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Archiv der Kategorie: Rezensionen

The Last Kumite – „Bloodsport“-Hommage von der Reeperbahn

The Last Kumite

Von Volker Schönenberger

Kampfsport-Action // Mit dem Begriff Kumite kamen westliche Actionfilmfans erstmals 1988 in „Bloodsport“ mit Jean-Claude Van Damme in Berührung. Dort bezeichnet er einen illegalen Wettkampf in Hongkong, der unterschiedliche Martial-Arts-Formen vereint. An sich handelt es sich bei Kumites um diverse Wettkampf- und Trainingsformen in japanischen Kampfkünsten und Kampfsportarten (zitiert nach Wikipedia).

Reminiszenzen an „Bloodsport“

„The Last Kumite“ (2023) entstand unter der Regie des ansonsten hauptsächlich als Kameramann arbeitenden australischen Regisseurs Ross W. Clarkson und bezieht sich recht unverhohlen allein schon mit dem Titelschriftzug auf „Bloodsport“, hat mit Mohammed Qissi alias Michel Qissi auch einen Nebendarsteller von damals in der Besetzung. Obendrein wirkt mit David Yeung sogar der Sohn von Bolo Yeung mit, der Martial-Arts-Fans mit seinem ikonischen Part als fieser Chong Li in „Bloodsport“ nachhaltig in Erinnerung blieb. Für den Soundtrack von „The Last Kumite“ zeichnet zudem „Bloodsport“-Komponist Paul Hertzog verantwortlich, der den Score mit reichlich 80er-Synthie-Feeling fütterte. Zu guter Letzt: Stan Bush steuerte die Songs „No Surrender“ und „Running the Gauntlet“ bei – er hatte auch zwei Titel für „Bloodsport“ eingespielt.

Skrupellos: Jon Hall (r.) geht für sein Kumite über Leichen

Zur Story von „The Last Kumite“: Gerade hat Karate-Ass Michael Rivers (Mathis Landwehr, „Lasko – Die Faust Gottes“) das – wie er glaubt – letzte Turnier seiner Laufbahn gewonnen, da macht ihm der mysteriöse Promoter Ron Hall (Matthias Hues) ein unwiderstehliches Angebot. Michael soll an einem streng geheimen Kumite in Osteuropa teilnehmen. Dem Sieger winke ein Preisgeld von einer Million Dollar. Der Champion lehnt ab – als Witwer und alleinerziehender Vater will er sich fortan lieber um seine Teenager-Tochter Bree (Kira Kortenbach) kümmern. Doch als er nach Hause kommt, ist Bree verschwunden, gekidnappt von – Ron Hall! Ein ausreichendes Druckmittel, Michael zur Teilnahme an dem Kumite zu bewegen.

Warten aufs Kumite

Puh, es zieht sich. Bis das Martial-Arts-Turnier endlich beginnt, geht mehr als eine Stunde ins Land. In dieser Zeit bekommen wir all die Unzulänglichkeiten aufs Brot geschmiert, welche die kümmerliche Handlung vorantreiben. Garniert mit reichlich unterdurchschnittlicher Schauspielkunst (zugegeben nicht das wichtigste Kriterium im Martial-Arts-Action-Sektor). Der gesamte kriminelle Subplot um die Entführung der Liebsten einiger der Athleten, die Ron Hall unbedingt beim Kumite als Teilnehmer gewinnen will, passt hinten und vorn nicht. Die Kämpfer können sich sogar für Einkäufe in die nächstgelegene Stadt fahren lassen – kein Risiko für Hall, weil die Polizisten entweder gekauft oder verängstigt sind. Sicher doch! Mit Osteuropa kann man’s ja machen. Die Kumite-Szenen wurden im Übrigen im Mojo Club an der Reeperbahn im Hamburger Stadtteil St. Pauli gedreht. Welches Gemäuer für die Außenaufnahmen herhielt, ist mir allerdings nicht bekannt. Eine Friedhofsszene mit Michael und Bree Rivers am Grab der Ehefrau/Mutter entstand im nordrhein-westfälischen Schwerte. Die Produktion finanzierte sich unter anderem durch zwei Crowdfunding-Kampagnen.

Rivers (l.) findet in Loren einen Trainer …

Seltsam, dass es Michael Rivers bei der Machtfülle Ron Halls dennoch gelingt, in der Woche vom Eintreffen am Ort des Kumites bis zum Beginn des Turniers einen Trainer zu finden, der sich rein zufällig auch noch perfekt mit dem regierenden Champion auskennt (zu diesem gleich mehr). Loren (Billy Blanks) besorgt Michael sogleich einige passende Sparringspartner, mit Jen (Hong Indira Rieck) eine Helferin mit zwar übel riechenden, aber wirkungsvollen Heilsalben, und mit Julie Jackson (Cynthia Rothrock) eine spezielle Mentorin. Wo kommen die alle her? Treiben sich zufälligerweise in einer ungenannten osteuropäischen Gegend herum. Rivers’ Trainingseinheiten hätte entweder eine Straffung oder eine sorgfältigere Ausgestaltung gutgetan, so ziehen sie sich irgendwann in die Länge.

Dracko – kein neuer Chong Li

Nun zum Champion: Dracko (Mike Derudder) wird als quasi unbesiegbar eingeführt und gefällt sich darin, laut herumzubrüllen. Im Kumite besiegt er seinen ersten Kontrahenten spielend – um ihn anschließend per Genickbruch gar zu töten. Eine klare Reminiszenz an den von Bolo Yeung verkörperten Chong Li in „Bloodsport“. Leider mangelt es der Figur an Format und Charisma von Chong Li.

… und in Julie Jackson eine Mentorin

„Bloodsport“ und andere Martial-Arts-Turnier-Actioner der 80er zeichneten sich auch nicht gerade durch durchdachte und schlüssige Storys aus, also können wir darüber auch bei „The Last Kumite“ ein Auge zudrücken. Es hängt also alles an den Kämpfen, und wie bereits erwähnt: Es dauert einfach zu lange, bis das Kumite beginnt. So bleibt deutlich weniger als die Hälfte der Spielzeit des Films für die Auseinandersetzungen im Ring, zumal auch der kriminelle Entführungsplot weiterhin Raum bekommt. Und bei dem hakt es hinten und vorn. So ist der Promoter und Chefschurke Ron Hall mit arg grober Linie gezeichnet. Angeblich unfassbar reich, sodass es um Geld nicht gehen kann, dann auch quasi ein Beherrscher der Gegend mit großer Machtfülle. Aber so recht funktioniert all das nicht, im Finale erweist er sich doch nur als armer Wicht. Und wenn sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst, überzeugt das ganz und gar nicht.

Mixed Martial Arts

Als Kampf- und Stunt-Choreograf fungierte Mike Möller, der auch einen kleinen Part als Rivers’ Sparringspartner Lightning übernahm. Möller hat viel Erfahrung als Stuntman gesammelt, zuletzt in „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes“ (2023), „John Wick – Kapitel 4“ (2023), „Matrix Resurrections“ (2021), „Gunpowder Milkshake“ (2021) und „Der Hauptmann“ (2017). Als Stuntchoreograf hat er an „Sky Sharks“ (2020) gearbeitet, als Kampfchoreograf in „Ultimate Justice – Töten oder getötet werden“ (2017). Die Kämpfe in „The Last Kumite“ sind ansprechend gestaltet und nach meiner laienhaften Einschätzung auf professionellem Niveau. Da es sich bei dem Turnier um eine illegale Mixed-Martial-Arts-Veranstaltung handelt, geht es brutal zu, weshalb es meist recht schnell vorbei ist. Das ist positiv, denn angesichts der heftigen Treffer geraten selbst große Nehmerqualitäten schnell an ihre Grenzen, sodass es unglaubwürdig wäre, würden die Kämpfer allzu lange auf den Beinen bleiben. Da es mit den Kämpfen nach Turnierbeginn immerhin Schlag auf Schlag (höhö) geht, gibt es trotzdem genug zu sehen. Das Ganze fällt auch abwechslungsreich aus, da unterschiedliche Martial-Arts-Disziplinen präsentiert werden. Leider dienen die Kämpfer mit wenigen Ausnahmen lediglich als Kanonenfutter, sodass sie nach ihren kurzen Einsätzen schnell der Vergessenheit anheimfallen. Mir fehlten zudem Kampfsequenzen, die mich als Zuschauer umhauen, und das wäre als Ausgleich für die Mängel der Story wünschenswert gewesen. Das verhindert auch, dass ich „The Last Kumite“ höher als Durchschnitt einordne – was ich zu gern getan hätte! Tatsächlich war mein Empfinden sogar eher noch geringer, Pluspunkte habe ich noch verteilt, weil die Produktion den Geist der handgemachten 80er-Action atmet. Es handelt sich auch keinesfalls um eine billige Kopie, sondern um eine Hommage an „Bloodsport“ und vergleichbare Filme jener Ära. Das ist lobens- und ehrenwert. Umso bedauerlicher, dass offenbar nicht mehr drin war.

80er-Action-Personal gibt sich die Klinke in die Hand

Erwähnte 80er-Action manifestiert sich in diversen Personalien. Michel Qissi sowie in puncto Musik Paul Hertzog und Stan Bush hatte ich bereits erwähnt. Der den Oberschurken Ron Hall spielende Matthias Hues hat 1987 in „Karate Tiger 2“ mitgewirkt und war 1990 Antagonist von Dolph Lundgren in „Dark Angel“. Billy Blanks war 1990 in „Leon“ mit Jean-Claude Van Damme und in „Karate Tiger V – König der Kickboxer“ zu sehen, ein Jahr später in „Nameless – Total Terminator“ und an der Seite von Bruce Willis in „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“. Kurt McKinney gab sein Filmdebüt 1985 in „Karate Tiger – Der letzte Kampf“ – darin verkörpert er immerhin die Hauptfigur, die am Ende gegen Jean-Claude Van Damme antreten darf. Eine große Actionkarriere wurde nicht draus, immerhin war er fortan im Fernsehen gut beschäftigt, etwa von 1988 bis 1991 in 253 Episoden der Daily Soap „General Hospital“ und von 1987 bis 2009 in 173 Episoden der Serie „Springfield Story“. Aber schön, dass er für „The Last Kumite“ wiederentdeckt wurde, es wird ihn gefreut haben, seine alten Kampfsport-Fähigkeiten wiederaufleben zu lassen. Er spielt den Kämpfer Damon Spears, der ähnlich wie bei Michael Rivers und der einzigen Teilnehmerin Léa Martin (Monia Moula) zur Teilnahme am Kumite gezwungen wird, indem Ron Hall seine Liebste entführen ließ. Last not least sei Cynthia Rothrock erwähnt, die seit den 80er-Jahren in vielen Martial-Arts- und anderen Action-Filmen mitgewirkt hat, zum Beispiel 1987 in „Karate Tiger 2“, 1989 in „Born to Fight“ und „Fight to Win“ und 1996 in „Blonde Rache“ mit Kurt McKinney und „Tigerkralle 2“ mit Bolo Yeung. Mehr 80er-Action-Feeling in einer 2024er-Produktion geht kaum.

Ein bösartiger Berg von einem Mann: Dracko

„The Last Kumite“ bekommt von capelight pictures eine ansprechende Veröffentlichung als Collector’s Edition Mediabook verpasst, und das sogar mit UHD Blu-ray plus Blu-ray. Respektabel für eine derartige Produktion. Das Bonusmaterial auf den Scheiben fällt großzügig aus, außer einem 22-minütigen „Behind the Scenes“-Featurette gibt es diverse Interviews mit Beteiligten und das Musikvideo „No Surrender“ von Stan Bush. Das obligatorische Booklet enthält einen Text zum Film sowie ein Interview mit dem Produzenten Sean Patrick Lowe, einem YouTuber und Filmjournalisten. Die Lektüre gibt interessanten Aufschluss über das Zustandekommen des gesamten Projekts. Wie kann es gelingen, einen solchen Film auf die Beine zu stellen? So erfahren wir, dass Lowe sogar sein Haus verkaufte, um der Produktion ein finanzielles Fundament zu geben. Auf einer Filmmesse traf er auf capelight pictures, und das Label stieg noch vor Beginn der Dreharbeiten als Verleih ein. Sehr lesenswert, auch wenn der Einstieg in den Text viel zu stark die Werbetrommel rührt: … Fanprojekt, das die Essenz der traditionellen Kampfkünste aus aller Welt in ihrer Pracht einfängt. In „The Last Kumite“ erlebst du nicht nur spektakuläre Kämpfe, sondern auch eine mitreißende Geschichte, die die Herzen von Retrofans höherschlagen lässt. … verschmelzen atemberaubende Choreografien und authentische Kampfkunst … Die Akteure, geleitet von der tiefen Hingabe zu ihren Rollen, schufen eine Sinfonie aus Schlägen, Tritten und Techniken, die die wahre Meisterschaft dieser alten Kunstformen einfängt. Puh – ging es nicht ein paar Stufen niedriger? Nichts gegen einen Booklettext, der letztlich natürlich der PR des Produkts dient und auch dienen darf. Aber diese Lobeshymne ist für „The Last Kumite“ eine allzu hohe Messlatte, die der Actioner zwangsläufig reißt.

Im Ring geht es …

So hält das Mediabook das gewohnt hohe Niveau der Collector’s Editions von capelight pictures, während der Film demgegenüber etwas abfällt. Der Nostalgiefaktor reißt es nur bedingt raus. Das Label veröffentlicht „The Last Kumite“ parallel auch in derselben Kombination aus UHD Blu-ray und Blu-ray im Steelbook, einzeln sind auch Blu-ray und DVD lieferbar. Und immerhin ist es capelight pictures gelungen, für den Actioner trotz einiger Härten eine FSK-Freigabe ohne Schnittauflagen zu erhalten. Künftig werde ich aber doch lieber die Klassiker der 80er hervorholen.

Alle als „Limited Collector’s Edition“ von capelight pictures veröffentlichten Filme haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgelistet, Filme mit Matthias Hues, Abdel Cissi und Michel Qissi unter Schauspieler.

… hoch her

Veröffentlichung: 16. Mai 2024 als 2-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (UHD Blu-ray & Blu-ray), 2-Disc Limited Steelbook (UHD Blu-ray & Blu-ray), Blu-ray und DVD, 2. Mai 2024 als Video on Demand

Länge: 105 Min. (Blu-ray), 101 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: The Last Kumite
USA 2024
Regie: Ross W. Clarkson
Drehbuch: Ross W. Clarkson, Sean David Lowe
Besetzung: Mathis Landwehr, Matthias Hues, Kurt McKinney, Billy Blanks, Cynthia Rothrock, Michel Qissi, David Kurzhal, Monia Moula, Kira Kortenbach, Mike Derudder, Abdel Qissi, Mike Möller, David Yeung, Manuel Werling, Anna DeLuca, Katja Wagner
Zusatzmaterial: Behind the Scenes (21:49 Min.), Musikvideo „No Surrender“ von Stan Bush, Interview mit Kurt McKinney und Michel Qissi (12:20 Min.), Interview mit Mathis Landwehr (12:14 Min.), Interview mit Matthias Hues und Mathis Landwehr (10:46 Min.), Interview mit Paul Hertzog (10:54 Min.), Sean David Lowe und Mathis Landwehr kommentieren Previs (5:37 Min.), deutscher Trailer, Originaltrailer, Teaser, Trailershow, nur Mediabook: 24-seitiges Booklet mit einem Text zum Film und einem Interview mit Produzent Sean David Lowe
Label: capelight pictures
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & gruppierter Packshot: © 2024 capelight pictures

 

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Zum 65. Geburtstag von Ving Rhames: The Tournament – Battle Royale unter Killern: Stelldichein der Killer mit abgemurkstem Hund

The Tournament

Von Volker Schönenberger

Actionthriller // Nun, da zartbesaitete Tierfreundinnen und -freunde dank des Spoilers in der Überschrift vorgewarnt sind, können wir uns frohen Mutes „The Tournament“ (2009) von Scott Mann widmen. Der Regisseur dreht nicht viel, hat mit „Die Entführung von Bus 657“ (2015) mit Robert De Niro und Jeffrey Dean Morgan einen überzeugenden Heist-Movie abgeliefert und zuletzt nicht nur Menschen mit Höhenangst schweißnasse Hände verpasst: „Fall – Fear Reaches New Heights“ (2022) zeigt lediglich zwei Frauen auf einem mehr als 600 Meter hohen Turm, beschert seinem Publikum damit aber ein äußerst intensives filmisches Erlebnis.

Zu „The Tournament“: Wer braucht wohl den plakativen deutschen Titelzusatz „Battle Royale unter Killern“? Fans vor Gewalt strotzender Actionfilme sicher nicht, denen dürfte das dystopische japanische Actiondrama „Battle Royale“ (2000) bekannt sein, und sie können mit einem Film wie „The Tournament“ umgehen, auch ohne direkt auf den Bezug hingewiesen zu werden, weshalb ich fortan mit dem reinen Originaltitel vorliebnehmen werde. Das Grundgerüst der Story ist simpel: Alle sieben Jahre findet in einer gewöhnlichen Stadt ein außergewöhnlicher Wettbewerb statt. 30 Profikillerinnen und -killer, die zur Elite ihres Berufsstandes gehören, treten gegeneinander an. Der oder die Überlebende erhält ein Preisgeld von zehn Millionen Dollar. Das tödliche Turnier dient der Zerstreuung gelangweilter reicher Schnösel, die hohe Wetten auf den Ausgang platzieren.

Nach Middlesbrough, des Tötens wegen

Sieben Jahre zuvor hatte in einem Schlachthof im brasilianischen (offenbar fiktiven) Shirao Joshua Harlow (Ving Rhames) den Sieg davongetragen, indem er den durchgeknallten Gene Walker (John Lynch) als letzten Kontrahenten mit einem Bolzenschussgerät um seinen Kopf erleichterte (ihr merkt schon: Es geht blutig zu). Nun wurde Middlesbrough im Nordosten Englands zum Schauplatz des „Tournaments“ auserkoren (für das Drehorte in Bulgarien herhielten). Nach und nach treffen die internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, darunter die Chinesin Lai Lai Zhen (Kelly Hu), der Russe Yuri Petrov (Scott Adkins), der Franzose Anton Bogart (Sebastien Foucan) und der psychopathische junge Texaner Miles Slade (Ian Somerhalder), der seinen Opfern als Souvenir einen Finger abschneidet und nebenbei auch mal einem streunenden Hund eine Kugel in den Kopf verpasst. Weil er’s kann. Um die empörten Tierfreundinnen und Tierfreunde zu beruhigen: Es ist nur ein Film! Der den Streuner verkörpernde Hund hat die Dreharbeiten nach meinem Kenntnisstand überlebt.

Gene Walker legt sich mit dem Falschen an

Der Veranstalter Mr. Powers (Liam Cunningham) kündigt seinem erwartungsfrohen Publikum einen besonderen Teilnehmer als Überraschung an: Joshua Harlow! Der Sieger des vorherigen Turniers ist aus dem Ruhestand zurückgekehrt, in den er sich mit seinen zehn Millionen Dollar Preisgeld zurückgezogen hatte. Sein Motiv: Rache. Vier Monate zuvor war seine Frau ermordet worden, und Harlow wurde zugesteckt, ihr Mörder befinde sich unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des kommenden Wettbewerbs. Ein Zeitlimit verschärft diesmal die Spielregeln: Gibt es nach 24 Stunden mehr als eine/n Überlebende/n, detonieren die in ihren Körpern angebrachten Peilsender. Mögen die Spiele beginnen! Steve Tomko (Craig Conway) muss schnell feststellen, dass er Lai Lai Zhen unterschätzt hat, als er sie mit einer List in ihrem Hotelzimmer überraschen wollte. Somit gebührt ihr die Ehre des diesjährigen „First Blood“.

Robert Carlyle als versoffener Priester

So unvermittelt wie unfreiwillig findet sich der versoffene und mit seinem Glauben hadernde Geistliche Father MacAvoy (Robert Carlyle) unter den Teilnehmern wieder. Powers vergibt für ihn sogar eine Wettquote: 500:1 sind für einen Amateur und Priester vielleicht sogar ein ganz guter Wert. Wir werden sehen, wen er alles überleben wird …

Trickreich und gewandt: Anton Bogart

Ist das zynisch? Sicher doch! Müssen wir uns daran stören? Sicher nicht! 30 Menschen mit mörderischen Fähigkeiten im Kampf gegeneinander – das verspricht ein blutiges Vergnügen, das bietet „The Tournament“ auch. Blut spritzt gewaltig, wenn Köpfe und Körper platzen, ein Arm abgeschossen wird und Killer von Kugeln durchsiebt werden (zum damit einhergehenden Freigabeproblem weiter unten mehr). Eine Freude für all jene, die knackige Action erst dann so richtig goutieren, wenn sie blutig abgehangen daherkommt. Die Splattereffekte entstammen teils dem Computer, sehen aber dennoch gar nicht schlecht aus.

Lai Lai Zhen plagen Zweifel

Natürlich und richtigerweise konzentriert sich das Geschehen auf einige wenige der 30 ums große Geld Wetteifernden. Die Hauptfiguren werden nicht gerade tiefgründig charakterisiert, aber bei einem Plot wie dem von „The Tournament“ kommt es darauf auch nicht an. Wichtiger ist die Abwechslung, die sie bieten, und die überzeugt: So ist Anton Bogart ein durchtrainierter Parcours-Athlet, der über Dächer springt und sich von kaum einem Hindernis aufhalten lässt. Yuri Petrov wiederum setzt allerlei unterschiedliche Schusswaffen und gern auch Handgranaten ein, ebenso seinen Körper. Dabei kommen ihm die Martial-Arts-Fähigkeiten seines Darstellers Scott Adkins („Avengement – Blutiger Freigang“) zugute. Von Adkins hätte ich gern mehr gesehen als „The Tournament“ bietet, aber das liegt eher daran, dass ich ihn mag. Fürs Geschehen des Films geht die Dauer seines Einsatzes schon in Ordnung. Wichtiger sind ohnehin Kelly Hu („Strange Days“) als Lai Lai Zhen und Robert Carlyle („The 51st State“) als gestrauchelter Geistlicher – die zwei bilden eine Zweckgemeinschaft, die speziell für Father MacAvoy auf eine Art Heldenreise führt, während Lai Lai Zhen eher nach Läuterung sucht.

Das Land der Überwachungskameras

Da in England Videoüberwachung (Closed-Circuit Television – CCTV) besonders im urbanen Raum weit verbreitet ist, lag es nahe, ein „Tournament“ dieser Art in einer englischen Stadt zu veranstalten, damit die Techniker im Hintergrund all die Kameras anzapfen können, um das zahlungskräftige Publikum jederzeit mit blutigen Bildern zu versorgen. Und seien es Aufnahmen aus einem Stripclub, in welchem sich rein zufällig neun der Killer gleichzeitig aufhalten. Ob das Überwachungsszenario inklusive der Peilsender den Gesetzen der Logik gehorcht, könnte man etwas genauer untersuchen, aber die Frage ist sekundär. An dem einen oder anderen Logikloch mag sich stören, wer will – ich tu es nicht.

Father MacAvoy weiß nicht, wie ihm geschieht

Zahlreiche Killer auf einem Haufen, die einander über eben diesen Haufen schießen, das ist ein Motiv, das zuletzt die vierteilige „John Wick“-Reihe (2014–2023) auf die Spitze und vielleicht zur Perfektion getrieben hat. Sie ist jedenfalls stylischer als „The Tournament“, der dafür räudiger daherkommt. Jüngst konnten wir in „King of Killers“ (2023) mit Frank Grillo ebenfalls einen Wettkampf gedungener Mörder betrachten, der kann „The Tournament“ aber bei Weitem nicht das Wasser reichen.

Ving Rhames

Kommen wir zu Ving Rhames, der als aus Rachegelüsten aus dem Ruhestand zurückgekehrter Titelverteidiger eine gewohnt coole Figur macht, auch wenn er diesmal voll Trauer und mit großer Wut im Bauch reichlich Gefühl zeigt. Afroamerikaner Irving Rameses Rhames wird am 12. Mai 1959 im New Yorker Schwarzenviertel Harlem geboren, dort wächst er auch auf. Als Teenager und junger Mann besucht er diverse New Yorker Schauspielschulen, die renommierte Juilliard schließt er 1983 mit einem Bachelor of Fine Arts ab. In der Folge nimmt er Engagements sowohl am Broadway als auch fürs US-Fernsehen wahr, ist 1985 und 1987 etwa in zwei Episoden von „Miami Vice“ und 1987 in einer Folge von „Nam – Dienst in Vietnam“ zu sehen. Eine erste kleine Spielfilmrolle nimmt er in „Go Tell It on the Mountain“ (1985) an, wo er im ersten Abschnitt des Familiendramas als junge Verkörperung der Hauptfigur zu sehen ist. Bald folgen Rollen in Arbeiten renommierter Regisseure, beispielsweise 1988 in Paul Schraders „Patty“. Ein Jahr später spielt Rhames in Brian De Palmas „Die Verdammten des Krieges“ (1989) einen Offizier im Vietnamkrieg. Interessante Rollen in bemerkenswerten Filmen folgen nun Schlag auf Schlag. Der schwarzhumorige Horrorfilm „Das Haus der Vergessenen“ (1991) von Wes Craven zeigt ihn als Zuhälter, der sich für einen Einbruch das falsche Gebäude aussucht, im Bürgerrechtsdrama „Der lange Weg“ (1990) spielt er an der Seite von Sissy Spacek und Whoopi Goldberg. Unter Regisseur John Milius hat er 1991 eine Nebenrolle im Kriegs-Actioner „Flug durch die Hölle mit Danny Glover, Willem Dafoe, Rosanna Arquette und Tom Sizemore. Als wortkarger, grimmig dreinschauender, aber loyaler Präsidentenleibwächter ist er 1993 in Ivan Reitmans Komödie „Dave“ mit Kevin Kline und Sigourney Weaver zu sehen. Solchermaßen charakterisierte Figuren liegen ihm – gern etwas grummelig wirkend, aber im Innern gutmütig und mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.

Yuri Petrov langt hin

Anders allerdings in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ (1994), der Ving Rhames den Part des Gangsterbosses Marsellus Wallace einbringt. Der schickt Auftragskiller los, manipuliert mit Bestechungsgeld Boxkämpfe und hat generell einen ganz miesen Ruf. Doch in der Episode „Die goldene Uhr“ gerät er als Gefangener in einen Folterkeller, wird vergewaltigt und nur vom Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis) gerettet, mit dem er eigentlich Beef hat. Eine vergleichsweise kleine Rolle in einem Ensemblefilm, aber ikonisch.

Golden Globe an Jack Lemmon weitergereicht

Rhames ist nun fest etabliert, erst recht ab 1996 dank seines Mitwirkens als Tom Cruises Sidekick Luther in Brian De Palmas „Mission: Impossible“. Er und Cruise sind die einzigen Darsteller, die bis heute in jedem Film der Reihe auftauchen. Für seine Verkörperung des berühmten Box-Promoters in der TV-Miniserie „Don King – Das gibt’s nur in Amerika“ (1997) gewinnt er 1998 den Golden Globe. Bemerkenswert: Bei der Verleihung bittet er den für „Die 12 Geschworenen“ ebenfalls nominierten Jack Lemmon auf die Bühne und gibt die Trophäe an ihn weiter. Eine schöne Geste der Ehrerbietung, auch wenn der damals bereits vielfach und auch mehrfach mit dem Globe ausgezeichnete Lemmon sie sicher nicht nötig hatte.

Joshua Harlow will Vergeltung

Rhames dreht mit weiteren namhaften Regisseuren wie Steven Soderbergh („Out of Sight“, 1998), Martin Scorsese („Bringing out the Dead – Nächte der Erinnerung“, 1999), John Woo („Mission: Impossible II“, 2000), Walter Hill („Undisputed – Sieg ohne Ruhm“, 2002), Zack Snyder („Dawn of the Dead“, 2004). Selbst für Niederungen des B- und C-Sektors ist er sich nicht zu schade,auch wenn das zur Folge hat, dass in seiner Filmografie ein paar Stinker wie „Zombie Apocalypse“ (2011) und der Steven-Seagal-Abgesang „Force of Execution“ (2013) landen. Am 12. Mai 2024 feiert Ving Rhames seinen 65. Geburtstag.

Selbst die erste SPIO-Fassung gekürzt

Zum Thema Freigabe von „The Tournament“: Von Anfang an war klar, dass der beinharte Actionthriller Probleme mit Jugendschutz und Erwachsenenbevormundung bekommen würde, und so kam es dann auch: Eine vermeintlich ungeschnittene Verleihversion des Actionthrillers bekam 2009 das SPIO/JK-Siegel und den Vermerk „keine schwere Jugendgefährdung“ verpasst, erwies sich sogar noch als geschnitten und wurde ein Jahr später indiziert. 2010 veröffentlichte Rechteinhaber Ascot Elite Home Entertainment das Werk in einer noch stärker verstümmelten FSK-18-Version (drei Vergleiche einiger Schnittfassungen sind bei „Schnittberichte“ zu finden). Immerhin folgten ein paar Jahre später ungeschnittene Fassungen, darunter ein Steelbook und ein Mediabook. 2017 veröffentlichte Ascot Elite Home Entertainment „The Tournament“ auf Blu-ray und DVD in der Reihe „Cinema Extreme“, und das völlig ungeschnitten mit SPIO/JK-Siegel samt Vermerk „strafrechtlich unbedenklich“. Logisch, dass alsbald die Indizierung folgte. Sie besteht bis heute fort, ändert aber nichts daran, dass „The Tournament – Battle Royale unter Killern“ dem geneigten Actionfan in der ungeschnittenen Fassung große Freude bereitet. Dieser Clash of the Killers hat es in sich.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Scott Mann haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Kelly Hu unter Schauspielerinnen, Filme mit Robert Carlyle, Craig Conway, Liam Cunningham und Ving Rhames in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 17. März 2017 als Blu-ray im Mediabook (auf 555 Exemplare limitiert), 16. Februar 2017 als Blu-ray in großer Hartbox (auf 111 Exemplare limitiert), 8. August 2016 als Blu-ray im Steelbook (auf 1.000 Exemplare limitiert), 23. Juli 2013 als Blu-ray und DVD (Cinema Extreme), 7. Januar 2010 als Blu-ray und DVD, 3. Dezember 2009 als Blu-ray und DVD

Länge: 96 Min. (Cinema-Extreme-Blu-ray), 91 Min. (Cinema-Extreme-DVD), 95 Min. (2009er-Blu-ray), 90 Min. (2009er-DVD), 92 Min. (FSK-18-Blu-ray), 88 Min. (FSK-18-DVD)
Altersfreigabe: FSK 18, Cinema-Extreme-Version: SPIO/JK – strafrechtlich unbedenklich, 2009er-DVD: SPIO/JK – keine schwere Jugendgefährdung
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch (abhängig von der Edition auch Englisch)
Originaltitel: The Tournament
GB/USA/BAHR 2009
Regie: Scott Mann
Drehbuch: Gary Young, Jonathan Frank, Nick Rowntree
Besetzung: Robert Carlyle, Kelly Hu, Ian Somerhalder, Liam Cunningham, Ving Rhames, Scott Adkins, Sebastian Foucan, Craig Conway, John Lynch, Nick Rowntree, Rachel Grant, Bashar Rahal, Andy Nyman, Iddo Goldberg, Camilla Power, Tamika Cameran, Bill Fellows, J. J. Perry, Mark Stobbart, Tom Wu
Zusatzmaterial (variiert je nach Edition): Interviews mit Robert Carlyle (4:15 Min), Kelly Hu (1:59 Min.), Liam Cunningham (1:56 Min.) und Scott Mann (3:28 Min.), Beim Dreh (9:19 Min.), Gag Reel (3:41 Min.), Bildergalerie (4:52 Min., 79 Bilder), Originaltrailer, Trailershow, 16-seitiges Booklet mit einem Text von Nando Rohner, Wendecover, Vertikalschuber
Label/Vertrieb: Ascot Elite Home Entertainment (Steelbook & Mediabook auch: Nameless Media)

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos, Steelbook- & gruppierter Packshot: © Ascot Elite Home Entertainment

 

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Was geschah wirklich mit Baby Jane? Wer weiß das schon?

What Ever Happened to Baby Jane?

Von Tonio Klein

Der folgende Text enthält massive Spoiler

Psychothriller // Psychothriller ist ein weit gespannter und manchmal etwas inflationär gebrauchter Begriff. Viele verstehen ihr Thriller-, aber nicht ihr Psychohandwerk. Dies ist nun bei Robert Aldrichs „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ von 1962 ganz anders. Dieser Psychothriller ist zum einen cineastisches Meisterwerk, zum anderen schafft er es, seine ziemlich abgefahrene Geschichte plausibel zu verkaufen.

Wunde(r)kinder

Er geht gleich gut los: Die blonde, süße, etwa zehnjährige Baby Jane Hudson (Julie Allred) ist Kinderstar und schon reichlich verzickt; ihre Schwester Blanche (Gina Gillespie) muss zusehen. Absolut überzeugend sehen wir, wie die Göre ihre Eltern erpressen kann, und ahnen, was später kommt: Schwester Blanche ist 1935 ein Filmstar, Baby Jane eine Niete. Blanche hat sich allerdings ausbedungen, dass Jane Rollenangebote gemacht werden müssen. Amüsant, wie zwei Filmschaffende anhand von Bette-Davis-Material aus den Dreißigern lästern, wie schlecht Jane sei (die als gealterte Frau von Bette Davis verkörpert werden wird). Blanche hingegen habe Klasse. Kurzer Ausflug in die Filmhistorie: Gezeigt werden Ausschnitte aus „Parachute Jumper“ (1933, Bette Davis) und „Sadie McKee“ (1934, Joan Crawford, später Blanche), und dies veranschaulicht perfekt entgegengesetzte Pole der seinerzeit stark vom jeweiligen Studio geprägten Hollywoodlandschaft. Zudem sagt es etwas über die wirklichen Karrieren von Bette Davis und Joan Crawford aus, denn Letztere kam etwas eher zu Ruhm. Davis kurbelte bei Warner Brothers B-Ware, Crawford glänzte in MGM-Prestigeprodukten. Natürlich ist „Parachute Jumper“ viel besser, ein knochenehrlicher, ungeschminkter Film über Schwierigkeiten der Großen Depression, dem die fehlenden Schauwerte nur guttun – „Sadie McKee“ hat Momente, ersäuft aber im Edelkitsch. Wenn das der Aldrich nicht selbst gesehen hat – Gründe für die Auswahl gerade der beiden genannten Filme sind mir nicht bekannt. Aber der erste Eindruck anhand von Ausschnitten ist durchaus der beabsichtigte: Blanche, das ist ein Star, eine Göttin.

Was wirklich mit Baby Jane geschah

Erst nach einem mysteriösen Autounfall und den Credits setzt die Haupthandlung in der Gegenwart ein, also Anfang der 1960er-Jahre. Jane ist eine heruntergekommene, pardon, Schlampe, Blanche querschnittsgelähmt. Die beiden leben zusammen, und Jane macht Blanche das Leben zur Hölle. Ein paar wunde Punkte scheint sie aber doch zu haben: Auf den Unfall, durch den Blanche gelähmt wurde, darf man sie nicht ansprechen, und ihrem Kinderruhm trauert sie immer noch nach.

Dieser Käfig ist nicht mal golden

Jane unterbindet alle Versuche Blanches, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, es kommt zu Gewalt und Mord. Ein heruntergekommener Klavierklimperer (Victor Buono), mit dem Jane alte Revuenummern aufführen will (der aber nur auf ihr Geld aus ist), ruft dann aber doch die Polizei, als er die Schwester gefesselt und geknebelt findet. Jane flieht mit Blanche an den Strand; Blanche ist so geschwächt und geschunden, dass sie dem Tod nahe ist. Sie verrät Jane, dass Jane Blanche gar nicht zum Krüppel gefahren hat, sondern Blanche sich selbst, als sie versucht hatte, Jane umzubringen. Jane war allerdings so betrunken, dass sie die offizielle Version geglaubt hatte, selbst gefahren zu sein. Blanches Rache an Jane war, diese Legende aufrechtzuerhalten; damit hat sie Janes Leben zerstört, letztlich aber auch ihr eigenes. Jane lässt sich, befreit von der damaligen Schuld, mit einem Lächeln und großer Geste verhaften (da könnte die Verhaftung Norma Desmonds aus Billy Wilders 1950er-Drama „Boulevard der Dämmerung“ Pate gestanden haben), Blanche bleibt am Strand liegen und stirbt (vermutlich).

Glückwunsch, Herr Aldrich, Sie haben es geschafft, mich hereinzulegen. Der Unfall wird so gezeigt, dass im Nachhinein die „wahre“ Version auch die plausible ist; aber die ganze Zeit ist vom Gegenteil die Rede, bis man’s glaubt. Wieder einmal ein Beweis, dass wir uns das, was zwischen den Bildern geschieht, im Film wie im Leben zusammenreimen, dadurch Vorurteile bestehen, wir falsche Zeugenaussagen machen, Dinge verzerrt und voreingenommen wahrnehmen etc. So auch hier; man reimt es sich so zusammen, wie es gewesen sein „muss“; Jane die Böse, Blanche die Gute, und die bewusst selektiven Bilder des Unfalls und die nachfolgende Ellipse von 27 Jahren biegt man sich halt zurecht. Da kommt man einmal zum Nachdenken über die eigenen Unzulänglichkeiten, und das ist schon ein Verdienst des Films für sich.

Baby Jane mit dem Menschen, der sie noch süß findet: sich

Betrachtet man ihn dergestalt von hinten, rückschauend mit dem Wissen, was wirklich mit Baby Jane geschah, so wird einiges klar, was zuvor ein wenig unlogisch schien. Blanche ist zum Teil auf eine fast unerträgliche Art auch noch dann voller Verständnis für Jane, als diese ihr die größten Gemeinheiten antut. Blanche lässt viele Gelegenheiten ungenutzt, um aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Warum wirft Blanche die Nachricht nicht gleich noch einmal aus dem Fenster, als das das erste Mal misslingt, Jane sie findet und Blanche wiedergibt? Warum schreit sie nicht laut, da doch das Fenster offen ist und die neugierige Nachbarin draußen? Warum heißt der Film eigentlich so, wie er heißt? Warum hat Jane zwar ein Talent, die gefühlvolle, freundliche Stimme ihrer Schwester nachzumachen, klingt aber grauenvoll, wenn sie singt?

Wie man sich selbst und einander kaputt macht

Insgesamt ist das ein Psychothriller über ein beunruhigendes Maß an Zerstörung und vor allem Selbstzerstörung zweier gescheiterter Existenzen, und das alles ist eben schon im ersten Teil der Vorgeschichte angelegt. Der Neid Blanches, die Divenhaftigkeit Janes, und die Eltern: sich einerseits von Jane herumkommandieren zu lassen, da sie das Geld verdient, andererseits das (christlich motivierte?) Gebot der Mutter, Blanche möge es Jane auch ja nicht heimzahlen, wenn es einmal anders komme. An diesem Gebot, zwanghaft von der Mutter wie ein Gelübde abgerungen, zerbricht Blanche. Sie hält es scheinbar zunächst ein, aber mit dem Unfall und der Lüge hat sie nicht nur Janes Leben zerstört, sondern auch ihr eigenes. Ihren Qualen will sie manchmal entkommen, aber eben nie mit der letzten Konsequenz; sie nimmt das vielleicht wie eine Strafe zur Sühne hin. Wer hier die Schwester quält, quält noch stärker sich. Das gilt auch für Jane, der ja in den Momenten ihrer mitunter äußerst brutalen Aktionen ihre eigene verkommene Existenz vor Augen geführt wird. Oder auch, wenn sie Blanche imitiert: Bezeichnenderweise tut sie dies einmal, um telefonisch noch an Alkoholika zu kommen, da Blanche eigentlich angeordnet hatte, dass Alkoholikerin Jane nichts mehr zu trinken bestellen dürfe. Jane kann Blanche nachmachen, in allen Lebenslagen, nur nicht in der Kunst, da sind Jane und Blanche zu verschieden. Ansonsten aber, das zeigen sowohl die Imitier-Aktionen von Jane als auch die Lüge von Blanche, sind sie im Grunde eine Person; am Ende ist ein Teil dieser Person tot, ein anderer befreit.

Nicht nur Psycho-, sondern auch Thriller

„Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ ist ausgesprochen solides Thrillerhandwerk, mit häufigem Suspense durch Parallelmontagen; ein Beispiel: Jane ist aus dem Haus, Blanche tüftelt einen Flucht-Trick aus oder will Hilfe holen – wird Jane, die schon auf dem Heimweg ist, das verhindern? Fotografisch geschickt setzt der Film die Treppe ein, die ersten Stock und Erdgeschoss verbindet. Oben ist Blanche und kann nicht herunter, unten ist Jane und schaltet und waltet nach Gutdünken, reißt Telefonkabel heraus, überwacht die Treppe zu Blanches Gefängnis. Diese Treppe trennt zwei Welten (die dann doch nur Teile einer Welt sind); und wenn jemand die Grenze überschreitet, schlägt der Psychohorror um in physische Gewalt. Als Blanche es einmal die Treppe herunter zum Telefon geschafft hat, wird sie von Jane brutal zusammengeschlagen. Als eine ehemalige Hausangestellte (Maidie Norman) es nach oben geschafft hat und Blanches Qual entdeckt, wird sie von Jane ermordet.

Kann sie nicht Hilfe rufen oder will sie nicht?

Also ein seltener Glücksfall von gelungenem Thriller und gelungener Psychologie; hinzu kommen exzellente Darsteller. Bette Davis ist so grauenvoll hässlich geschminkt, dass es bei weniger Talent allzu forciert gewirkt hätte. Aber ihr Spiel vermittelt, dass Jane nicht in allen Momenten das brutale Miststück ist, sondern dass immer wieder Verletzlichkeit, Traurigkeit, sogar ein Hauch von vergangener Schönheit aufblitzen.

Kontraste beim Schwanengesang des alten Hollywoods

Figuren und das Drehbuch lassen den Film als interessantes Produkt einer Übergangsperiode erkennen. 1962 war für Schwarzweiß-Fotografie recht spät, diese macht sich aber sehr gut, vor allem bei den Kontrasten durch Bette Davis’ viel zu grell geschminktes Gesicht, das schlicht weiß aussieht. Den herrlichen Nebenfiguren des erwähnten Pianisten und seiner Mutter (Marjorie Bennett) merkt man ebenfalls eine neue Zeit an; die beiden sehen ganz anders aus, als Menschen in Schwarzweiß-Filmen für gewöhnlich aussehen. Sie sind heruntergekommen, aber ohne den Glanz, den Mimen wie Humphrey Bogart solchen Typen noch verliehen. Der Sohnemann ist ein unvorteilhaftes Riesenbaby, recht dick und etwas ordinär, mit nur mühsam gepflegten Haaren, ganz anders als in den Fünfzigern. Und er sagt Sachen, die das Totenglöckchen des Production Code läuten – offiziell wurden diese Hollywood-Zensurbestimmungen erst 1967 abgeschafft. Als die Mutter sich beschwert, er möge nicht zu Jane gehen, die sich mit wildfremden Typen einlasse, schreit der Sohn, das sei der Mutter ja wohl nicht unbekannt: „So einer Verbindung verdanke ich ja mein Leben!“ Und dieser ordinäre Typ ruft immerhin noch die Polizei, zwar schon stockbesoffen und zunächst recht ungeschickt, aber er hat noch den Anstand, den Jane und letztlich auch Blanche nicht hatten. Er ist auch die ganze Zeit nicht so sonderlich unsympathisch, eher ist es ein bisschen komisch, wie er versucht, Jane bei ihrer Eitelkeit zu packen, um damit an ihr Geld zu kommen. Die Miststücke sind hier die Schwestern, nicht der „asoziale“ Klavierspieler.

Eine der beiden guckt zu tief ins Glas

Andererseits: Einmal erfahren wir, dass Jane ein schlimmes Wort aufgeschrieben hat, ohne dass uns gesagt wird, worum es sich handelt. Vielleicht war die Zensurbehörde da wieder versöhnt? Wie dem auch sei, man spürt den frischen Wind, der da weht. Das soll es gewesen sein; der Riesensack voller erwiesen wahrer, ausgeschmückter oder hübsch erfundener Anekdoten über die Feindinnen Bette Davis und Joan Crawford sei ausgespart. Das wäre, zumal sich gerade bei „Baby Jane“ Filmhandlung und Realität treffen, einen eigenen Aufsatz wert. Bis dahin kann ich nur jedem raten, „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ zu sehen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Aldrich haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Joan Crawford und Bette Davis unter Schauspielerinnen.

Veröffentlichung: 21. August 2009 als 2-Disc Premium Edition DVD, 10. November 2006 als 2-Disc Special Edition DVD

Länge: 134 Min. (Blu-ray), 128 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte u. a.
Originaltitel: What Ever Happened to Baby Jane?
USA 1962
Regie: Robert Aldrich
Drehbuch: Lukas Heller, nach einem Roman von Henry Farrell
Besetzung: Bette Davis, Joan Crawford, Victor Buono, Wesley Addy, Julie Allred, Gina Gillespie, Anne Barton, Marjorie Bennett, Bert Freed, Anna Lee, Maidie Norman, Dave Willock, Ross Conway
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Charles Busch und John Epperson, „Bette Davis und Joan Crawford – Blinder Ehrgeiz“ (29:46 Min.), „Filmporträt Joan Crawford“ (28:35 Min.), „Hinter den Kulissen mit Baby Jane“ (6:19 Min.), Ausschnitte aus der „Andy Williams Show“ (2:05 Min.), Original-Kinotrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2024 by Tonio Klein

Szenenfotos: © Warner Bros. Entertainment Inc., untere Packshots: © Warner Home Video

 
 

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