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Werk ohne Autor – Von der Suche nach der Weltenformel

Werk ohne Autor

Von Philipp Ludwig

Drama // Die Entdeckung der Weltenformel ist der Moment, in dem einem endlich alles klar wird, man „alles“ sieht und es auch tatsächlich verstehen kann. So erklärt es zumindest die junge Elisabeth May (großartig: Saskia Rosendahl, „Lore“) ihrem fünfjährigen Neffen Kurt Barnert (Cai Cohrs) – die beiden pflegen eine herzlich innige Beziehung zueinander. Was dieses „alles“ allerdings sein soll, verrät sie ihm nun aber auch wieder nicht. „Sieh niemals weg“, gibt sie ihm ebenfalls mit auf den Weg, damit er hoffentlich selbst eines Tages seine ganz persönliche Weltenformel findet. Die beiden feinfühligen Freigeister und künstlerisch Begabten leben in ihrem Heimatdorf nahe Dresden in einer Zeit, in der für Menschen wie sie wenig Platz in der Gesellschaft vorgesehen ist: der im ideologischen Rassenwahn der Nationalsozialisten alles beherrschenden Idee von der „Volksgemeinschaft“ im „Dritten Reich“. Die Aufforderung „Sieh niemals weg“ erscheint umso zynischer, haben doch allzu viele der damaligen Zeitgenossen weggesehen, und auch heute würden viel zu viele Unverbesserliche gern die Augen vor dem damaligen Unrecht verschließen. Doch zumindest Kurt wird die Möglichkeit erhalten, diese dunklen Jahre hinter sich zu lassen und den Wunsch seiner Tante zu verwirklichen. Es folgt seine ganz persönliche und langwierige Suche nach besagter Weltenformel. Dem Sinn hinter allem. Der Wahrheit. Als Mensch. Als Ehemann. Als Künstler.

Elisabeth zeigt ihrem Neffen Kurt die Welt der Kunst

Elf Jahre ist es nun her, das Florian Henckel von Donnersmarck mit seinem Erstlingswerk „Das Leben der Anderen“ direkt einen Oscar gewinnen konnte. Ausgezeichnet als „Bester fremdsprachiger Film“, konnte er mit seinem berührenden DDR-Drama neben der Academy damals vor allem auch Kritiker und Publikum gleichermaßen beeindrucken. Mit „Werk ohne Autor“ kommt nun erst sein dritter Spielfilm in die deutschen Kinos – über den weniger beeindruckenden „The Tourist“ (2010), der trotz internationaler Starbesetzung um Angelina Jolie und Johnny Depp floppte, legen wir lieber den Mantel des Schweigens. Mehr als vier Jahre hat der hünenhafte Filmemacher an seinem monumentalen Epos deutscher Zeitgeschichte – vom „Dritten Reich“ über die junge DDR bis hinein in die wilden Sechziger der BRD – gearbeitet, der passend zum Tag der Deutschen Einheit in die Kinos kommt. Bereits vor Kinostart wurde bekannt, dass „Werk ohne Autor“ erneut als deutscher Kandidat ins Oscar-Rennen gehen wird. Gelingt es ihm, an sein beeindruckendes Debüt anzuknüpfen und vielleicht sogar erneut Hoffnungen auf einen Goldjungen zu hegen?

Ein Epos deutscher Zeitgeschichte

„Werk ohne Autor“ ist ein wahres Mammutwerk. Stolze 188 Minuten beträgt die Laufzeit der Handlung, in der in drei Episoden über 30 Jahre deutscher Zeitgeschichte behandelt werden. Immer mit dabei: Kurt Barnert (Tom Schilling, „Oh Boy“). Das Geschehen nimmt 1937 seinen Anfang, im nationalsozialistischen Deutschland. Der fünfjährige Kurt besucht mit seiner jungen Tante Elisabeth in Dresden eine Ausstellung über „entartete Kunst“. Dort versucht ihnen Ausstellungsführer Heiner Kerstens (toller Gastauftritt für Lars Eidinger, „Babylon Berlin“), ausführlich die angeblichen Abgründe der Kunstwelt zu vermitteln – oder das, was die Machthaber als solche verstehen. Doch Elisabeth und Kurt scheinen ganz anderer Meinung darüber zu sein, was wirklich Kunst ist. Gerade für den jungen Kurt, dessen künstlerische Hochbegabung bereits durchschimmert, stellt dieser Besuch ein prägendes Erlebnis dar, das sein restliches Leben für immer bestimmen wird.

Im „Dritten Reich“ hat man derweil ganz eigene Vorstellungen von künstlerischer „Wertigkeit“

Im Mittelpunkt der Handlung steht zunächst seine Tante Elisabeth. Als blonde und bildhübsche junge Frau ist sie das menschliche Vorzeigeobjekt im örtlichen „Bund Deutscher Mädel“. Und somit für die große Ehre auserkoren, beim kommenden Besuch des „Führers“ in Dresden diesem einen Blumenstrauß zu überreichen. Die Folgen dieser scheinbaren Ehre muss Klaus mit eigenen Augen ansehen – Elisabeth kommt mit dieser ihr aufgezwungenen Rolle nicht zurecht. Beobachtet er daher doch einen wirklich ans Herz gehenden psychischen Nervenzusammenbruch seiner innig geliebten Tante. Von der Familie mit der Hoffnung auf Besserung an einen Psychiater zur Behandlung übergeben, gerät diese fortan in die Mühlen des bestialischen Euthanasie-Programmes. Dort kommt sie mit dem örtlichen Anstaltsleiter Professor Carl Seeband (Sebastian Koch, „Das Leben der Anderen“) in Kontakt. Der hat als glühender Rassenideologe und Mitglied der SS keinerlei Hemmungen, per Bleistiftstrich über Leben und Tod zu entscheiden. Für Menschen wie Elisabeth gibt es in den Augen der Nazis mit ihrem ideologischen Wahn vom „reinen Erbgut“ keinen Platz mehr auf der Welt.

Spruchbänder für die SED

Zeitsprung: Wir befinden uns in der noch jungen DDR der 1950er-Jahre. Kurt ist mittlerweile ein junger Mann, der glaubt, nun tatsächlich endlich die Weltenformel für sich entdeckt zu haben, das von Elisabeth prophezeite „alles“ zu verstehen. Soll sich dies zunächst als Trugschluss herausstellen, so sind vor allem seine Eltern besorgt. Erinnert sie doch sein für sie ziemlich wirr erscheinendes Gerede stark an seine Tante und deren tragisches Schicksal. Sein künstlerisches Talent vergeudet er derweil als Maler für politische Spruchbänder der SED, wie ihm sein Vorarbeiter (nächster feiner Gastauftritt: Ben Becker) wiederholt klarzumachen versucht. Schließlich lässt sich Kurt überreden und beginnt sein Kunststudium an der Hochschule in Dresden. Dies stellt sich für ihn als Glücksfall heraus, lernt er dort doch die schöne Modestudentin Ellie (Paula Beer, „Bad Banks“) kennen.

„Sieh niemals weg!“ Für den kleinen Kurt nicht immer einfach

Einziger Haken des jungen Glücks: Ellies Vater. Ist dieser doch kein Geringerer als Professor Seeband. Der ehemalige SS-Arzt konnte seine medizinischen Fertigkeiten in den Wirren nach Kriegsende nutzen, um sich bei den sowjetischen Siegern einzuschmeicheln. Nun gibt der ehemals (?) überzeugte Nationalsozialist halt den zumindest halbwegs überzeugten Sozialisten, konnte auf diese Weise sogar seinen alten Posten als Anstaltsleiter in Dresden zurückergaunern. Von dem in seinen Augen wenig ambitionierten Künstler Kurt als künftigen Schwiegersohn hält er selbstverständlich wenig, um es milde auszudrücken. Dieser wiederum ahnt nicht, welche Rolle sein Schwiegervater in spe etwa für das Schicksal seiner Tante Elisabeth gespielt hat. Wird er es jemals erfahren? Jedenfalls meistert Kurt mit Bravour sein Studium und wird zum führenden Maler imposanter und gefeierter Wandbilder, die in öffentlichen Gebäuden der Propaganda des Arbeiter-und-Bauern-Staates dienen sollen.

Modestudentin Ellie: Kurts große Liebe?

Trotz Hochzeit mit Ellie und jahrelanger, hochgeschätzter Arbeit als Wandmaler wird Klaus in der jungen DDR nie wirklich glücklich. Das Verhältnis zu seinem Schwiegervater bleibt schwierig und mit dem Nachwuchs will es auch nicht klappen. Eines Tages beendet er unvermittelt seine Tätigkeiten an den Bildern und betont gegenüber seinem verdutzten Kollegen, dies sei halt alles einfach nicht „wahr“ und daher für ihn fortan ohne Wert. Gemeinsam mit Ellie macht er „rüber“ und versucht in den 1960ern sein Glück fortan in der westdeutschen Bundesrepublik.

In Düsseldorf schummelt sich Kurt an die Kunsthochschule, dem Mekka für moderne Kunst. Im Zuge von sexueller und kultureller Revolution lassen dort die jungen Wilden sämtliche Hüllen fallen. Stilistische Grenzen? Existieren nicht. „Alles geht, nichts muss“ scheint das alles beherrschende Motto zu sein. Kurts exzentrischer Professor Antonius van Verten (Oliver Masucci, „Er ist wieder da“) hat nur zwei Bedingungen an seine Studenten: Anwesenheit bei seinen wilden, meist improvisierten Vorlesungen und bitte ja nie auf die Idee kommen, ihm jemals etwas von dem eigenen „Scheiß“ zu zeigen. Ansonsten lässt man Kurt in Ruhe, gilt Malerei doch sowieso als tot. Nach den strengen künstlerischen Vorgaben in der DDR versucht Klaus nun verzweifelt, mit Hilfe der neu gewonnenen Freiheiten endlich seine Identität als Künstler zu finden. Derweil müssen er und Ellie sich weiterhin mit seinem Schwiegervater herumschlagen, der zwischendurch ebenfalls in den Westen geflohen ist und auch dort wieder einen Posten als Anstaltsleiter ergattern konnte. „Manche Leute finden halt immer ihren Platz“, wie Kurt angewidert, aber auch ein Stück weit respektvoll anmerkt. Denn irgendwie will er es stets nicht nur sich selbst beweisen, auch seinem verhassten Schwiegervater will er endlich zeigen, dass er dessen Tochter „würdig“ ist.

Kritisch begutachtet Professor Seeband seinen künftigen Schwiegersohn

Wie man sieht: Es geschieht einiges. So droht „Werk ohne Autor“ trotz der stolzen Laufzeit nie wirklich langweilig zu werden. Ganz im Gegenteil, man fliegt dank der episodenhaften Inszenierung der ereignisreichen Geschichte förmlich durch die dreißig Jahre umspannende Handlung. Dies liegt aber nicht nur an der Fülle des Stoffes. Regisseur von Donnersmarck bringt ein wahrhaft beachtliches Gesamtkunstwerk auf die Leinwand. Sowohl sein Drehbuch als auch dessen Umsetzung haben es in sich, sodass ich am Ende geradezu traurig war, dass dieser hochinteressante und wirklich hervorragend gestaltete Film, vollgepackt mit einer ganzen Bandbreite an bedeutenden Themen, irgendwann einmal doch zu Ende gehen musste. Besonderes Kunststück ist meiner Meinung nach, wie der Regisseur es schafft, mit wenigen, dafür aber perfekt gewählten Bildern besonders wirksame Stimmungsbilder zu erzeugen: Eine Millisekunde Rückansicht vom „Führer“, der von einer von ihren Gefühlen übermannten Elisabeth einen Blumenstrauß überreicht bekommt, im Kreise der hysterisch „Heil“ kreischenden Mitglieder des BDM. Einer kurzen, aber in ihrer kühlen Präzision alles sagenden Besprechung von SS-Ärzten zum Euthanasie-Programm. Seebands Bleichstiftstrich, der über Leben und Tod entscheidet. Der Gang in die Gaskammer. Kurze, aber eindringliche Szenen zum Bomben-Inferno in Dresden und dem Schrecken an der Front – all dies reicht aus, um mit wenigen filmischen Bildern all unsere Bilder des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses zum dunkelsten Kapitel unserer Geschichte sofort in Erinnerung zu rufen. So entsteht eine perfekt gelungene filmische Umsetzung der bedrückenden Atmosphäre eines Lebens unter dem Nazi-Terror. Gleiches gilt dann glücklicherweise auch für die weiteren Epochen, die dank einer gehörigen Portion Zeitkolorit allesamt ihren eigenen Charme entwickeln. Auch wenn ich gerade die Einstiegsepisode als besonders gelungen empfand.

Von Künstlern und Fledermäusen

Besonderes Schmankerl der Hamburger Pressevorführung: Der Regisseur persönlich beglückte uns mit seiner Anwesenheit. In seiner kurzen Ansprache vor dem Film wirkte er sichtlich nervös, war die endgültige Fassung doch erst wenige Tage zuvor fertig abgemischt worden – wir waren somit das erste Publikum, das diese zu sehen bekam. Von Donnersmarck bemühte daraufhin das Gleichnis von der Fledermaus – sind Kunstschaffende doch in seinen Augen ein wenig wie eben diese erstaunlichen Tierchen, die zur Orientierung dauernd Signale aussenden, um auf deren Echo zu reagieren. Die Rückmeldungen in Hamburg dürften ihm gefallen haben. Gab es doch nach der letzten Einstellung sogar Applaus unter den versammelten Pressevertretern – mehr als ungewöhnlich für eine Pressevorführung.

Kurt und Ellie: unzertrennlich?

Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass von Donnersmarck in seiner Hauptfigur Kurt Barnert auch ein Stück von sich selbst mit eingebracht hat. Von Künstler zu Künstler sozusagen. Denn es geht vordergründig gar nicht mal nur um die großen Themen der jüngeren, deutschen Geschichte, die „Werk ohne Autor“ behandelt, auch wenn diese schon eine zentrale Rolle einnehmen. Vor allem geht es um einen jungen Kreativen auf der Suche nach sich selbst, dem Sinn des Lebens, seiner Identität als Mensch und als Kunstschaffender – nichts weniger halt als der besagten Weltenformel. Zusätzlich auch noch um die Fragen nach der großen Liebe, Familie oder dem persönlichen Glück. Und natürlich auch um Schuld und Sühne, wie sollte es im Rahmen deutscher Zeitgeschichte auch anders sein? Wird Professor Seeband, als Sinnbild für die in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten weiterhin umfangreich aktiven und einflussreichen Nazi-Verbrecher, vielleicht eines Tages für seine Taten doch noch zur Rechenschaft gezogen? Spürt er so etwas wie Reue wegen seiner Mitwirkung an der abscheulichen Euthanasie? Oder bleiben seine Überzeugungen unerschütterlich?

„Alles was wahr ist, ist schön“

Wie uns der Regisseur mitteilte, war seine Motivation allerdings weder, eine filmische Abrechnung noch eine Verurteilung von Figuren wie Seeband anzubieten – sein Bestreben lag vor allem darin, einen „ehrlichen Film“ zu erschaffen. Und so lässt er tatsächlich ziemlich wertfrei uns selbst entscheiden, was wir mit den wunderbar in Szene gesetzten Ereignissen und fein gezeichneten Figuren für uns persönlich anzufangen gedenken. Ebenso bietet er uns immer verschiedene Seiten der Medaille an, so wie das Leben an sich ja auch nie wirklich schwarz oder weiß ist. Der eigentlich intellektuelle und kultivierte Professor Seeband etwa ist zwar ein eiskalter Mörder, dabei aber vollkommen überzeugt von der Richtigkeit und Notwendigkeit seines Handelns. Und trotz seiner fehlenden Hemmungen, Menschen in den Tod zu schicken, müht er sich wiederholt ernsthaft darum, ebensolchen auch zu helfen. Auch seine Abneigung gegenüber „Taugenichtsen“ wie Kurt zum Trotze scheint er dennoch, diesen auf seine eingene, ganz spezielle Weise aus Liebe zu seiner Tochter wenigstens zu dulden – obgleich ihm das mehr schlecht als recht gelingt.

Vorlesungen, Sixties-Style: Professor Antonius van Verten

Bei aller Ambivalenz in der Figur ist der ehemalige SS-Arzt natürlich dennoch ein unglaublicher Unsympath. Wie Sebastian Koch ihn spielt, ist geradezu phänomenal. Ich glaube, dem Mann kann man einfach jede Rolle geben, irgendetwas wird er schon daraus machen. Erst kürzlich habe ich zufällig ein altes Interview mit ihm gesehen, es dürfte etwa drei Jahre alt gewesen sein. Darin sprach er auch über seine zunehmende Bekanntheit in den USA, dank Rollen in populären Serien wie „Homeland“. Er zeigte sich glücklich darüber, nun endlich in der Lage zu sein, in den USA von den typischen Rollen für deutsche Schauspieler wegzukommen: den üblichen Nazi-Schergen. Nun spielt er in „Werk ohne Autor“ aktuell ausgerechnet wieder eine dieser besagten Nazi-Figuren, auch wenn sein Professor Seeband natürlich weit mehr Facetten zu bieten hat als ein gemeinhin eher flach angelegter Hollywood-Schurke. Wie Koch hier vor allem die Selbstgerechtigkeit und Selbstherrlichkeit eines Mannes verkörpert, der, wie es aussieht, zu keinerlei Reue imstande ist, ist einfach toll anzusehen.

Professor Seeband – ein Mann ohne Reue?

Auch die restliche Besetzung ist für jeden Regisseur ein Brett. Allen voran Tom Schilling zeigt hier einmal mehr, warum er mittlerweile zur festen Größe in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft geworden ist. Seine Mischung aus bubihaftem Charme, verbunden mit charakterlicher Tiefe, Feinfühligkeit und auch Traurigkeit, passt perfekt zur Figur des Kurt Barnert als ewig Suchender. Der übrigens auf einem realen Vorbild basiert: dem Maler Gerhard Richter. Dessen Lebenslauf und sogar künstlerischen Stil als Maler hat von Donnersmarck als Inspiration für Barnerts Lebensweg in „Werk ohne Autor“ übernommen – mit vielen Freiheiten, wir haben es keineswegs mit einem Biopic zu tun. Außer den alten Recken Koch und Schilling wissen auch die weiblichen Jungstars Saskia Rosendahl und Paula Beer zu überzeugen, die erneut beweisen, dass mit ihnen in Zukunft auf jeden Fall weiterhin gerechnet werden darf. Gerade Rosendahls Verkörperung der bedauernswerten Elisabeth May beeindruckt zutiefst, sie bleibt trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Leinwandpräsenz nachhaltig in Erinnerung. Aber auch der restliche Cast ist bis in die kleinsten Nebenrollen und Gastauftritte hinein hervorragend ausgewählt worden. Auf alle angemessen einzugehen, würde den Rahmen hier sprengen.

„Sieh niemals weg!“

Dem Anspruch eines ehrlichen Films wird von Donnersmarck insbesondere im Umgang mit einem Tabuthema gerecht: die filmische Inszenierung der Gaskammer. Statt vor dem Weg in eben diese abzublenden oder auf andere Weise den Schrecken dieser monströsen Erfindung menschlicher Abgründe filmisch zu inszenieren, bleibt er mit der Kamera bis zum bitteren Ende dabei, etwas, vor dem zum Beispiel Steven Spielberg 1993 in „Schindlers Liste“ zurückschreckte. Der gezielte Einsatz der emotionalen Filmmusik von Max Richter wie auch die durch den Schnitt erzeugte Verknüpfung mit der Bombardierung Dresdens verursachte bereits auf dem Filmfest in Venedig heftige Debatten – dort feierte „Werk ohne Autor“ seine Uraufführung. Von Donnersmarck geht auf den scheinbaren Tabubruch im „Spiegel“-Interview ein: In meinem Film fordert die Tante des Künstlers ihren Neffen vor ihrer Ermordung auf, sich immer der Wirklichkeit zu stellen. […] Und dieser Aufforderung wollte ich auch beim Machen des Films treu bleiben. […] Wir haben uns dazu lange mit Experten und Angehörigen beraten. […] Wir haben die Szene am 27. Januar 2017, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, gedreht. […] Es war uns wichtig, das alles in der richtigen Haltung zu tun. Die hier geschaffene, filmische Authentizität des unvorstellbaren Schreckens macht die Szene kaum erträglich. Doch es hilft nichts, die Augen vor unserer Vergangenheit zu verschließen. Niemals dürfen derartige Bilder als Zeugnisse, wozu unbändiger menschlicher Hass führen kann, in Vergessenheit geraten. Dazu zählen meiner Meinung nach nun einmal insbesondere auch filmische Inszenierungen der bitteren Wirklichkeit, die einem zu Herzen gehen. So kann ich die Bedenken hierbei natürlich durchaus verstehen, benötigt das Thema doch einen besonders sensiblen Umgang in der filmischen Inszenierung. Aber gerade in Zeiten wie unseren, in der das gesellschaftliche und politische Miteinander zunehmend von Verrohung, Wut und Hass geprägt ist, sind diese filmischen Erinnerungsbilder umso wichtiger. Und hoffentlich wird aufgrund einer so nachdrücklichen wie auch zutiefst berührenden Inszenierung der Nazi-Verbrechen wie in „Werk ohne Autor“ auch so einigen wieder klar werden, dass nicht etwa derjenige recht hat, der am lautesten schreit, und vor allem, das spaltende und Hass säende Rattenfänger niemals eine Alternative darstellen dürfen. Sollte diese Szene also tatsächlich dabei helfen, einigen mal wieder die Augen zu öffnen – dann hat sie ihre Aufgabe erfüllt.

Meisterwerk

Allein wegen der Gaskammerszene wird „Werk ohne Autor“ zweifellos Stoff für Diskussionen liefern. Aber es ist auch richtig, wenn das so ist – solange wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen, bleibt sie lebendig. Obwohl nicht alle Kritiker meine Meinung zu teilen scheinen – ich fand den Film überragend. Aufgrund der Fülle an Ereignissen und dank einer starken dramaturgischen Inszenierung gelingt von Donnersmarck ein zeitgeschichtliches Drama, das trotz seiner immensen Laufzeit niemals langweilig wird. In Verbindung mit einem großartigen und gefühlvollen Soundtrack von Max Richter entsteht ein filmisches Gesamtkunstwerk, welches die großen Themen der jüngeren, deutschen Vergangenheit interessant verhandelt: Rassenwahn, Hass und Verbrechen. Schuld und Sühne. Vergebung. Teilung. Vergangenheitsbewältigung.

Und nicht nur die zeitgeschichtlichen Themen regen zum Mitdenken an. Es sind vor allem die zentralen Fragen auf der persönlichen Ebene, die uns alle beschäftigen und ansprechen: die Suche nach dem Sinn des Lebens, der eigenen Identität, dem eigenen Glück. Unserer ganz persönlichen Weltenformel also. „Werk ohne Autor“ hat daher für jeden etwas zu bieten, egal ob Geschichtsinteressierte, Hobbyphilosophen, Kunstkenner oder Filmliebhaber. Das Leitmotiv des Films, „Sieh niemals weg“, solltet ihr euch auf jeden Fall zu Herzen nehmen – ihr würdet sonst etwas verpassen. International wird „Werk ohne Autor“ passenderweise auch als „Never Look Away“ auf den Leinwänden dieser Welt erscheinen. Ob es nun in ein paar Monaten dann tatsächlich mal wieder einen Oscar für einen deutschen Film geben wird, tut erst einmal nichts zur Sache. Für mich ganz persönlich war die Hamburger Pressevorführung eines meiner schönsten Kinoerlebnisse der vergangenen Jahre.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Lars Eidinger und Tom Schilling haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Wird Kurt seine Bestimmung als Künstler jemals finden?

Kinostart: 3. Oktober 2018

Länge: 188 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Originaltitel: Werk ohne Autor
Internationaler Titel: Never Look Away
D 2018
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck
Musik: Max Richter
Besetzung: Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Ina Weisse, Florian Bartholomäi, Oliver Masucci, Hanno Koffler, David Schütter, Franz Pätzold, Johanna Gastdorf, Jörg Schüttauf, Evgenij Sidikhin, Hans-Uwe Bauer, Rainer Bock, Ben Becker, Hinnerk Schönemann, Lars Eidinger
Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

Copyright 2018 by Philipp Ludwig
Fotos, Filmplakat & Trailer: © 2018 Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

 

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Transit – Flucht über Marseille

Transit

Kinostart: 5. April 2018

Von Simon Kyprianou

Drama // Im Kern geht es in Christian Petzolds „Transit“ um Flucht, um Heimatlosigkeit, um das aus der Zeit und aus der Welt Fallen, und das unsichtbar Werden in diesem Zustand des Nichtdazugehörens. Das hat „Transit“ mit allen Filmen des Regisseurs gemeinsam, formuliert dessen immer schon zentrale Gespenstermetaphorik so scharf wie nie zuvor.

Georg strandet in Marseille

Das Kino ist der Ort der Gespenster und die Kinofiguren sind die Gespenster, die versuchen, sich zu materialisieren, die als untote, entwurzelte Existenzen durch die Geschichten und die Filme driften, immer in Transitorten, in Übergangssituationen gefangen, ohne irgendwo ankommen zu können. Die Kernthematik ist also dieselbe geblieben, ansonsten markiert „Transit“ einen interessanten Bruch im Werk von Christian Petzold: All seine bisherigen Filme, ganz besonders die letzten beiden, „Phoenix“ und der „Polizeiruf 110: Wölfe“, waren „Versuchsanordnungsfilme“, in denen Petzold immer beobachtet hat – er hat das oft mit Laborsituationen verglichen –, in denen stets Druck auf den Figuren war, die Figuren immer wie im Reagenzglas unter Beobachtung, jede Szene ein eigenständiger Teil des Versuchs; mit „Transit“ findet er jetzt andere ästhetische Herangehensweisen. Dieser Bruch mag damit zu tun haben, dass Petzold nach dem Tod seines langjährigen Freundes und Mitarbeiters Harun Farocki neue Wege beschreiten will oder auch damit, dass er in seinen letzten beiden Filmen das Konzept der Versuchsanordnung extrem ausgereizt hat.

In der Stadt der Geflüchteten …

In diesem Film ist alles und jeder aus der Zeit gefallen, sogar die Zeit selbst. Der Flüchtling Georg (Franz Rogowski) flieht vor den deutschen Faschisten, die immer weiter nach Frankreich vorrücken nach Marseille, aber die Welt ist nicht die der 40er-Jahre aus Anna Seghers‘ Romanvorlage, es ist die der Gegenwart, mit den Autos von heute, Smartphones von heute und Polizisten von heute. Georg soll für Freunde den schwer Verletzten Schriftsteller Weidel nach Marseille bringen, der stirbt auf dem Weg dahin, sodass Georg eher durch Zufall dessen Identität annimmt. Marseille ist der Transitort, dort treffen sich alle Flüchtenden, in den Cafés, den billigen Hotels, den Botschaften, den Transitorten – alle auf der endlosen Suche nach Visa, um in die USA oder Mexiko zu fliehen. Durch Marseille geistert auch Marie (Paula Beer), die Frau von Weidel, die von Georgs Spiel nichts weiß, und als sie aufeinandertreffen, verlieben sie sich. Und der Moment in dem die Gespenster anfangen, einander zu lieben, ist immer der Ausgangspunkt der Filme von Christian Petzold.

… trifft er auf Marie, in die er sich verliebt

Marseille ist eine Geisterstadt, man muss beim Schauen von „Transit“ unweigerlich an „Casablanca“ denken, nicht nur weil der als Stimme aus dem Off erzählende Barmann (Matthias Brandt) an Humphrey Bogarts Rick erinnert. Die Flüchtenden geistern durch Marseille, ohne Ziel und ohne Heimat, und alle haben zwar Geschichten zu erzählen – und Petzold nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören – aber alle sind am Ende ihrer Geschichten angekommen, sind aus den Geschichten herausgefallen und zu Gespenstern geworden. Eine besonders verzweifelte und traurige Flüchtende wird von Barbara Auer gespielt, ihr gehören einige der wunderbarsten Momente des Films. In Marseille macht Petzold aus dem Film dann ein Spannungsstück um die Flucht nach Mexiko, um die Liebe zu Marie – die Petzold etwas besser in die Geschichte der Flucht hätte eingliedern können, sie kommt leider etwas kurz – und am Ende werden die Menschen sprichwörtlich zu Gespenstern, und man könnte teilweise denken, in einen Brian-De-Palma-Film gerissen worden zu sein. Der Film hat viel mehr erzählerischen Fluss als Petzolds frühere Regiearbeiten, die Szenen stehen nicht mehr so stark für sich, und es gibt Filmmusik, dazu nutzt Petzold auch eine Erzählerstimme – zum ersten Mal in seiner Karriere –, die er gelungenerweise fast wie Musik einsetzt. Sowieso ist Musik wichtig für „Transit“: In einem der schönsten Momente repariert Georg ein Radio, und als es wieder funktioniert, hört man daraus das Abendlied von Hans Dieter Hüsch, das Georg an seine Mutter erinnert und das er mitsingt, ganz in der Vergangenheit versunken. In diesem Moment erinnert er sich ganz kurz daran, wie es ist, kein Geist zu sein.

Es ist ein schönes, unbedingt gelungenes Drama, das leider auf der Berlinale etwas unter dem Radar geblieben zu sein scheint, obwohl es ganz ohne Zweifel zu den besten Filmen des Festivals zählt und mit Franz Rogowski und Paula Beer zwei der interessantesten jungen deutschen Schauspieler zeigt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Franz Rogowski sind in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Doch sie ist in ihrer eigenen Gespensterwelt gefangen

Länge: 101 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Originaltitel: Transit
D/F 2018
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold, nach einem Roman von Anna Seghers
Besetzung: Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk
Verleih: Piffl Medien GmbH

Copyright 2018 by Simon Kyprianou

Filmplakat, Fotos & Trailer: © 2018 Piffl Medien GmbH / Schramm Film

 

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