Tenki no ko
Von Lucas Gröning
Anime-Fantasy-Drama // Makoto Shinkai zählt ohne Frage zu den aufregensten Anime-Regisseuren unserer Gegenwart. Bereits seit 1999 ist der Filmemacher im Geschäft tätig, er bereicherte die Filmlandschaft mit Werken wie „The Place Promised in Our Early Days“ (2004) und „The Garden of Words“ (2013). Das führte dazu, dass ihm in Anlehnung an den legendären Anime-Regisseur zahlreicher Studio-Ghibli-Filme bereits des Öfteren die Zuschreibung verliehen wurde, er sei „der neue Hayao Miyazaki“. Ob sich Shinkai tatsächlich bereits auf einem Niveau mit dem Schöpfer von beispielsweise „“Mein Nachbar Totoro“ (1988) und „Prinzessin Mononoke“ (1997) bewegt, ist eine müßige Diskussion, zumal die Filme stilistisch und thematisch doch enorme Unterschiede aufweisen. Begnügen wir uns daher zunächst mit der Feststellung, dass Shinkais Werke wichtig, intelligent sowie aktuell sind und ästhetisch herausragendes Kino bieten. Vor allem seine Regiearbeit „Your Name“ (2016) kann dabei ohne Umschwünge zu den modernen Meisterwerken dieser Form des Mediums Film gezählt werden und hat sich bereits den Status eines modernen Klassikers erarbeitet. Bezeichnend für den in Deutschland ab sechs Jahren freigegebenen Film war vor allem der zunächst kindliche Anschein, welcher jedoch mit voranschreitender Handlung einer emotionalisierenden Ernsthaftigkeit wich, die mit der Thematisierung hochphilosophischer und tiefenpsychologischer Aspekte einherging. Wer „Your Name“ gesehen hatte, musste zu dem Schluss kommen, dass hier heranwachsenden Zuschauenden bereits, im positivsten Sinne, enorm viel zugemutet und abverlangt wurde, nicht zuletzt begründet durch den hohen Anteil von Negativität und Ambivalenz. Es ging eben nicht alles einfach nur gut aus und war moralisch eindeutig, viel mehr wurde das Publikum zum Reflektieren über das Wahrgenommene angehalten. Shinkais neuester Film, „Weathering with You – Das Mädchen, das die Sonne berührte“, welcher 2019 ins Kino und vor Kurzem in verschiedenen Heimkino-Veröffentlichungen auf den deutschen Markt kam, setzte diesen Stil fort. Wie sich das ausdrückt, soll Gegenstand der vorliegenden Betrachtung sein.
Zunächst zur Handlung: Diese dreht sich um den 16-jährigen Hodaka Morishima, der von zu Hause ausreißt, um in die große Stadt zu gehen – nach Tokio. Dort hat er aufgrund seines Alters Schwierigkeiten, einen Job zu finden, und droht, auf der Straße, umgeben von teils zwielichtigen kriminellen Gestalten, zugrunde zu gehen. Schlussendlich findet Hodaka Unterschlupf in der kleinen Redaktion von Keisuke und Natsomi Suga, die mysteriösen, scheinbar übernatürlichen bis okkulten Vorkommnissen auf den Grund gehen. Die Bezahlung ist zwar alles andere als gut, jedoch bieten die beiden Hodaka eine Bleibe und Verpflegung. Im Zuge der Recherche zu einer interessant anmutenden Story treffen Hodaka und Natsumi auf Hina Amano, ein gemeinsam mit seinem kleinen Bruder Nagisa in ärmlichen Verhältnissen lebendes und auf sich allein gestelltes Mädchen, das jedoch eine besondere Fähigkeit hat: Sie kann durch ein bestimmtes Gebet die Sonne hervorrufen. Hadoka schlägt ihr vor, dass sie ihre Gabe im stets verregneten Tokio vermarkten und gegen Geld als Dienstleistung anbieten könne. Der so anvisierte Weg aus der Armut stellt sich zunächst als fruchtbar heraus, geht jedoch mit einem furchtbaren Malus einher, den die Protagonisten erst viel später registrieren sollen.
Die Montagesequenz als Referenz
Bereits aus dieser kurzen Inhaltsangabe lässt sich vermutlich eine Dramaturgie herauslesen, die derer von Shinkais vorherigem Film „Your Name“ auf den ersten Blick ähnelt. Auch in diesem beginnt die Geschichte durchaus fröhlich, kindlich und transportiert eine wunderbare Naivität, wandelt sich jedoch zu einem ernsten Anliegen und bietet großes Schockpotenzial für jene, die glaubten, die wahrgenommene Heiterkeit würde sich bis zum Ende durchziehen. „Weathering with You“ bietet hierbei eine angenehme Weiterentwicklung seines Vorläufers und präsentiert sich insgesamt noch ambivalenter. So startet der Film durchaus düster und schlägt durch die verzweifelte Jobsuche seiner Hauptfigur, einhergehend mit der Angst zu verhungern, bereits sehr ernste Töne an, orientiert sich jedoch an der Oberfläche, vor allem anhand der Dialoge, immer noch am Stil von „Your Name“. Höhepunkt der angesprochenen Ernsthaftigkeit stellt sicherlich der Einsatz eines zufällig gefundenen Gegenstandes dar, der so gar nicht in die kindlich anmutende Welt des Films hereinpassen will und somit als Markierung innerhalb der Diegese zu verstehen ist, dass das Gezeigte den jüngeren Zusehern ähnlich viel abverlangt, wie „Your Name“ es das bereits tat, wenn nicht mehr. Diese Ernsthaftigkeit weicht mit Hodakas Eintreffen in der Redaktion und der damit einhergehenen vorläufigen Existenzsicherung. Ab diesem Zeitpunkt scheint sich alles in Wohlgefallen aufzulösen – eine Vermutung, die sich auf den ersten Blick auch stilistisch durch eine Parallele zum nun bereits mehrfach, jedoch gerade aufgrund seiner hohen Bedeutung notwendigerweise erwähnten „Your Name“ transportiert.
Gemeint ist das Stilmittel der Montagesequenz, um, begleitet von japanischer Popmusik, möglichst viele Informationen in möglichst wenig Zeit zu übermitteln oder anders formuliert: innerhalb weniger Minuten viel Zeit innerhalb der Geschichte vergehen zu lassen. Ein bekanntes Beispiel für diese Form der Montage findet sich in Brian De Palmas „Scarface“ (1983), in welchem der Aufstieg des Protagonisten Tony Montana, begleitet von Paul Engemanns extra für den Film aufgenommenen Song „Push It to the Limit“, innerhalb weniger Minuten gezeigt wird, obwohl der dargestellte zeitliche Rahmen mehrere Monate umspannt. In „Your Name“ wird dieses Mittel kurz vor der Hälfte des Films eingesetzt, um den Briefverkehr zwischen den Protagonisten darzustellen und deren reales Treffen vorzubereiten. Alles erscheint dabei schön und harmonisch und eigentlich warten wir als Zuschauende nur noch auf das glückliche Zusammentreffen der beiden Figuren, müssen jedoch, ohne zu viel zu verraten, bald darauf einen großen Schock hinnehmen. „Weathering with You“ wiederum setzt die Montagesequenz an zwei essenziellen Stellen ein, beide zeigen die Reife, die Makoto Shinkai seither als Filmemacher durchgemacht hat. Ich möchte beide Sequenzen und ihre potenzielle Wirkung auf verschiedene Zuschauerschaften an dieser Stelle kurz erläutern um klarzustellen, was ich mit Reife meine. Die erste hier erwähnte Sequenz findet sich in der Darstellung von Hodakas Arbeit in der Redaktion, die von ähnlich poppigen Klängen begleitet wird, wie das in „Your Name“ der Fall ist. Als Zuschauer, der Shinkais vorheriges Werk noch nicht gesehen hat, stellt dies ebenfalls ein „Ankommen“ in jenem Sinne dar, wie Hodaka es im Rahmen seiner Anstellung erfährt. Leicht verfällt man dem Glauben, dass nun alles gut wird, gerade nach den zuvor sehr ernsten und im Ansatz durchaus bereits schockierenden Szenen.
Zwei Formen der Zuschauerschaft
Gleiches gilt für die zweite Sequenz in dieser Form, welche zeigt, wie Hina ihre Fähigkeit, begleitet von Hodaka, gegen Geld zur Unterstützung verschiedener Menschen einsetzt. Sahen wir zuvor bereits, wie Hodakas Geschichte scheinbar zu einem positiven Ende gekommen ist, geht es nun lediglich darum, Hina und ihren Bruder in gewisser Weise zu erretten – eine Schicksalswendung, die sich durch den Einsatz der Montage zu bestätigen scheint. Sieht man diese Sequenzen jedoch mit den Augen von jemandem, der über ein gewisses Vorwissen bezüglich der Werke Makoto Shinkais verfügt, so erlischt diese Illusion von einem Auflösen der Geschichte. Vielmehr fungieren sie als Markierung für den mit Vorwissen Zuschauenden, dass der große Knall gerade trotz des schönen und harmonischen Scheins noch kommen könnte und sehr wahrscheinlich kommen wird. Shinkai bereitet seinen Film also in gewisser Weise für zwei verschiedene Zuschauerschaften auf: zum einen für den unwissenden, nicht mit seinem Werk vertrauten Zuschauer, für den die Katastrophe nach der Harmonie einen Schlag in die Magengrube bedeutet. Zum anderen für jenes Publikum, welches ein gewisses Vorwissen mitbringt und somit die Katastrophe bereits erahnen kann – oder anders formuliert: jenes Publikum, welches gerade aufgrund seiner Vorkenntnis in die Lage gebracht wird, die Macht des Regisseurs, die sich durch die Wendungen bezüglich des Narrativs ausdrückt, außer Kraft zu setzen und sich stattdessen auf die Form und ästhetische Schönhet des Films zu konzentrieren.
Für das zweite Exemplar des Zuschauenden stünde demnach die Form von „Weathering with You“ viel mehr im Vordergrund als das bloße Narrativ. Erst so entfaltet der Film tatsächlich das volle Potenzial seines Daseins als ästhetische Erfahrung. Man kann also sagen, dass Shinkai hier zeigt, dass er sich seines Stellenwertes als Filmemacher spätestens seit „Your Name“ durchaus bewusst ist und bei seinem aktuellen Film speziell darauf geachtet haben mag, verschiedene Zuschauerschaften gleichermaßen zu adressieren. Dieses Bewusstsein für die eigene öffentliche Persona, das Spiel mit dieser und die Tatsache, dass ein Film aus beiden Publikumsperspektiven funktioniert, stellt eine klare Weiterentwicklung des Regisseurs dar und zeigt jene Reife, über die er mittlerweile zu verfügen scheint. Dahingehend drehte Shinkai also nicht bloß einen Film mit einer spannenden und ansprechenden Geschichte, die ästhetisch dazu noch hervoragend aufbereitet wurde, vielmehr ging er mit „Weathering with You“, wie die ganz großen Regisseure es irgendwann ebenfalls taten, dazu über, Film auch als metaphysische, selbstreflexive Erfahrung zu begreifen und den Platz des Regisseurs innerhalb der Publikumsrezeption ebenfalls zu hinterfragen, einzuordnen und sich dieses Bewusstsein zunutze zu machen.
Ein Film mit politischer Sprengkraft
„Weathering with You“ stellt auch in anderer Hinsicht eine Weiterentwicklung des Regisseurs dar, nämlich bezüglich der gesellschaftlichen Relevanz. Sein neuestes Werk zeichnet sich vor allem durch eine enorme politische Schärfe aus, die man in Shinkais bisherigen Filmen nur unter der Oberfläche vorfindet. „Your Name“ beispielsweise thematisierte, vor allem in der ersten Hälfte, besonders stark die Unterschiede zwischen dem japanischen Stadt- und Landleben, flüchtete sich in der Folge jedoch vermehrt in die Darstellung überzeitlicher Fantasy-Aspekte und die Psychologisierung seiner Figuren. Zwar verfügt auch die zweite Hälfte über einige klar politisch konnotierte Themen, beispielsweise die gleichsam langsame wie naive Arbeit von Beamtenstrukturen, einhergehend mit dem tendenziell autoritären Charakter von Führungspersonal, wirklich im Vordergrund stehen diese Aspekte allerdings nicht. „Weathering with You“ gibt sich dahingehend wesentlich radikaler und bearbeitet durchaus präzise, und trotzdem kindgerecht, aktuelle, relevante Diskussionen, beispielsweise rund um die negativen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs und die Lösung der Klimakrise, das generelle Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum sowie die Auflösung bürgerlicher Familienstrukturen zur Entfaltung des selbstbestimmten Subjekts. Hinsichtlich dessen wird beispielsweise auch die Möglichkeit einer Ersatzfamilie diskutiert, die in keinem unmittelbaren Verwandtschaftsverhältnis zum Individuum steht. Der Film liefert somit auf mehreren Ebenen durchaus plausible, wenn auch nicht wirklich neue Diskussionsbeiträge, die aber gerade durch die mittlerweile gewonnenen Popularität des Regisseurs von enormer Relevanz und Wichtigkeit sein können.
Final sei erwähnt, dass „Weathering with You“ ein wirklich fantastischer Film ist, dessen Sichtung in jedem Fall lohnenswert ist. Er erreicht hinsichtlich der emotionalen Tragweite nicht die Qualitäten des herausragenden Vorgängers „Your Name“, und auch ästhetisch stellen die großartigsten Momente eher Zitate aus dem Meisterwerk von 2016 dar. Makoto Shinkais aktuelles Werk ist aber in mehrerer Hinsicht eine Weiterentwicklung. Das fängt bei einem präsenten Bewusstsein hinsichtlich der Rolle des Regisseurs, seiner Popularität und seiner Verbindung zum Publikum an und kulminiert in der politischen Sprengkraft, die „Weathering with You“ potenziell zu bieten hat. Zwar dürfte der Film für den Großteil der jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauer eine spannende, wunderschöne, wenn auch herausfordernde Fantasy-Geschichte bleiben, doch Shinkai bietet hier auch für den erwachsenen Zuschauer noch mehr Fleisch und Auseinandersetzungspotenzial als in seinen bisherigen Filmen. In jedem Fall handelt es sich hier um einen Anime, den man gesehen haben sollte und somit wohl den nächsten Schritt von Makoto Shinkai, um möglicherweise die Fußstapfen von Altmeister Hayao Miyazaki tatsächlich auszufüllen.
Veröffentlichung: 25. September 2020 als 2-Disc Limited Collector’s White Edition (Blu-ray & DVD), 2-Disc Limited Collector’s Edition exklusiv bei einem Online-Händler (Blu-ray & DVD), 4K UHD Blu-ray Limited Steelbook Edition, Blu-ray und als DVD
Länge: 113 Min. (Blu-ray), 108 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen: Deutsch, Japanisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Tenki no ko
JAP/CHN 2019
Regie: Makoto Shinkai
Drehbuch: Makoto Shinkai
Zusatzmaterial: Special zur Filmographie von Makoto Shinkai, Making-of-Dokumentation, Special zum japanischen Kinostart, Special-Talk mit Makoto Shinkai, und Yumiko Udo, Original-Soundtrack, 108-seitiges Booklet, Artcards, Clear-Sticker-Fensterbild
Label/Vertrieb: Leonine Distribution
Copyright 2020 by Lucas Gröning
Szenenbilder & Packshots: © 2020 Leonine