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Der Erbarmungslose – Antiwestern à la française

22 Apr

La horse

Von Tonio Klein

Thriller // Die Genre-Zuschreibung fällt diesmal schwer. Der große Serge Gainsbourg, der die Filmmusik beigesteuert hat, gibt vielleicht einen Hinweis. Zwischen poppige, Cembalo-dominante Klänge mischt sich US-Volksmusik der Hillbillys, bei der das Banjo den Ton angibt. Obwohl die Romanvorlage von Michel Lambesc in der Série Noire erschienen ist, erzählt „Der Erbarmungslose“ eine Geschichte, die auch ein Western sein könnte. Ein bis ins Letzte französisches Setting verschmilzt zu etwas Universellem, so wie auch ein paar große Western nur sekundär mit den großen Mythen der US-Geschichte verknüpft sind. Zudem kam der Film zur rechten Zeit, in der auch im US-Western die alte Ordnung hinterfragt wurde. Der Patriarch einer Großfamilie, der auf seiner Ranch nicht nur Familienoberhaupt, sondern auch Justiz – und vor allem Justizvollzug – war, schien ausgedient zu haben.

Power to the Bauer

Wirklich? Bauer Auguste Maroilleur (Jean Gabin), der schon Enkel im Erwachsenenalter hat, herrscht mit eiserner Hand über Hof und Familie. Seinen Beruf benennt er in einem Verhör als „Grundbesitzer“. „Das ist doch kein Beruf?“ „Für mich ist es einer.“ Beruf kann eben auch Berufung sein. Zum „Besitz“ gehört offenbar auch die Großfamilie, wobei Maroilleur keinen Hehl daraus macht, dass die Angeheirateten nicht so richtig dazugehören. Enkel Henri (Marc Porel) ist offenbar mit der ihm zugedachten Rolle als Erbe unglücklich, laviert zwischen Studiengängen und Jobs und ist nebenbei in Drogengeschäfte verwickelt. Aber doch bitte nicht auf Maroilleurs Grund und Boden! Das weiß „der Alte“, wie er oft genannt wird, mit Schrotflinte und Fußangeln zu unterbinden. Womit er einen Krieg gegen Gangster auslöst …

Marouilleur auf der Pirsch – aber was oder wen jagt er?

An dieser Stelle möge die Inhaltsangabe abgebrochen werden. So wie das in den USA vielleicht ein (1970 aber zu junger) Charles Bronson gespielt hätte, agiert Legende Jean Gabin mit stoischer Miene. In seinen kleinen Gesichtsregungen zeigt sich aber auch der Wille, das zusammenzuhalten, was seine Figur wohl als ihr Lebenswerk ansieht. Der „Evangelische Film-Beobachter“ hat das meines Erachtens nicht verstanden und urteilte moralinsauer: „Der Film rechtfertigt autoritäres und diktatorisches Verhalten und verbreitet eine reaktionäre Auffassung von Recht, Gesellschaft und Ordnung.“ Das alte Problem jeder erzählenden Kunstform: Identifiziert sich ein Werk mit dem, was es zeigt? Es sei mit einer typischen Floskel aus meinem Hauptberuf, der Juristerei, geantwortet: Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalles (ich kenne die anwaltliche Formulierung „Es kommt darauf an.“ Anm. des Korrektors). Im Fall „Der Erbarmungslose“ würde ich dem Zitat widersprechen. Der Film wertet nicht. Darüber kann man natürlich streiten, und so möge der folgende Versuch ein Angebot sein, den Thriller selbst mal zu sehen und sich eine Meinung zu bilden.

Noch sind sie auf Entenjagd

Das Leben auf dem Hof wird uns von Anfang an trotz der weitläufigen Felder und des großzügigen Wohnhauses als Leben in bedrückender Enge gezeigt. Über Rituale wie das pünktliche Mittagessen (natürlich mit Weißbrot und Rotwein) und das obligatorische Wangenküsschen legt sich der Mehltau der Anspannung, weil alle irgendwie Angst vor dem Alten haben. Die Stimmung ist mächtig unterkühlt. Nicht nur der Dialog betont, dass das ein „huis clos“ ist, eine abgeschlossene, archaische Welt. Eine Welt, in der die Zeit stehengeblieben ist. Die Wanduhr zeigt mehrfach die Essenszeit an – zwölf Uhr mittags. Um zwölf läuft einmal auch ein Ultimatum der Gangster ab, das Maroilleur ignoriert. High noon in Frankreich. Später demolieren die Ganoven (unter anderem) die Uhr. Egal, die Zeit ist auf dem Hof sowieso stehengeblieben. Beispielsweise fehlt in dem Anwesen offenbar etwas, das sich 1970 nun wirklich schon in nahezu jedem Haushalt befand: ein Fernseher. Und über der Essenstafel thront ein leicht nach unten gekippter Spiegel, sodass die Familie nur auf sich selbst schaut statt in die Außenwelt. Der Dialog hätte eigentlich gar nicht mehr erklären müssen, dass sich die Zeiten „draußen“ geändert haben, aber „hier“ nicht. Maroilleur macht mit seinem immerhin 24-jährigen Enkel, was man nun wirklich nicht mit Menschen – Kindern wie Erwachsenen – machen darf. Er hält obendrein alle äußeren Einflüsse fern. Und er hält alles fest, was nach außen dringen könnte. „Keine Polizei“ ist, wie alles, was er sagt, ein Befehl! Ganz offen wird er der Polizei sagen, dass man nicht „seine Leute“, sondern ihn verhören möge, da er für sie spreche.

Der Jagdstand als Drogenversteck? Nicht mehr lange

Dabei wird sich seine Bereitschaft, sich dann auch stellvertretend verhaften zu lassen, als nur scheinbar noble Geste entpuppen. Er wird nämlich weiterhin das Strippenziehen versuchen, um sich bloß nicht sein Reich und seine Macht nehmen zu lassen. Der Film stellt das Vorgehen indes massiv durch seine Bilder infrage. Auffällig ist beispielsweise die Rolle von Tieren und die gegen sie verübte Gewalt. Flugenten werden von Maroilleur und seinem Knecht Bien-Phu (André Weber) geschossen. Die Gangster fahren mit einem Jeep das Vieh auf der Weide tot. Obwohl Ersteres eine gerade in Frankreich weitverbreitete Beschäftigung ist und Letzteres purer Sadismus, gleichen sich die Bilder. Die vielen blutigen Nahaufnahmen-Inserts sind nicht schön! Die als Zweites genannte Szene dauert quälend lange Minuten. Und dies ist entgegen meinem ersten, spontanen Eindruck absolut berechtigt, weil die Reaktion Maroilleurs selbigen in ein doch sehr zweifelhaftes Licht rückt. Das alles scheint ihm als Kollateralschaden egal, solange er nur sein Herrschaftsreich aufrechterhalten kann. Nein, das ist kein Bauer, der sein Vieh liebt.

Von Rindern und Menschen

Und seine Leute liebt er auch nicht, denn auch denen wird es auf übelste Weise ans Leder gehen. Dass dies auch als Kollateralschaden verbucht wird, ist schon ungeheuerlich. Maroilleur ist jemand, der nur sich selbst liebt, dazu etwas, das er als Ideal einer alten Ordnung ansieht. Er merkt nur nicht, dass er gar nicht mehr weiß, warum sie schützenswert sei. Damit ist er ein tragischer Verlorener. In älteren Western, selbst in sehr guten wie „Weites Land“ (1958) von William Wyler, waren solche Schlachtrösser (damals Charles Bickford) dem Untergang geweiht. Der vorliegende Film hingegen hält eine für die gesamte Hofgemeinschaft andere Lösung parat. Sie ist höchst beunruhigend und verdient kaum ein Wort wie „Lösung“ (oder ein anderes wie Schluss, Ausgang, Ende, Finale – eher ist alles auf Anfang). Sie ist aber meines Erachtens keine Rechtfertigung; da bin ich ein anderer Filmbeobachter als der evangelische. Der Film hat keine glorifizierende Haltung. Er zeigt Abgründe der (familiären) Macht. Damit hat er dann schon eine Haltung, aber drängt sich nicht auf. Zeigen, nicht sagen, so lautete ein Motto Billy Wilders. Der Film von Pierre Granier-Deferre macht vor allem dies. Manchmal minimal überpointiert: Müssen wir dreimal sehen, wie einer der Städter-Verbrecher mit seinen guten Schuhen in den Matsch von Weideland und Hof latscht? Aber geschenkt: Gerade der ambivalente Schluss offenbart, dass einfache Antworten nicht zu haben sind. Also: selbst sehen, was in guter Qualität möglich ist. Bitte aber zunächst die Augen vom „Booklet mit vielen Bildern und Infos“ abwenden, welches Pidax Film mit diesen Worten reichlich schönfärberisch anpreist. Es handelt sich um einen Nachdruck des deutschen Filmprogramms, und diese Filmprogramme enthalten neben Angaben zu Stab und Besetzung stets eine Inhaltsangabe, die wirklich alles verrät. Was im Original gleichwohl schöne Sepia-Sammlerobjekte in DIN A4 sind, verkommt im Mini-Format mit fragwürdiger Fotoqualität und ohne Sepia-Einfärbung zu einem eher verzichtbaren Extra.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Jean Gabin haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Hier machen wir noch alles selbst – auch Patronen

Veröffentlichung: 24. April 2020 als DVD

Länge: 77 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: keine
Originaltitel: La horse
F/IT 1970
Regie: Pierre Granier-Deferre
Drehbuch: Pascal Jardin / Pierre Granier-Deferre
Besetzung: Jean Gabin, André Weber, Marc Porel, Eléonore Hirt, Christian Babier, Reinhard Kolldehoff, u. v. a.
Zusatzmaterial: Kinotrailer, Trailershow, Wendecover
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Pidax Film

 

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