
Sister, Sister
Von Tonio Klein
Horrorthriller // Es ist heiß und feucht in den Sümpfen Louisianas, und das eine wie das andere macht sich Bill Condons Erstlingswerk sogleich für eine erotische Anfangssequenz zunutze. Das Bild in goldgelbe Farben getaucht, unter anderem durch jede Menge natürliche Kerzenbeleuchtung, finden sich in einem Raum neben Engelsfiguren, wenn man aufmerksam hinschaut, drei Affen. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Ein Mann und eine Frau (Jennifer Jason Leigh) haben Sex. Nicht nur in dieser Szene spiegelt sich das an Fensterscheiben vom heftigen Regen herunterrinnende Wasser auf gegenüberliegenden Wänden. Das Wasser bricht dann sogar aus allen Wänden in das Zimmer des Geschehens ein und droht die Frau zu verschlingen. Du liebe Zeit, was hat Condon schon in diese Szene für eine gleichsam schwülstige und beunruhigende Symbolik gelegt!

Etienne (l.) spricht eine Warnung aus
Und die Rechnung geht auf – jedenfalls, wenn man es gern schwülstig, heftig und hart an der Grenze des Opulent-Überladenen mag. Dies ging damals nur wenigen Zuschauern so, sodass der Film ein Misserfolg war, was Pidax eher ungeschickt zu verschweigen versucht. Also wirklich, einfach auf dem Cover aus Wikipeda zu zitieren, dass der Streifen eine dreiviertel Million Dollar eingespielt hat, wo man mit wenig Filmwissen ahnen kann, dass er bedeutend mehr gekostet hat. Nun denn, Condon wurde später zu einem angesehenen Regisseur, der sogar (indes „nur“ als Drehbuchautor) am Oscar-Abräumer „Chicago“ (2002) beteiligt war. Hier berichtet er in dem sehr hörenswerten Audiokommentar von seinen filmischen Gehversuchen, die ihm noch nicht größtmögliche Freiheit boten. So griff er beherzt zu, als man ihm die Möglichkeit bot, „irgendwas mit Horror, den Sümpfen von Louisiana und Alligatoren“ (von denen nur einer kurz hereinschnappt) zu machen. Heraus kam ein Psychothriller mit eigenwillger Kraft, der gelungen ist, aber immer aufpassen muss, dass er mit dieser ganzen Kraft auch noch laufen kann.
Beunruhigende Familienbande und Sidekicks
Charlotte (Judith Ivey) und ihre deutlich jüngere Schwester Lucy (Jennifer Jason Leigh) betreiben das im Deutschen titelgebende Hotel im Todesmoor, das genauso opulent wie in jeglicher Hinsicht versunken erscheint. Dabei fragt man sich, ob Charlotte die jüngere Schwester beschützt oder unmündig hält oder sich das eine mit dem anderen vermischt. Lucy scheint eine psychisch labile Person zu sein, die Schreckliches erlebt hat, auch schon einmal in Behandlung war und Charlotte zufolge regelmäßig eine Medizin nehmen muss. Charlotte ist so stark an die Schwester gebunden, dass sie die Hochzeit mit ihrem Verlobten Cleve (Dennis Lipscomb), dem örtlichen Sheriff, seit Jahren aufschiebt, bis er die Beziehung beenden will. Der junge Etienne (Benjamin Mouton), der in einer Holzbaracke am Sumpf wohnt und im Hotel arbeitet, hat ein Auge auf Lucy geworfen, aber darüber wacht nicht nur Charlotte mit Argusaugen. Auch der archetypische geheimnisvolle Fremde (ist er etwa der Mann aus der anfänglichen Bettszene?) betritt die Szene, als Hotelgast Matt (Eric Stoltz). Schon Alfred Hitchcock wusste, dass man einen Eindringling am besten zeigt, indem man ihn nicht erscheinen lässt, sondern er ohne Auftritt plötzlich einfach da ist – und stört, so wie das namenlose Hausmädchen in „Rebecca“ (1940). Hier nun unterbricht Matt das Knutschen Etiennes mit der gleichsam willigen wie ängstlichen Lucy. Etienne, der mit Matt am nächsten Tag eine Bootstour unternimmt, zeigt diesem auch gleich, dass man seine Lucy nicht anfasse, und richtet sein Gewehr auf Matt, bevor er einen Vogel schießt. Hinzu kommen drei Hotelgäste als Comic Relief: eine resolute ältere Frau (Anne Pitoniak) mit Tochter (Natalia Nogulich), beide in übertrieben bunter Aufmachung, und Schwiegersohn (Richard Minchenberg) als Faktotum und graue Maus, der die Koffer schleppt und sicherlich bewusst als stumme Rolle ausgestaltet ist.

Gibt Lucy sich hin …
Das alles, da trifft der Klappentext zu, lässt Reverenzen an Alfred Hitchcock erkennen; so die süffisanten und doch hellsichtigen Kommentare der Alten („Die sind verknallt“), die beim Altmeister vielleicht von Thelma Ritter gespielt worden wäre. Und natürlich die Fährten, von denen man eine liebe lange Weile nicht weiß, ob sie falsch sind. Die junge, eingeschüchterte Frau, die (vielleicht) durch eine „Medizin“ langsam vergiftet wird, wie zum Beispiel in „Berüchtigt“ (1946) und „Sklavin des Herzens“ (1949). Die unter einem Vergangenheitstrauma leidet und sich schuldig fühlt für etwas, das vielleicht ganz anders war. Jenseits dieser großen Linien gibt es auch direkte Zitate wie einen Messer-Mord, bei dem das Opfer (männlich) eher in das Messer des Täters (weiblich) hineinläuft, als es in den Leib gerammt zu bekommen. Dies war schon in „Sabotage“ (1936) eine Schlüsselszene.

… oder leistet sie Widerstand?
Bei alldem gelingen Condon lange, dialoglose Sequenzen, die von einer zwar nicht innovativen, aber versierten Montage leben. Der Film ist „im Schneideraum gemacht“, wenn etwa des Nachts alle Personen sich betten, die Alte noch einmal an den Kühlschrank geht, ein Hund auch was vom Kuchen abhaben will. Tür, Flur, Hund, Frau, Schatten, Hund … minutenlang geht das so, und das Grausame wird in unserem Kopf geschehen. Bis es lange Zeit später eine der Protagonistinnen entdeckt und die Kamera auf den Suspense die Surprise folgen lässt; mit einer zoomlosen schnellen Schnittfolge bis heran an ein Auge. Brian De Palma hat so gearbeitet, in „Teufelskreis Alpha“ (1978), und auch eine Badewannenszene erinnert an ihn: immer wieder Wasser, nicht nur das des heftigen Regens, auch das des „Abwaschens“ wie beim Blut von „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“ (1976). Und im allerdings späteren „Femme Fatale“ (2002) war einer Frau eine volle Badewanne das Tor zu einer anderen Welt, zu einem anderen Leben. Hier nun ist es das Tor zur Vergangenheit und damit die Chance – für Lucy, für uns – zu begreifen, was wirklich geschehen war, vor Jahren. Ob das Wasser der Sümpfe dieses Geheimnis schlucken konnte oder wieder ausspucken wird?
“Sister, Sister“ und „Brother, Brother“
Das wird durchaus aufgelöst werden, und es sei angedeutet, dass Matt ein Bruder-Geheimnis hat, welches Spiegelbild zum Schwester-Geheimnis ist. Überhaupt, komplementär zur Wasser-Symbolik steht der kunstvolle und kluge Einsatz von Spiegeln. Sie lassen die beiden Frauen zweigeteilt erscheinen oder das Böse, Verdrängte durch einen Spiegel kommen, so wie durch die Wasseroberfläche des Regenfilms, der Badewanne und natürlich der Sümpfe, die alles Mögliche widerspiegeln. Da geht Condon in die Vollen und am Ende vielleicht ein bisschen zu weit. Lucy hat bereits relativ früh in einer mit schauerlichem Ernst vorgetragenen Geistervision das psychologische Horror-Element vorweggenommen, das sich Bahn brechen wird. Indem ihre Geister am Ende Gestalt annehmen, geht ein Stück des Zaubers verloren. Insgesamt aber immer noch ein faszinierender Film, der funktioniert, wenn man sich auf seine ganz spezielle Atmosphäre einzulassen bereit ist.

Der Golf ist ganz dicht – aber Matt?
Leider kann das Bild der DVD nicht so ganz überzeugen, wobei zu dem Feuchtwarmen von Gegend und Befindlichkeiten ein allzu scharfes Bild gar nicht passen würde. Aber dass die Farben mitunter arg zerlaufen und man Streifen und Flecken sieht, die in Endlosschleife langsam anschwellen und wieder verschwinden, ist dann doch nicht der intendierten Stimmung geschuldet.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Jennifer Jason Leigh haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Eric Stoltz unter Schauspieler.
Veröffentlichung: 20. Mai 2020 als DVD
Länge: 86 Min.
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Sister, Sister
USA 1987
Regie: Bill Condon
Drehbuch: Ginny Cerrella, Joel Cohen, Bill Condon
Besetzung: Eric Stoltz, Jennifer Jason Leigh, Judith Ivey, Dennis Lipscomb, Anne Pitoniak
Zusatzmaterial: Audiokommentar Bill Condon, entfernte Szenen, Trailer, Trailershow, Wendecover
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG
Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Pidax Film
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …