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Archiv für den Monat Oktober 2023

Horror für Halloween (XXXVI): Der Nebel – Herausragendes Monsterkino mit unfassbarem Finale

The Mist

Von Volker Schönenberger

SF-Horror // Erstmals veröffentlichte Stephen King seine Novelle „The Mist“ 1985 in der Kurzgeschichtensammlung „Skeleton Crew“, wo sie den Auftakt bildete. „Skeleton Crew“ enthält 18 Kurzgeschichten, zwei Novellen (darunter eben „The Mist“) und zwei Gedichte, die in Westdeutschland erstmals auf drei Bände aufgeteilt veröffentlicht wurden. Die Sammlung „Im Morgengrauen“ (1985) enthält vier Kurzgeschichten und die Novelle, nun „Der Nebel“ betitelt. 2013 erschien hierzulande „Blut – Skeleton Crew“ der Sammelband beinhaltet alle Erzählungen der US-Vorlage.

Frank Darabont, als ausführender Produzent, Drehbuchautor und Regisseur der ersten Episode einer der Schöpfer der späteren Erfolgsserie „The Walking Dead“ (ab 2010), hatte zuvor mit „Die Verurteilten“ (1994) und „The Green Mile“ (1999) bereits zwei formidable Stephen-King-Verfilmungen vorgelegt. Mit seinem Vorhaben, „The Mist“ 2007 in Schwarzweiß ins Kino zu bringen, biss er beim Studio Dimension Films auf Granit. Immerhin gelang es ihm, die Schwarzweiß-Fassung der Collector’s Edition von „The Mist“ auf DVD und Blu-ray hinzuzufügen. In einer Einführung vor der Schwarzweiß-Fassung begründet er deren Existenz damit, Stephen King habe in einem Nachwort geschrieben, beim Schreiben der Geschichte von den alten schwarz-weißen Monsterfilmen inspiriert worden zu sein. Für Darabont sei es ein Rückgriff auf Mitte der 60er-Jahre. Er möge auch die Farbversion, die wie ein Film aussehe, der Mitte der 70er entstanden sei. So oder so sei die Schwarzweiß-Fassung die von ihm präferierte Variante, also ein Director’s Cut (in der Collector’s Edition wird sie Director’s Choice genannt). Das ist für beide Versionen absolut nachvollziehbar.

Hommage an Illustrator Drew Struzan

Welch schöner Einstieg: Der Kunstmaler und Illustrator David Drayton (Thomas Jane) sitzt in seinem Atelier an einer neuen Arbeit. An der Wand hängen einige andere Werke, darunter das Plakatmotiv von John Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1982), für viele einer der besten Horrorfilme überhaupt. Das Bild, an dem David gerade malt, ist ein Motiv aus Stephen Kings „Der dunkle Turm“-Reihe. Frank Darabont konzipierte diesen Auftakt als Hommage an den Maler und Illustrator Drew Struzan (* 1947), der mehr als 150 Filmplakate entwarf. Alle Bilder dieser Eingangsszene stammen ebenfalls von ihm.

Dan Miller flieht vor dem Nebel

Zurück zur Handlung: Draußen über dem See in Maine, an dem David mit Ehefrau Stephanie (Kelly Collins Lintz) und Sohn Billy (Nathan Gamble) ein Haus bewohnt, tobt ein Gewittersturm, sodass die Draytons schutzsuchend in den Keller gehen. Am nächsten Tag erkennen sie, dass der Sturm das Haus tatsächlich schwer beschädigt hat, hauptsächlich durch einen umstürzenden Baum. Auch das Grundstück ihres Nachbarn Brent Norton (Andre Braugher) wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Dass von den Bergen ein dichter Nebel herabzieht, stört sie vorerst nicht weiter. David und Billy fahren in Begleitung von Norton zum Einkaufen in die nahegelegene Kleinstadt Bridgton.

Der Nebel kommt

Unvermittelt bricht der Nebel über Bridgton herein, hüllt den Ort undurchdringlich ein. Dan Miller (Jeffrey DeMunn, „Der Blob“) stürzt verletzt heran, warnt die Anwesenden, etwas greife aus dem Nebel heraus die Menschen an. Schnell wird deutlich, dass er nicht übertreibt. David und Billy, Norton und viele andere verschanzen sich im Supermarkt, darunter der dort angestellte Ollie Weeks (Toby Jones), der Kunde Jim (William Sadler) und die Kundinnen Amanda Dunfrey (Laurie Holden) und Mrs. Carmody (Oscar-Preisträgerin Marcia Gay Harden, „Pollock“).

Belagerungszustand

Ein Monsterfilm, so weit, so gut. Als solcher funktioniert „Der Nebel“ ganz vorzüglich, etwa wenn die Biester – zumindest ein paar Körperteile von ihnen – erstmals an einem Tor zum Lagerraum des Supermarkts auftauchen. Aber Darabonts dritte Stephen-King-Regiearbeit funktioniert auch noch auf einer anderen Ebene sehr gut: als Psychogramm einer Gruppe völlig unterschiedlicher Menschen, die in einer Extremsituation auf engem Raum miteinander auskommen müssen, was ihnen mehr schlecht als recht gelingt. Einige Konfliktherde heizen die Stimmung auf: Jim beispielsweise unterstellt dem zugezogenen und erfolgreichen Künstler David, auf die ortsansässigen Menschen herabzuschauen. Davids Nachbar Kent Norton wiederum hatte den Maler vor einiger Zeit verklagt, das Gerichtsverfahren aber verloren. Mrs. Carmody schließlich erweist sich als religiöse Fanatikerin, die das Geschehen für die gerechte Strafe Gottes hält und sogar einige andere davon zu überzeugen vermag. Als Zuschauer habe ich mich dabei ertappt, sie zu hassen zu beginnen. Diese heikle Gemengelage inszeniert Frank Darabont glaubwürdig mit viel Einfühlungsvermögen für seine Figuren, die hervorragende Besetzung hilft ihm dabei, ein paar Klischees zu überspielen. Es sind einige dabei, mit denen er wiederholt drehte: Jeffrey DeMunn und William Sadler waren in „Die Verurteilten“ und „The Green Mile“ dabei, DeMunn und Laurie Holden später auch in „The Walking Dead“.

Kreaturendesign von Greg Nicotero

Aber keine Sorge, die Monster kommen nicht zu kurz. Da es sich um diverse Arten fieser Biester handelt, konnten sich die Kreaturendesigner um den renommierten Greg Nicotero so richtig austoben. Und sie haben ganze Arbeit geleistet. Von klitzekleinen insekten- und spinnenartigen Viechern bis zu langsam dahinstapfenden hochhausgroßen Monstren wird uns einiges geboten, gern mal halb im Nebel verborgen, ab und zu auch in klar erkennbarer Pracht. Ein paar Mal wird es auch hübsch eklig.

David will seinen Sohn beschützen

Was die Kreaturen in die Welt der Menschen von Maine verschlagen hat, dafür gibt es – anders als in der Vorlage – beizeiten auch eine Erklärung. Und nicht die schlechteste! Beinahe hätte der Film die Entstehung der Bedrohung gleich mit dem Auftakt enthüllt, doch Frank Darabont entschied sich während der Dreharbeiten, die Startsequenz aus seinem originalen Drehbuch nicht zu filmen. Die richtige Entscheidung, auch wenn dieser Prolog visuell und in puncto Spannung zweifellos sehenswert ausgefallen wäre. Aber es tut gerade der Spannung gut, wenn wir über das Wesen der Bedrohung lange Zeit so sehr im Unklaren bleiben wie die ums Überleben kämpfenden Figuren.

Ungläubiges Staunen beim Ende

Kommen wir zum Finale (das ich nicht spoilern werde), das im Übrigen nicht aus Stephen Kings Feder stammt, sondern aus der von Drehbuchautor Darabont: Es ist, wie schon in der Überschrift dieses Textes erwähnt, einfach unfassbar. Ich hatte „Der Nebel“ Anfang 2008 im Kino verpasst, mir aber zügig die limitierte Collector’s Edition mit drei DVDs gekauft, die im August jenes Jahres erschien. Ich entsinne mich, nach Ende des Films während des Abspanns ungläubig vor meinem Fernseher gesessen zu haben, weil ich nicht glauben konnte, was ich da gerade gesehen hatte. Ich spulte einige Male zurück, um es zu begreifen. So etwas Gnadenloses hatte ich zuvor kaum einmal gesehen, wenn überhaupt – aus Hollywood schon mal gar nicht. Dieses Ende ist schon auch gemein, aber es hebt „Der Nebel“ noch einmal auf eine höhere Stufe über das Horror-Einerlei (wo sich der Film ohnehin nicht befindet). Es war Frank Darabont so wichtig, dass er Dimension Films die Zusage abrang, es so verwirklichen zu dürfen. Das so wunderschöne wie tieftraurige Musikstück „The Host of Seraphim“ von Dead Can Dance steigert die Intensität des Gezeigten enorm.

Sogar Stephen King hat sich gegruselt

Die Schwarzweiß-Fassung von „Der Nebel“ wirkt visuell insgesamt wertiger, da die Farbvariante doch etwas billig anmutet. Grandiosen, vielschichtigen Horror bietet sie aber ebenfalls. Bei Produktionskosten von etwa 18 Millionen US-Dollar spielte „Der Nebel“ an den Kinokassen weltweit 57 Millionen Dollar ein. Zu Recht – sogar Stephen King soll sich zur Freude Frank Darabonts sehr gegruselt haben. Dem Vernehmen nach bemerkte der Schriftsteller auch nicht, dass Darabont seine Regiearbeit gar nicht in Kings Heimat Maine gedreht hatte, sondern in Louisiana. Und noch einmal King: Wer aufpasst und auf Details achtet, wird einige Anspielungen auf den Großmeister des literarischen Horrors bemerken. Wer vom Nebel noch nicht genug hat, kann bei Netflix auf die zehnteilige Serie gleichen Titels zugreifen, die ebenfalls auf Stephen Kings Novelle basiert. Sie endet allerdings offen und insofern unbefriedigend, als sie nach der ersten Staffel abgesetzt wurde.

Was lauert vor dem Supermarkt?

Was macht eigentlich Frank Darabont heute? Klare Antwort: Man weiß es nicht. Sein letztes verwirklichtes Projekt war 2013 die in Los Angeles angesiedelte Krimiserie „Mob City“, die er entwickelt und geschrieben hat und von deren nur sechs Episoden er vier inszeniert hat. Kinofilme hat er lediglich vier als Regisseur verantwortet, außer den drei herausragenden Stephen-King-Verfilmungen „Die Verurteilten“, „The Green Mile“ und „Der Nebel“ auch noch „The Majestic“ (2001) mit Jim Carrey und erneut Laurie Holden und Jeffrey DeMunn. Im Januar 2024 wird er seinen 65. Geburtstag feiern, altersmäßig ginge noch etwas. Darabonts Talent als Drehbuchautor und Regisseur ist unübersehbar, es wäre bedauerlich, wenn von ihm nichts mehr kommt. Als Stephen-King-Spezialist hat er dreimal amtlich abgeliefert, und „Der Nebel“ gehört zu den besten Horrorfilmen nach Kings Romanen überhaupt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Stephen-King-Adaptionen haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgelistet, Filme von Frank Darabont unter Regisseure, Filme mit Marcia Gay Harden und Laurie Holden in der Rubrik Schauspielerinnen, Filme mit Jeffrey DeMunn, Thomas Jane, Toby Jones und William Sadler unter Schauspieler.

Jedenfalls nichts Gutes

Veröffentlichung: 10. Januar 2019 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & Hörspiel-CD, 3 limitierte Covermotive), 8. Juli 2011 als Blu-ray im Steelbook, 4. November 2008 als Limited Collector’s Edition Blu-ray im Steelbook, 4. August 2008 als 3-Disc Limited Collector’s Edition (3 DVDs), DVD im Steelbook und DVD

Länge: 126 Min. (Blu-ray), 121 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: The Mist
USA 2007
Regie: Frank Darabont
Drehbuch: Frank Darabont, nach dem Roman von Stephen King
Besetzung: Thomas Jane, Laurie Holden, Marcia Gay Harden, William Sadler, Andre Braugher, Toby Jones, Jeffrey DeMunn, Frances Sternhagen, Nathan Gamble, Kelly Collins Lintz, Alexa Davalos, Chris Owen, Sam Witwer, Robert C. Treveiler, David Jensen, Melissa McBrie, Andy Stahl
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Schwarzweiß-Fassung des Films, Einleitung von Frank Darabont (3:17 Min.), Audiokommentar von Frank Darabont, entfallene Szenen (14:50 Min.), Making-of (37:27 Min.), Webisodes „Tag 10 – Erdbeben“ (3:16 Min.)“ & „Tag 18 – Der brennende Mann“ (4:01 Min.) & „Tag 34 – Franny, der Flammenwerfer“ (2:55 Min.), „Zähmung der Bestie – Die Analyse einer Szene“ (12:10 Min.), „Die Monster unter uns – Ein Blick auf die Special Effects“ (12:45 Min.), „Der Horror im Ganzen – Die Visual Effects“ (16:03 Min.), „Drew Struzan – Der Künstler“ (7:32 Min.), 3 Trailer, Trailershow, nur 3-Disc Collector’s Edition: Poster, Postkarte, Extra-DVD mit Trailern zu weiteren Filmen und Vorschauen auf kommende Senator-Veröffentlichungen, nur Mediabook: CD mit Hörspiel „John Sinclair – Der Todesnebel“ (56:54 Min.)
Label: Senator Film (Mediabooks: Birnenblatt)
Vertrieb: Universum Film

Copyright 2023 by Volker Schönenberger

Szenenfotos gruppierter Packshot: © Senator Film

 

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Horror für Halloween (XXXV): Bram Stoker’s Dracula – Coppolas Dreistigkeit

Bram Stoker’s Dracula

Von Volker Schönenberger

Horror // Wir schreiben das Jahr 1462. Nach dem Fall von Konstantinopel schwärmen die Heerscharen des Osmanischen Reichs in Richtung Nordeuropa aus. Die Christenheit droht unter der Knute des Islams unterzugehen. In Transsylvanien wappnet sich Graf Dracula (Gary Oldman) zum Kampfe, lässt seine geliebte Elisabeta (Winona Ryder) im Schloss zurück. Die blutige Schlacht gegen die Invasoren bewältigt er siegreich, doch daheim erreicht Elisabeta die falsche Kunde, Dracula sei im Gefecht gefallen. Gramgebeugt stürzt sie sich ihrerseits zu Tode. Aufgrund des Selbstmords verweigert ihr der orthodoxe Priester (Robert Getz) den Segen einer christlichen Bestattung. Zu viel für Dracula, der Gott entsagt und sein Schwert in das Kreuz über dem Altar rammt. Er trinkt das Blut, das daraus hervorquillt. Die Geburtsstunde des Vampirs …

Dieser Prolog kommt in der 1897 erstveröffentlichten Romanvorlage „Dracula“ (1897) des irischen Schriftstellers Bram Stoker (1847–1912) gar nicht vor. Aber Regisseur Francis Ford Coppola, auch einer der Produzenten der 1992er-Kinoumsetzung „Bram Stoker’s Dracula“, äußert in seiner Einleitung, es sei ihm darum gegangen, eine werkgetreue Verfilmung des Buchs mit einem historischen Hintergrund des walachischen Fürsten Vlad III. Drăculea zu kombinieren. Dem um 1431 geborenen und um den Jahreswechsel 1476/1477 herum verstorbenen Woiwoden wurde etwa 80 Jahre nach seinem Tod der Beiname „Țepeș“ (der Pfähler) verpasst – aus Gründen.

Die Haupthandlung des Films setzt 1897 in London ein, wo ein gewisser Renfield (Tom Waits) sein Dasein in der geschlossenen psychiatrischen Einrichtung von Dr. Jack Seward (Richard E. Grant) fristet. Er hatte im Auftrag des transsylvanischen Adligen Graf Dracula Immobilien in Englands Hauptstadt erworben und nach einem Besuch bei Dracula offenbar den Verstand verloren. Seine Aufgabe übernimmt nun der junge Jonathan Harker (Keanu Reeves), der sogleich seine Verlobte Mina Murray (erneut Winona Ryder) allein lassen und zum Grafen reisen muss. Dessen Schloss befindet sich weit im Osten in den transsylvanischen Karpaten. Der Kauf des Londoner Anwesens Carfax Abbey ist schnell in trockenen Tüchern. Weit mehr interessiert Dracula das Bild von Jonathan Harkers Verlobter Mina, das dieser bei sich trägt. Schon bald wird er nach London aufbrechen …

Der überkandidelte Vampirfürst

40 Millionen US-Dollar Budget – ein bemerkenswerter Betrag für einen Horrorfilm Anfang der 1990er-Jahre. So verwundert es nicht (bei diesem Regisseur schon mal gar nicht), dass „Bram Stoker’s Dracula“ überlebensgroß daherkommt. „Überkandidelt“ hat ein mir bekannter Filmkenner das genannt, und damit liegt er völlig richtig. Allein schon die Idee, mittels des eingangs beschriebenen Prologs den Bogen zur historischen Figur zu schlagen, die Stoker als Inspiration diente – die Chuzpe muss man erst mal haben; aber dass Coppola auch mal dreist agiert, ist ja kein Geheimnis.

Dracula entsagt Gott und wird zum Vampir

Allerdings schafft er so in seiner Regiearbeit auch einen Widerspruch innerhalb der Charakterisierung Draculas: Der historische Vlad Țepeș war ein grausamer Fürst, der mit seinen Feinden überaus brutal umsprang, was nicht recht zu der liebenden, geradezu tragischen Gestalt des Vampirs im Film passen mag. Vielleicht zur Abmilderung dieses Kontrasts verharmlost Coppola im Prolog den Grund, weshalb Vlad den Beinamen Pfähler verliehen bekam: Wir sehen Dracula, wie er mit einem Spieß auf dem Schlachtfeld einen Feind durchbohrt und die Lanze samt Opfer senkrecht aufstellt. Anschließend erfolgt eine Aufnahme etlicher auf diese Weise zu Tode gekommener osmanischer Soldaten (am Rande bemerkt: Sucht in dieser Einstellung einmal die Silhouette von Graf Orlok aus Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von 1922!). Wenn man weiß, welcherarts Vlad seine Gegner tatsächlich pfählen ließ, erscheint ein simpler Todesstoß per Lanze noch als vergleichsweise human, zumal das im Krieg auf dem Schlachtfeld ohnehin gang und gäbe war.

Das Kabuki-Theater und Gustav Klimt

Auch das Aussehen Draculas samt seiner Kleidung kann nur als überkandidelt bezeichnet werden, beginnend mit seiner bordeauxroten Fantasierüstung im Prolog (wer dafür ein als Inspiration dienendes historisches Vorbild nennen kann, möge dies gern per Kommentar tun). Für Draculas im Stil des japanischen Kabuki-Theaters gehaltene rote Robe nahm die Kostümdesignerin Eiko Ishioka (1938–2012) dem Vernehmen nach das 1908/1909 entstandene Gemälde „Der Kuss“ des Wiener Jugendstilmalers Gustav Klimt (1862–1918) zum Vorbild (auch wenn das darauf abgebildete Kleidungsstück nicht rot ist). Ishioka gewann für ihre Arbeit 1993 den Oscar fürs Kostümdesign. Auch Toneffekte und Make-up wurden oscarprämiert.

Der Graf (r.) empfängt Jonathan Harker …

Ebenfalls Kabuki-inspiriert sind diverse Frisuren, allen voran natürlich Draculas sonderbar aufgetürmte graue Haarpracht zu Beginn (auch hier: überkandidelt). Muss man mögen. Generell erscheint mir das Erscheinungsbild des Vampirfürsten gewöhnungsbedürftig und sicher nicht jedermanns und jederfraus Sache. Immerhin ähnelt Oldmans Dracula keiner anderen Verkörperung des Vampirs in der Filmgeschichte, und Originalität kann ja auch positiv bewertet werden. Wenn der Graf allerdings wie ein eitler Geck mit Zylinder und Sonnenbrille verknallt durch London flaniert, kann ich mir ein Schmunzeln nicht immer verkneifen. Dass er keine Angst vor den Sonnenstrahlen hat und sich sorglos bei Tageslicht draußen aufhalten kann, entspricht übrigens der Romanvorlage, auch wenn die meisten Vampirfilme gerade aus der Gefahr durch Sonnenlicht ein Spannungselement machten. „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ hat dieses Momentum etabliert, und viele sind ihm gefolgt. Ebenso folgt Coppola Stoker dergestalt, dass der Konsum von Blut Dracula sichtlich verjüngt.

Mal eng am Roman, mal ganz weit weg

Einerseits orientiert sich Francis Ford Coppola in einzelnen Passagen und Dialogen sehr eng an Stokers Roman, andererseits nimmt er sich immer wieder große Freiheiten, etwa in der Charakterisierung wichtiger Figuren. Professor Abraham Van Helsing (Anthony Hopkins) beispielsweise entspricht gar nicht dem zugewandten Gelehrten, den ich aus dem Roman in Erinnerung habe. Auch die Lucy Westenra aus der Literaturvorlage ist eine andere als die von Sadie Frost verkörperte in Coppolas Verfilmung. Darin ist sie weitaus lebenslustiger (um nicht lüsterner zu schreiben). Stoker ließ in seinem Roman das Böse in Gestalt des Vampirs über eine Gruppe wohlhabener und ehrenwerter Londoner Bürgerinnen und Bürger im ausklingenden Viktorianischen Zeitalter hereinbrechen, diesen großen Gegensatz bricht Coppola auf, indem er einen Graf Dracula zeigt, der aus Liebe das tut, was er tut, und sei es noch so verwerflich. Fast ist man geneigt, ihm zu verzeihen, denn wir wissen ja: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Aber darum geht es im Roman keineswegs. Die Romanfigur Graf Dracula ist mitnichten der romantisch Liebende, zu dem ihn Coppola macht. Natürlich steht es einem Regisseur und seinem Drehbuchautor frei, solcherart von einer Vorlage abzuweichen. Sie müssen sich dann aber den Vorwurf gefallen lassen, dem Roman nicht gerecht zu werden. Gleichwohl mag es manchen Zuschauerinnen und Zuschauern gerade gut gefallen, sich anzuschauen, wozu Dracula aus Liebe fähig ist.

… und nascht vom Blut seines Gastes

Ein weiterer den Filmgenuss etwas schmälernder Aspekt sei noch genannt: Keanu Reeves bleibt über die gesamte Dauer blass. Spätestens 2014 mit „John Wick“ hat der Gute seine Nische als Actionstar gefunden, doch vor der Jahrtausendwende wurde der 1964 Geborene auch gern für romantischere Rollen gebucht. Vor den Dreharbeiten zu „Bram Stoker’s Dracula“ hatte er wohl auch viel gefilmt und fühlte sich ausgelaugt, was seiner etwas lendenlahmen Darbietung als Jonathan Harker anzusehen ist. Auch Winona Ryder erweckt als Mina nicht unbedingt den Eindruck, man könne ihr in unstillbarer Leidenschaft so verfallen, wie es Dracula geschieht. Alle anderen Akteurinnen und Akteure wissen immerhin zu gefallen, wenn man sich an Unterschieden zu der jeweiligen Romanfigur nicht stört. Oldmans Charisma ist unstrittig, sein manieriertes Auftreten passt schon zu dem, was Coppola offenbar aus Dracula machen wollte. Einen Kurzauftritt als eine der Gespielinnen des Vampirfürsten in dessen Schloss absolviert übrigens die Italienerin Monica Bellucci („James Bond 007 – Spectre“), damals noch am Beginn ihrer Filmkarriere.

Michael Ballhaus an der Kamera

Ich will das Werk nicht nur runtermachen. „Bram Stoker’s Dracula“ funktioniert als opulentes Ausstattungskino mit Horror-Schlagseite sehr gut, zu keinem Zeitpunkt kommt Langeweile auf. Ein nicht zuletzt dank Michael Ballhaus’ Kameraarbeit visuell betörendes Erlebnis sondergleichen, erst recht auf der großen Leinwand, technisch und tricktechnisch über jeden Zweifel erhaben, zumal Coppola Wert darauf legte, nicht am Computer zu tricksen, sondern mit praktischen Effekten.

Mina (l.) sorgt sich um ihre Freundin Lucy

Eine Rohschnittfassung des weitgehend in Studios in Hollywood entstandenen Films kam bei Testvorführungen nicht so gut an wie erhofft, deshalb wurde diese um etwa 25 Minuten zusammengekürzt (zu den Unterschieden zur Endfassung siehe den Schnittbericht). Es hat sich gelohnt: Den Produktionskosten von 40 Millionen Dollar standen an den weltweiten Kinokassen schließlich Einnahmen von fast 216 Millionen Dollar gegenüber.

Gut lieferbar

Beschaffungsprobleme bestehen hierzulande nicht, Blu-ray und UHD Blu-ray sind im Handel zu finden, die DVD immerhin auf dem Gebrauchtmarkt zum günstigen Kurs. Einzig die Steelbooks sind vergriffen und bei Sammlerinnen und Sammlern begehrt, daher teurer. „Bram Stoker’s Dracula“ fällt prachtvoll aus, geht als großes Kino durch, wenn auch nicht frei von Kritik. Wer Vampirfilmen zugeneigt ist, kommt nicht umhin, sich Coppolas Interpretation zumindest einmal anzuschauen. Am Unterhaltungswert ist ohnehin nicht zu rütteln.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Francis Ford Coppola haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Winona Ryder unter Schauspielerinnen, Filme mit Anthony Hopkins, Gary Oldman und Keanu Reeves in der Rubrik Schauspieler.

Professor Van Helsing (M.) bemerkt an Lucy verräterische Merkmale

Veröffentlichung: 5. Oktober 2017 als UHD Blu-ray, 3. Dezember 2015 als Blu-ray im „Project Pop Art“-Steelbook, 15. Oktober 2015 als Blu-ray (mastered in 4K), 2. November 2010 als „best of hollywood – 2 movie collector’s pack“ Blu-ray (mit „Mary Shelley’s Frankenstein“), 17. August 2010 als Collector’s Edition Blu-ray, 9. Oktober 2008 als Doppel-DVD im Steelbook, 22. November 2007 als 2-Disc Collector’s Edition DVD, 8. November 2007 als Collector’s Edition Blu-ray, 17. Juni 1999 als DVD

Länge: 127 Min. (Blu-ray), 122 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: Bram Stoker’s Dracula
GB/USA 1992
Regie: Francis Ford Coppola
Drehbuch: James V. Hart, nach Bram Stokers Roman „Dracula“
Besetzung: Gary Oldman, Keanu Reeves, Anthony Hopkins, Winona Ryder, Richard E. Grant, Monica Bellucci, Cary Elwes, Sadie Frost, Billy Campbell, Tom Waits, Florina Kendrick, Michaela Bercu, Jay Robinson, Laurie Franks, I. M. Hobson, Robert Getz
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Audiokommentar und Einleitung von Regisseur Francis Ford Coppola, „Reflexionen im Blute – Francis Ford Coppola und Bram Stoker’s Dracula“ (29:11 Min.), „Praktische Magier – Eine Kollaboration zwischen Vater und Sohn“ (20:07 Min.), „Dracula Bloodlines – The Man, the Myth, the Legend“ (28:20 Min.), Making-of: „Blut ist Leben“ (27:48 Min.), „Die Kostüme sind das Set – Das Design von Eiko Ishioka“ (13:27 Min.), „Mit der Kamera – Visuelle Effekte der damaligen Zeit“ (17:57 Min.), „Methode und Wahnsinn – Die Gestaltung Draculas“ (11:35 Min.), entfallene Szenen (27:51 Min.), Filmografien (Texttafeln), Kostüme (Texttafeln), Kinotrailer, Teaser, Trailershow, 4-seitiges Booklet
Label/Vertrieb: Sony Pictures Entertainment (DVD 1999: Columbia TriStar)

Copyright 2023 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & gruppierte Packshots : © Sony Pictures Entertainment

 
 

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Horror für Halloween (XXXIV) / Lucio Fulci (X): Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz: Moral statt Exploitation – Fulcis Meisterstück

Non si sevizia un paperino

Von Tonio Klein

Horrorthriller // Ein rätselhafter Beginn, bestehend aus verschiedenen Einzelszenen, die zunächst schwer zueinander in Beziehung zu setzen sind. Und in denen – dem Rezensionstitel zum Trotz – an Exploitation so ziemlich alles geboten wird, was vorstellbar ist: Sex, Tod – und die unsägliche Lust des Schauens, des Blicks zu etwas offenbar Verbotenem.

Wahnsinn, aber mit Methode

Eine Frau gräbt ein Kinderskelett aus. Die drei Jungs Michele (Marcello Tamborra), Bruno und Tonino (beide Darsteller unbekannt) schauen zwei Männern zu, die sich in einer abgelegenen Hütte mit Prostituierten vergnügen; dito „Dorftrottel“ Giuseppe (Vito Passeri), der aber von den Jungs (die doch nicht besser sind als er) gehänselt wird. Überhaupt, die Grausamkeit eigentlich unschuldiger Kinder: Eines von ihnen hat aus Langeweile vor der „spannenden“ Aktion mit einer Zwille auf eine Schlange geschossen, einfach so. Eine junge schöne Frau, die von außerhalb kommende und sich im Kaff langweilende Patrizia (Barbara Bouchet) wird kaum verhohlen einen der Jungs (die alle um die zwölf Jahre alt sind) verführen, sich nackt vor ihm räkeln und ihre Überlegenheit weidlich auskosten angesichts des natürlich erkennbar verunsicherten Steppkes. Zum Sex kommt es glücklicherweise nicht. Stattdessen gibt es den Tod (der allerdings schon durch die Methode des Strangulierens sexuell konnotiert ist). Die Jungs werden ermordet, einer nach dem anderen. Hinzu kommen ein paar Hinweise auf Voodoo.

Und nach diesem ziemlich geballten Anfang voller Hinweise und Motive scheint die Auflösung schnell vorhanden, schon nach dem ersten Drittel von „Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz“ (der deutsche Titelzusatz tauschte das Entlein aus dem italienischen und dem englischen Titel durch ein Kind aus – wenn es denn sein muss). Da ahnen wir, dass die Überfülle an Informationen mindestens ein paar Fährten enthält, die falsch sind. Der Film wird die klassische dreiaktige Struktur einhalten; der zweite Akt endet mit der „Überführung“ einer zur Hexe abgestempelten Frau (Florinda Bolkan) als Täterin, die es wohl nicht gewesen sein wird. Was steckt hinter dem Ganzen?

Und wo kommt sie nun, die Moral?

Der Film erweist sich als beißende Anklage gegen Bigotterie, die verdrängten Lüste und Obsessionen einer rückständigen süditalienischen Gemeinschaft, in der Aberglaube, Blutrache und ein scheinheiliger Katholizismus die Geschicke bestimmen. Das Gesellschaftsbild braucht den Vergleich mit dem schweizerischen Pendant aus Friedrich Dürrenmatts „Es geschah am hellichten Tag“ nicht zu scheuen. Manchmal auf recht drastische Weise zeigt Lucio Fulci, wohin das führt, und in dem (spezialeffekttechnisch beeindruckenden) Schlussbild übertreibt der Mann vielleicht ein bisschen. Auch in einer Selbstjustiz-Szene kann man einmal fragen, ob die diversen eingeschnittenen Großaufnahmen von grausam zugefügten Verletzungen wirklich sein müssen. Indes vermag diese Szene gleichsam zu verstören und zu berühren, ist sie doch nicht um die selbstzweckhafte Erweiterung der Grenzen des Zeigbaren bemüht (was man dem späteren Fulci bisweilen durchaus vorwerfen kann). Stattdessen steht die Szene voll und ganz auf Seiten des Opfers. Um die Totfolterung zu übertönen, lassen die Peiniger ein Radio auf voller Lautstärke laufen, und insbesondere beim zweiten, sehr zärtlichen Lied wird die Qual genauso schmerzhaft spürbar wie in einer Folterszene in „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) von Fulcis Landsmann Sergio Leone. Während damals der große Ennio Morricone für die Musik sorgte, tut dies nun Riz Ortolani, der ähnlich souverän zwischen elegisch und verstörend hin- und herpendelt oder beides mischt.

Wer nun aber denkt, Fulci blicke von außen auf ein rückständiges Wespennest und setze dem italienischen Süden den fortschrittlichen Norden gegenüber, der irrt. Gerade in der Selbstjustiz-Szene kommt wunderbar zum Ausdruck, dass er es sich so einfach nicht macht. In einer (nicht der einzigen) kunstvollen Einstellung, in der die Breitwand optimal ausgenutzt wird und beide Bildhälften mit verschiedenen Brennweiten fotografiert werden, sodass der Eindruck von Tiefenschärfe entsteht, sehen wir: Das Opfer, eine Frau, kann sich blutend einen Berg hinaufschleppen, links im Vordergrund sehen wir sie, rechts im Hintergrund scharf ein Bild, welches sowieso leitmotivischen Charakter hat: eine imposante, riesige Autobahnbrücke, die wie ein moderner Fremdkörper durch die archaische Bergwelt führt. Und nun sehen wir erstmals, was dort passiert: Fröhliche Menschen mit Kindern fahren in den Urlaub. Sie könn(t)en die blutende Frau deutlich sehen, sie kümmern sich aber einen Dreck darum. Man kennt das von Touristen in der Würstl-con-Krauti-„Fremde“, auf „Malle“ oder wo auch immer. So wie die Straße nichts von der Bergwelt weiß, durch die sie führt, so sind auch die Menschen, die sie benutzen, ein nur scheinbar moderner Fremdkörper. Sie lassen ihre Umwelt einfach links liegen, sie nehmen sie nicht einmal wahr. Der Blick der Sterbenden zu einem Kind (bemerken sie einander oder ist das nur Schuss-Gegenschuss?) deutet an, dass sie auf ein Kind wie dasjenige sieht, welches ihr früher gewaltsam genommen worden war und das sie auch nun nicht erreichen kann. Sie hat etwas für immer verloren, und so wird sie Sekunden später ihr Leben verlieren. Die Autos fahren weiter. Sie hatte ihr Kind übrigens verloren, weil es „nicht gesund“ war – ein Schelm, wer Arges oder gar „lebensunwertes Leben“ dabei denkt. Später wird ein geistig zurückgebliebenes Kind eine entscheidende Rolle spielen und die moralisch-anklagende Kraft der ganzen Geschichte noch verstärken.

Keine Guten, nirgends?

Auch die „fortschrittlichen“ Menschen, die nicht nur als Zaungäste vorbeifahren, sondern tragende Rollen haben, sind kaum besser. Die ermittelnden Carabinieri scheinen zwar aufgeklärt, und nicht zufällig sagt einer einmal, um diejenigen festzunehmen, die die Selbstjustiz begangen hätten, müsse man das ganze Dorf festnehmen. Andererseits: Warum verlegen sie den zunächst Festgenommenen nicht des Nachts heimlich, still und leise, sondern unter den Augen und Protesten der geifernden, rachedurstigen Menge? Warum entlassen sie die danach Festgenommene einfach so und beschützen sie nicht, angesichts der doch offenkundigen Gefahr durch den Mob? Wirklich „gut“ ist hier eigentlich niemand, auch die Kinder nicht. Am ehesten ist es noch der von Tomás Milián gespielte römische Reporter Andrea Martelli, dessen Berichte gleichwohl deutlich reißerische Züge tragen. Und ausgerechnet die schöne Patrizia, die wie erwähnt ein reichlich seltsames und latent grausames Verhältnis gegenüber Kindern an den Tag legt, wird zu seiner wichtigsten Helferin.

Auf diese Weise gelingt Fulci ein großes Kunststück: Jeder hat Dreck am Stecken, keiner – auch der Film nicht – erhebt sich über die anderen; und doch ist „Don’t Torture a Duckling“ nicht komplett fatalistisch-misanthropisch, sondern einige der Handelnden haben positive Funktionen. Ihnen sind zwar menschliche Schwächen eigen, aber sie haben sich von diesen noch nicht besiegen lassen. Dies könnten im Grunde also auch die Dörfler schaffen. Dass die einen zum Sumpf und die anderen zu den Guten gehören, entscheidet sich an einem sehr schmalen Grat, ist im Grunde Zufall. Der moralische Impetus ist klar: Wir alle müssen zusehen, uns nicht unterkriegen zu lassen. Wir müssen mal nach rechts und links schauen, anders als die achtlosen Autofahrer, wir müssen hinter die (Vorurteils-)Kulissen schauen, im Gegensatz zu den Dorfbewohnern, die alle wissen, dass einige von ihnen an abgelegenem Orte käuflichen Sex haben – aber denen am wichtigsten ist, dass die Kinder das bloß nicht sehen! Für den Pfarrer Don Alberto Avallone (Marc Porel) scheint es schon die größte Sünde zu sein (hübsches Detail), einmal eine Zigarette zu rauchen. Welche Leiche wird er im Keller haben, welche alle anderen? Neben eindeutigen Verfehlungen finden sich viele kleine und mittelgroße Nachlässigkeiten. Beispielsweise hätten die Eltern eines Jungen ja mal verhindern können, dass ein Stockwerk weiter oben Patrizia ihre Spielchen mit ihm treibt, statt ihren Sohnemann noch zu ihr hinaufzuschicken, damit er ihr Orangensaft bringe. Da können wir nicht mehr mit leichter Hand sagen, dass uns das nicht hätte passieren können, wie auch bei den genannten Fehlern der Polizei.

Die Kirche, die Nackten und die Toten

Recht konkret wird Fulcis Geschichte dann noch bei einer Kritik an der katholischen Kirche, die im Grunde schon später aufgedeckte schreckliche, reale Ereignisse vorwegnimmt – mit der unüberwindbaren Qual begründet, dass die menschliche Natur sich eben gegen gewisse (Denk-)Verbote auflehnt und es zum Schlimmsten kommen kann, wenn diese einfach oktroyiert werden. Das „verbotene Sehen“ des Kindes kommt am Anfang des Filmes ausgerechnet in einem Gottesdienst vor. Es wird sich bezüglich einer anderen Person zeigen, dass das von der Kirche diktierte „Sehverbot“ zu schrecklichen Folgen führen kann. An dieser Stelle ließe sich noch so manche Interpretation entfalten, worauf ich zwecks Spoilervermeidung verzichte. Dass der erzkatholisch geprägte italienische Staat den Film genau an der falschen Stelle angriff, mag zeigen, dass er und dass die Kirche nur zu genau verstanden hatten. Nicht wegen zweier schrecklicher Gewaltszenen musste sich Fulci vor Gericht verantworten – sondern er musste erklären, wie er die Szene mit Patrizia und dem Jungen gedreht hatte. Nun denn …

Fazit: Fulci ist ein Mann der Extreme; ein paar seiner früheren Filme sind bestenfalls routiniert, ein paar seiner späteren Filme erschöpfen sich in drastischer Gewalt – und dann kommt so ein Meisterwerk daher! Fulci kann was. Er kann verstören, aber es steckt wesentlich mehr dahinter als Oberflächenreize. Er kann auch berühren. Hier jedenfalls. Und er hat etwas zu sagen, womit er es sich und uns nicht zu einfach macht. Hier jedenfalls. Wer „Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz“ als ersten Fulci sieht und danach alles von ihm sehen möchte, wird mehr als einmal, wenngleich nicht immer, enttäuscht bis entsetzt sein. Aber dieser Film wird bleiben. Übrigens: Wegen des Titels bitte keine Sorge, dass (womöglich noch reale) Entenqualen vorkommen. Das Enten-Motiv wird sich in einer geköpften Donald-Duck-Puppe des erwähnten, geistig zurückgebliebenen Kindes finden. Wie gesagt, Fulci ist auf der Seite der Hilflosen und gerade auch dieses Kindes. Die Welt um sie herum scheint aber kopflos – wenn auch nicht völlig verdammenswert. In Fulcis ultrahartem Slasher „Der New York Ripper“ (1982) wird sich die Ente dann rächen – der titelgebende Killer sendet Sprachbotschaften mit Donald-Duck-Stimme. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Non si sevizia un paperino“, so der Originaltitel wurde 2015 vom in Brandenburg ansässigen LEFilms Film Restoration & Preservation Services in 2K-Auflösung aufwendig restauriert. Anschließend veröffentlichte ’84 Entertainment den nun offenbar in neuem Glanz erstrahlenden Horrorthriller in diversen schicken und nicht ganz billigen Editionen auf dem deutschen Markt. Da mir keine davon vorliegt, kann ich über die Qualität der Restauration und die Aufmachung der einzelnen Editionen inklusive des teils exklusiv dafür produzierten Bonusmaterials keine Auskunft geben (Auflistung siehe unten). „Die Nacht der lebenden Texte“-Betreiber Volker teilte mir aber mit, das in seinem Regal stehende wattierte Mediabook sei ein echtes Schmuckstück. Wermutstropfen: Alle Editionen sind im Handel vergriffen, einige davon auf dem Sammlermarkt nur sehr teuer zu finden.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Lucio Fulci haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Thomas Milian unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 1. März 2017 als Blu-ray in kleiner Hartbox (auf 250 Exemplare limitiert, Motiv des Mediabook-Covers C), 31. August 2016 als 2-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (Blu-ray & Bonus-DVD, 3 Covermotive à 333 Exemplare), 4. Juli 2016 als 3-Disc Edition große Hartbox (Blu-ray, DVD & Soundtrack-CD, auf 111 Exemplare limitiert, Motiv des Mediabook-Covers B) und 3-Disc Edition Retro Cinema Collection Hartbox (Blu-ray & 2 DVDs), 29. April 2016 als 3-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (Blu-ray & 2 DVDs, wattiert und auf 999 Exemplare limitiert), 20. November 2015 als 4-Disc Limited Edition Leatherbook (Blu-ray, 2 DVDs & Soundtrack-CD, auf 1.250 Exemplare limitiert)

Länge: 108 Min. (Blu-ray), 104 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Non si sevizia un paperino
IT 1972
Regie: Lucio Fulci
Drehbuch: Lucio Fulci, Roberto Gianviti, Gianfranco Clerici
Besetzung: Florinda Bolkan, Barbara Bouchet, Thomas Milian, Irene Papas, Marc Porel, Georges Wilson, Antonello Campodifiori, Ugo D’Alessio, Virgilio Gazzolo, Vito Passeri, Rosalia Maggio, Andrea Aureli, Linda Sini, Franco Balducci, Fausta Avelli, Marcello Tamborra
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Audiokommentar von Prof. Dr. Marcus Stiglegger, Texttafel zur Restauration vor Filmbeginn (26 Sek.), deutscher Trailer, Originaltrailer, italienischer Vor- & Abspann (3:17 Min. und 2:00 Min.), Restaurationsvergleich als Bildergalerie mit Texttafeln (4:42 Min.), Bildergalerie (2:48 Min.), „From the Cutting Table“ – Interview mit Bruno Micheli, (25:39 Min.), „The DP’s Eye“ – d Sergio D’Offizi erinnert sich (46:20 Min.), 20-seitiges Booklet mit einem Text von Kai Naumann, nur Leatherbook: 84-seitiges Buch mit Texten von René Krzok, Prof. Dr. Marcus Stiglegger, Dominik Graf, Torsten Kaiser und Martin Beine, 3 Postkarten, 1 Poster, Zertifikat, Überraschung
Label: ’84 Entertainment
Vertrieb: ELEA-Media

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Packshots 3, 4 & 5: © 2016 ’84 Entertainment

 
 

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