den Gesichtern dran sein muss. Und das über die lange Spieldauer von knapp über zweieinhalb Stunden. Sie vergehen wie im Flug ohne Hänger und Längen, obwohl der Thriller völlig ohne Action und physische Gewalt auskommt. „Insider“ erzählt etwas über Gewalt und Macht der Konzerne, über das Agieren und Funktionieren (oder eben nicht) investigativer Medien und Menschen in Ausnahmesituationen. Inmitten all dieser manipulativen Vorgänge – gewissermaßen im Auge des Wirbelsturms – stehen die Eheleute Wigand und ihre Kinder. Die Familie sieht sich zerstörerischen Mechanismen ausgesetzt, die sie nicht schadlos überstehen kann. Selbst dafür bleibt nicht nur Zeit (denn die ist ja reichlich vorhanden), sondern es gibt trotz des stetigen Blicks auf das große Ganze genug Momentum fürs Publikum, eine emotionale Bindung zu den Wigands aufzubauen.
Sechster Kinofilm von Michael Mann
Mein Recherchepotenzial reicht nicht weit genug, um zu prüfen, wie viele Freiheiten sich Michael Mann und sein 1995 mit dem Oscar für das adaptierte Drehbuch von „Forrest Gump“ prämierter Ko-Drehbuchautor Eric Roth bei der Geschichte genommen haben. Die Frage ist auch sekundär – Spielfilme müssen sich Freiheiten nehmen, um über ihre Laufzeit eine Dramaturgie und einen Spannungsbogen zu entwickeln. Michael Mann ist eben kein Dokumentarfilmer. Dafür ein außergewöhnlicher Spielfilmregisseur. Für den am 5. Februar 1943 in Chicago, Illinois Geborenen markierte „Insider“ 1999 seinen erst sechsten Kinofilm – vier Jahre nach seinem Heist-Movie-Hit „Heat“ mit Al Pacino und Robert de Niro. „Insider“ bescherte ihm gleich drei Oscar-Nominierungen: als Regisseur, Drehbuchautor und – weil er den Film mitproduzierte – für den besten Film (Hauptdarsteller Russell Crowe, Kamera, Schnitt und Ton wurden ebenfalls nominiert). Eine weitere Oscar-Nominierung für den besten Film erhielt Mann 2005 als einer der Produzenten von Martin Scorseses Howard-Hughes-Biopic „Aviator“. Vergönnt war dem visionären Filmemacher der Academy Award bislang jedoch nicht, ebenso wenig wie ein Golden Globe oder ein Hauptpreis bei einem der großen internationalen Filmfestivals.
Seine Stilsicherheit demonstrierte Michael Mann bereits in seinem ersten Kinofilm „Der Einzelgänger“ (1981), bei dem er von seiner zuvor im Fernsehen gesammelten Erfahrung profitieren konnte. Dieser lasse schon ahnen, in welche Richtung Michael Manns Kino gehen wird, ein Kino, dem Farben, Formen, Körper und Texturen von Film zu Film immer wichtiger wurden … So der damalige „Die Nacht der lebenden Texte“-Autor Simon Kyprianou in „seiner Rezension von „Der Einzelgänger“.
„Miami Vice“, was Frauen lieben
Bisweilen werden Manns Regiearbeiten als kühl bis hin zur Gefühlskälte kritisiert, doch dafür fand Kyprianou die passende Erwiderung: Die Kälte umhüllt seine Filme nur oberflächlich, wie die gefühllose Oberfläche seiner Figuren sie kalt und schroff wirken lässt, unter der die Ängste, Träume und die Sehnsüchte aber kochen. Dazu passt auch, dass Michael Mann die ultracoole 80er-Krimiserie „Miami Vice“ (1984–1989) von ihrem Auftakt bis zum Ende als Executive Producer mitverantwortet hat und dabei nicht zuletzt für ihr visuelles Design zuständig war. Cool hin oder her – „Miami Vice“ hatte immer wieder große emotionale Höhepunkte zu bieten. Man denke nur an den Tod von Lieutenant Lou Rodriguez (Gregory Sierra) in „Calderones Rückkehr“ (Episode 4 und 5 der ersten Staffel) – die Doppelfolge stellt ohnehin einen Höhepunkt dieser herausragenden Serie dar. Michael Mann ließ es sich dann auch nicht nehmen, 2006 als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent die Spielfilm-Adaption „Miami Vice“ in die Lichtspielhäuser zu bringen, in der Colin Farrell und Jamie Foxx die Rollen der in der Serie von Don Johnson und Philip Michael Thomas verkörperten Detectives Sonny Crockett und Ricardo Tubbs übernahmen. An den Kinokassen übertrafen die Einnahmen des Films das Budget von 135 Millionen nur um knapp 30 Millionen Dollar, bei der Kritik erntete Mann gemischte Reaktionen. Gleichwohl ist zu bemerken, dass sich hinter der kühlen Fassade des Films viel Gefühl verbirgt.
Zu Manns besten Arbeiten gehören das im 18. Jahrhundert spielende Historien-Abenteuer „Der letzte Mohikaner“ (1992) mit Daniel Day-Lewis und der Actionthriller „Heat“ (1995), in welchem sich Al Pacino als Cop und Robert De Niro als Gangsterboss ein denkwürdiges Katz-und-Maus-Spiel liefern. Der Heist-Movie belegt nicht zuletzt dank der zentralen Schießerei zwischen Polizei und Bankräubern Michael Manns Talent für Actionszenen, die er gleichwohl nur punktuell und storydienlich einsetzt (hier erneut der Hinweis auf das völlige Fehlen von Action in „Insider“).
Vom „Blutmond“ zu „Ferrari“
Bemerkenswert ist auch Manns „Blutmond“ (1986) nach Robert Harris’ Roman „Roter Drache“, seinerzeit der erste Auftritt des Serienmörders „Hannibal the Cannibal“ – verkörpert von Brian Cox und noch mit dem Nachnamen Lecktor, nicht Lecter wie 1991 in Jonathan Demmes bahnbrechendem „Das Schweigen der Lämmer“. Wie man sieht: Mit namhaften Stars kann der Regisseur umgehen, und sie lassen sich nur zu gern buchen, um mit ihm zu arbeiten, wie auch das Biopic „Ali“ (2001) mit Will Smith und Jamie Foxx, die Auftragskiller-Mär „Collateral“ (2004) mit Tom Cruise und erneut Foxx sowie das Gangsterdrama „Public Enemies“ (2009) mit Johnny Depp und Christian Bale beweisen. Am 5. Februar 2023 feiert Michael Mann seinen 80. Geburtstag. Sein Biopic „Ferrari“ über den Gründer der Sportwagenschmiede befindet sich derzeit in der Nachproduktion und könnte noch in diesem Jahr in die Kinos kommen (satte acht Jahre nach Manns bislang letztem Film „Blackhat“ von 2015). Ob er danach noch die Kraft für weitere Regiearbeiten hat? Clint Eastwood hat immerhin noch mit über 90 einen Film in die Kinos gebracht.
Tarantino mag „Insider“
Zurück zu „Insider“, den Quentin Tarantino 2009 in seine Top 20 der besten Filme seit 1992 aufgenommen hat: Das Thrillerdrama beeindruckt mit seiner intelligenten Story, dem über die gesamte Laufzeit von zweieinhalb Stunden aufrechterhaltenen Spannungsbogen und der herausragenden Besetzung. Dem Werk gebührt auch Respekt, die miesen Machenschaften der Tabakindustrie einem großen Publikum vor Augen geführt zu haben.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Michael Mann haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Gina Gershon unter Schauspielerinnen, Filme mit Russell Crowe, Colm Feore, Al Pacino und Christopher Plummer in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung: 26. November 2021 als Blu-ray und DVD, 10. November 2020 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & DVD), 6. November 2008 und 1. Februar 2003 als DVD
Länge: 158 Min. (Blu-ray), 152 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: The Insider
USA 1999
Regie: Michael Mann
Drehbuch: Eric Roth, Michael Mann, basierend auf Marie Brenners Vanity-Fair-Artikel „The Man Who Knew Too Much“
Besetzung: Russell Crowe, Al Pacino, Christopher Plummer, Diane Venora, Philip Baker Hall, Lindsay Crouse, Debi Mazar, Stephen Tobolowsky, Colm Feore, Gina Gershon, Michael Gambon, Bruce McGill, Rip Torn, Lynne Thigpen, Hallie Eisenberg, Michael Paul Chan, Linda Hart, Robert Harper, Nestor Serrano, Pete Hamill, Wings Hauser, Cliff Curtis, Renee Olstead, Mike Moore, Gary Sandy, Willie C. Carpenter
Zusatzmaterial: Produktions-Featurette (7 Min.), Making-of (7 Min.), Originaltrailer, deutscher Kinotrailer, Trailershow, nur Filmjuwelen: Einleitung von Dominik Starck (5:27 Min.), nur Mediabook: 24-seitiges Booklet mit einem Text von Dominik Starck, nur 2008er-DVD: Texttafeln mit Produktionsnotizen und Filmografien
Label 2021 & 2020: Filmjuwelen
Vertrieb 2021 & 2020: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2008: VCL / Cine Plus / Constantin Film
Copyright 2023 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & gruppierter Packshot: © 2020/2021 Filmjuwelen,
unterer DVD-Packshot: © 2003/2008 VCL / Cine Plus / Constantin Film