Vicious Lips
SF-Horror // Blecherne E-Drums, schräge Synthie-Klänge – allein schon der Soundtrack von „Planet des Grauens“ (1986) verrät die Entstehung tief in den 1980er-Jahren. Hörproben gefällig? Bitte schön: „Save Me“ und „Reach for Your Dreams“ von Sue Saad, „Light Years Away“ von Mary Ellen Quinn. Und auch Ausstattung, Kostüme und Frisuren verraten das Jahrzehnt, ohne dass ein Restzweifel möglich ist. Hauptsache schrill!
Da es sich um eine Produktion von Charles Band und seinen Empire Pictures handelt, fällt „Planet des Grauens“ obendrein durch eine ausgesprochen billige Anmutung aus dem Rahmen. Die Handlung ist in einer Zukunft angesiedelt, in der die Menschheit interstellare Reisen unternimmt. Das Geschehen fokussiert auf der Frauen-Rockband „Vicious Lips“ (so auch der Originaltitel von „Planet des Grauens“). Die hat gerade ihre Sängerin verloren, die ausgestiegen ist und unmittelbar darauf bei einem Verkehrsunfall starb (budgetbedingt nicht im Bild, immerhin hörte man es scheppern).
Zum Glück schleppt der umtriebige Manager Matty Asher (Anthony Kentz) mit Judy Jetson (Dru-Anne Perry) zügig Ersatz von einer Talentshow an. Denn am anderen Ende der Galaxis wartet ein Gig, der den „Vicious Lips“ den Durchbruch bringen soll: Der mächtigen Musikmanagerin Maxine Mortogo (Mary-Anne Graves) ist ein Act für ihren Club Radioactive Dream verlustig gegangen und sie verlangt, dass die Lücke umgehend gefüllt wird. Also ab ins nächstbeste Raumschiff und los geht’s in Richtung Ruhm und Ehre. Der Trip endet allerdings mit einer Bruchlandung auf dem Wüstenplaneten Passion. Dummerweise befindet sich an Bord auch noch Milo the Venusian Beast (Christian Andrews), ein so monströser wie mordlüsterner Geselle.
Geht es bis dahin noch einigermaßen zusammenhängend zu, so reißt der rote Faden in der Folge ab. Das Geschehen entwickelt sich zu einem bizarren Spektakel, das irgendwo zwischen Drogentrip und surrealem Albtraum angesiedelt und mit logischen Herleitungen nicht zu greifen ist. Da tummeln sich Ghule in sonderbaren Kulissen, etwa eine Vorhanglandschaft, durch die die Opfer kreischend flüchten. Es versteht kein Mensch. Muss ja auch nicht, Trash ist eben Trash.
Parodiert Albert Pyun Horror und Science-Fiction?
Spannend gerät das Ganze zu keinem Zeitpunkt. Haben wir es mit einer Parodie zu tun? Möglich, aber was wird hier parodiert? Science-Fiction? Horror? Musical? Wenn das denn die Intention von Drehbuchautor und Regisseur Albert Pyun („Dollman“, 1991) war, hätte er sich zuvor vielleicht etwas intensiver mit dem Wesen von Parodien beschäftigt. In vielen Szenen bleibt offen, ob der Humor gewollt oder unfreiwilliger Natur ist. Mit gehörig Sympathien für Trashfilme im Allgemeinen und Charles Bands Empire-Pictures-Produktionen im Besonderen lässt sich „Planet des Grauens“ immerhin als unterhaltsam goutieren. Besonders im Mittelteil dürfte gleichwohl bei vielen die Versuchung aufkommen, die Fast-Forward-Taste auf dem Abspielgerät zu betätigen. Wer das tut, möge aber rechtzeitig einhalten, sonst verpasst man am Ende einen aus dem Nichts kommenden Twist, der alles auf den Kopf stellt. Diese überraschende Wendung erklärt tatsächlich sogar einiges! Gut finden muss man sie deshalb natürlich noch lange nicht (darf man aber).
Das kleine Label Ostalgica hat „Planet des Grauens“ im November 2020 als Mediabook veröffentlicht, das den Film auf Blu-ray und DVD enthält. Dabei handelt es sich um die erste deutsche Veröffentlichung seit der VHS von 1988. Die kompakte Edition entspricht in der Höhe den zu Unrecht viel gescholtenen Mediabooks von Plaion Pictures (vormals Koch Films), die Veröffentlichung fällt also kleiner aus als herkömmliche Mediabooks. Mit gefällt das ausgesprochen gut, und jenseits des albernen „Das sieht aber in meinem Regal neben den anderen mies aus“-Geplärres mancher Sammler gibt es auch keinen Anlass für Kritik an dem Format.
Jedenfalls strahlt die Veröffentlichung Wertigkeit aus, und das Zusatzmaterial ergänzt den Film gut, etwa der 17-minütige Soundtrack und „Trailers from Hell“ mit John Landis, eine Folge mit dem Trailer zu „Der Kopf, der nicht sterben durfte“ (1962), einem Film, den Ostalgica ebenfalls veröffentlicht hat. Ostalgica hat zudem eigens einen knapp 19-minütigen Videokommentar produzieren lassen. Darin tauschen sich Thorsten Hanisch und Andrea Sczuka über „Planet des Grauens“ aus (sie kommt für mein Empfinden etwas zu kurz) – das lässt sich schauen, hat mir allerdings keine bedeutsamen neuen Erkenntnisse gebracht. Im Booklet erörtert Frank Stegemann kenntnisreich einige Aspekte rund um die Produktion. Das Label hat das Mediabook auf 1.000 Exemplare limiert, im Handel finden sich aber noch Exemplare. Zugreifen, Leute! Ob dieser Text eher als Warnung oder eher als Empfehlung zu interpretieren ist, liegt wohl im Auge des Betrachters und der Betrachterin. Ich wasche meine Hände in Unschuld!
Abschließend zu Albert Pyun: Zu den bekanntesten Arbeiten des am 19. Mai 1953 in Hawaii geborenen Drehbuchautors und Regisseurs zählen die vier von 1992 bis 1997 entstandenen SF-Actionfilme der „Nemesis“-Reihe. Am bekanntesten ist wohl das Jean-Claude-Van-Damme-Vehikel „Cyborg“ (1989), eine Produktion von Cannon Films. Pyun drehte von seinem 1982er-Regiedebüt „Talon im Kampf gegen das Imperium“ bis zu seiner letzten Arbeit „Death Heads – Brain Drain“ (2018) etwa 50 in der Regel niedrig budgetierte Filme. 2013 offenbarte er, an Multiple Sklerose erkrankt zu sein, ein paar Jahre später kam eine Demenz hinzu. Albert Pyun starb am 26. November 2022 im Alter von 69 Jahren in Las Vegas. Er ruhe in Frieden.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Albert Pyun haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.
Veröffentlichung: 27. November 2020 als 2-Disc Special Edition Mediabook (Blu-ray & DVD, limitiert auf 1.000 Exemplare)
Länge: 81 Min. (Blu-ray), 78 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: Vicious Lips
USA 1986
Regie: Albert Pyun
Drehbuch: Albert Pyun
Besetzung: Dru-Anne Perry, Gina Calabrese, Linda Kerridge, Shayne Farris, Anthony Kentz, Christian Andrews, Mary-Anne Graves, Jeff Yesko, Eric Bartsch, Brian Maguire, Don Barnhart Jr., Angela O’Neill, Steve Donmyer, Jacki Easton Toelle, Tanya Papanicolas, Laurie McIntosh
Zusatzmaterial: Videokommentar mit Thorsten Hanisch und Andrea Sczuka (18:46 Min.), Soundtrack (17 Min.), Bildergalerie, „Trailers from Hell“ mit John Landis zu „Der Kopf, der nicht sterben durfte“ (2:08 Min.), 24-seitiges Booklet mit einem Text von Frank Stegemann
Label: Ostalgica
Vertrieb: Media Target Distribution GmbH
Copyright 2023 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Ostalgica