Dracula
Von Volker Schönenberger
Horror // „Dracula“ – welch schillernder Name! Aus der Vielzahl der Schauergestalten der Filmgeschichte ragt der transsylvanische Graf weit heraus, und bei einer Umfrage, mit welchem Schauspieler man die Rolle am ehesten verbinde, käme zweifellos Christopher Lee (1922–2015) mit den meisten Nennungen heraus. Sicher, mit Bela Lugosi („Dracula“, 1931) gab es zuvor eine prägende Version, und auch Gary Oldman in „Bram Stokers Dracula“ (1992) von Francis Ford Coppola hat dem Vampir seine ganz eigene Note verliehen; mein Favorit bleibt Max Schrecks nur notdürftig als Graf Orlok getarnte Dracula-Verkörperung in Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922), auch Klaus Kinskis an Max Schreck angelehnte Interpretation in Werner Herzogs „Nosferatu – Phantom der Nacht“ (1979) sei lobend erwähnt. Aber was Christopher Lee unter der Regie von Hammer-Films-Stammregisseur Terence Fisher („Der Fluch von Siniestro“) 1958 aus dem blutgierigen Grafen gemacht hat, ist aller Ehren wert und ein bedeutsames Stück Horrorfilmgeschichte – und das mit lediglich sieben Minuten Leinwandzeit. Nicht nur, weil es sich um den ersten Technicolor-Auftritt Draculas handelt. Lees Dracula ist elegant, aber weitaus animalischer als Lugosis Graf, kann vor Bösartigkeit geradezu explodieren. Mit erst hochmütigem, dann gierigem Blick fixiert er seine Gegenüber, gelegentlich unterstützt durch blutig gefärbte Kontaktlinsen, die Lee beim Dreh in der Sicht behinderten. Sieben Mal verkörperte der hochgewachsene Londoner den Vampirfürsten für die britische Produktionsfirma Hammer Films, dazu ein weiteres Mal 1970 in „Nachts, wenn Dracula erwacht“ unter der Regie des spanischen Trash-Regisseurs Jess Franco.
Freie Adaption von Bram Stokers Roman
Der Film startet dem Roman treu als „The Diary of Jonathan Harker“. Per Stimme aus dem Off berichtet der Genannte (John Van Eyssen) von seiner Ankunft am Schloss des Grafen Dracula am Nachmittag des 3. Mai 1885. Weil sich der Kutscher geweigert hatte, ihn dorthin zu bringen, musste Harker die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen. Hier strafft die Handlung des Films Harkers in Bram Stokers Roman viel ausführlicher geschilderten Trip stark, die Stationen Bistritz und die herrlich gruselige Kutschfahrt zum Borgo-Pass entfallen vollständig. Kenner des Romans werden bei ihrer ersten Sichtung der Hammer-Films-Version ohnehin schnell gemerkt haben, dass sich Handlung, Orte und Personen stark von der Vorlage unterscheiden. Drehbuchautor Jimmy Sangster verwendete lediglich Versatzstücke und Figuren, um daraus seine ganz eigene Geschichte zu machen. Einige Straffungen, insbesondere die Beschränkung auf weniger Schauplätze, waren dem geringen Budget geschuldet. So entfällt beispielsweise die wunderbare Seefahrt nach England, auf der Dracula die Besatzung dezimiert. Auch bei den Figuren gab es Modifikationen: Der wahnsinnige, unter Draculas Einfluss stehende Renfield fiel völlig weg, die holden Damen Mina (Melissa Stribling) und Lucy (Carol Marsh) wurden anders angelegt. All das ändert nichts an der filmischen Qualität der 1958er-Adaption, macht aber Lust, dieses wunderbare Buch endlich mal wieder zu lesen. Was dem Film an Schauplätzen fehlt, macht er mit sorgfältigstem Setdesign wieder wett – auf Hammer Films war damals eben Verlass, das gilt auch für Ausstattung und Kostüme.
Aufs zeitgenössische Kinopublikum muss diese Szene nachhaltigen Eindruck gemacht haben: Die junge Frau (Valerie Gaunt), die Jonathan Harker eben noch um Hilfe angefleht hat, ist drauf und dran, ihre Vampirzähne in dessen Hals zu schlagen, als Dracula unter dramatischer Musik mit blutunterlaufenen Augen und blutverschmiertem Mund hineinstürmt und dem ein Ende setzt. Der Spuk ist zügig vorbei – eine temporeiche Sequenz, nach der Harker mit Brummschädel auf seinem Bett erwacht und die Zuschauerinnen und Zuschauer erst einmal durchatmen können. Im Roman ist es Jonathan Harkers Aufgabe, als Rechtsanwalt mit Graf Dracula dessen beabsichtigten Kauf eines Hauses in London in trockene Tücher zu bringen. In der filmischen Umsetzung von 1958 hingegen tritt Harker eine Stelle als Bibliothekar im Schloss an, verfolgt tatsächlich aber ganz andere Absichten …
Pflock ins Herz!
In seinem Schlafgemach findet sich Harker als Gefangener wieder, und die Bisswunde an seinem Hals versetzt ihn in Schrecken. Durchs Fenster kann er entkommen, beschließt, die Schlafstatt von Dracula und seiner Vampirsklavin ausfindig zu machen und beiden einen hölzernen Pflock durchs Herz zu treiben. Hier bringt ein kleines Logikloch die beabsichtigte Dramatik: Der Sonnenuntergang steht kurz bevor, Harker bleibt nur noch wenig Zeit, doch statt zuerst den ungleich stärkeren Dracula zu töten, widmet sich Harker zunächst der Vampirin. Ein Fehler …
Auftritt Abraham Van Helsing (Peter Cushing): In einem mit viel Knoblauch verhängten Gasthof in Klausenberg fragt er nach seinem Freund Jonathan Harker, doch der verängstigte Wirt reagiert ausweichend und unwirsch. Dessen Tochter hingegen überreicht Van Helsing Harkers Tagebuch, das in der Nähe des Schlosses gefunden wurde. Als Van Helsing am Schloss eintrifft, verlässt gerade eine schwarze Kutsche mit einem weißen Sarg in rasender Fahrt das Gemäuer.
Schrecken in 1958er-Kinosälen
„Dracula“ hat einige gruselige Szenen zu bieten, die hartgesottenen Konsumenten moderner Horrorfilme zwar harmlos vorkommen mögen, aufs damalige Publikum aber ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt haben dürften. Wenn ein Holzpflock ein weißes Kleid und den darin befindlichen Frauenkörper durchstößt und das Technicolor-grelle Blut spritzt, wird das einige im Kinosaal Sitzende das Fürchten gelehrt haben.
Kurz nach seiner Verkörperung von Baron Victor Frankenstein im Hammer-Film „Frankensteins Fluch“ („The Curse of Frankenstein“, 1957) spielte Peter Cushing mit dem Vampirjäger Dr. Van Helsing erneut eine ikonische Figur der Horrorliteratur. Desgleichen Christopher Lee, der in „Frankensteins Fluch“ das Monster darstellte. Es war ihr erster gemeinsamer Film mit bedeutsamen Rollen für beide – viele weitere sollten folgen.
Ein deutscher Vampir?
Klausenberg? Waterfield? Was denn nun? Ganz einfach: Schaut Ihr „Dracula“ mit der englischen Originaltonspur, spielt der Film durchweg in Osteuropa, womöglich sogar irgendwo im östlichen Deutschland, wie einige deutschsprachige Inschriften vermuten lassen. Die deutsche Synchronisation verlegt das Schloss des Grafen nach Transsylvanien, die spätere Handlung nach England.
Die vorbildliche Veröffentlichung von Anolis Entertainment enthält sowohl die 2007 vom British Film Institute restaurierte Fassung als auch die Hammer-Films-Restaurierung von 2012. Ein Jahr zuvor waren in Tokio einige alte Filmrollen aufgetaucht, die bis dato unbekannte Szenen enthielten. So gibt es eine gegenüber der älteren Fassung erweiterte Szene zwischen Dracula und Mina und etwas mehr „Fleisch“ im Finale. Ich verzichte darauf, stärker auf die nicht allzu großen Unterschiede am Ende einzugehen, da theoretisch die Möglichkeit besteht, dass eine Leserin oder ein Leser dieses Textes „Dracula“ noch nie gesehen hat (Skandal!). Wer mehr darüber erfahren will, wende sich dem Schnittbericht zu. Jedenfalls stellen die zusätzlichen Sequenzen eine kleine, aber feine Ergänzung des Films dar.
Massig Bonusmaterial
Was Anolis an Bonusmaterial auf die Disc gepackt hat, ist dem Status dieses großen Klassikers des Vampirfilms würdig. Diverse Featurettes mit etlichen Berichten von am Dreh Beteiligten und anderen Experten bringen massig Informationen – siehe die Auflistung unten –, auch das sorgsam bebilderte Booklet des Mediabooks bietet unterhaltsame und aufschlussreiche Lektüre für an „Dracula“-Verfilmungen Interessierte. Für eines der drei Cover des Mediabooks – natürlich das beste und bekannteste Motiv – muss man etwas tiefer in die Tasche greifen: Anolis hat es exklusiv in eine Holzbox gepackt, der zusätzlich eine Metall-Halskette mit Dracula-Schriftzug beiliegt. Box und Kette habe ich bislang nur auf Fotos gesehen, daher kann ich über die Wertigkeit nichts sagen. Wer von jedem Film die spektakulärste Edition haben muss, möge zuschlagen, die Holzbox-Edition ist noch zu bekommen. Mir reicht mein Mediabook mit Cover B, welches ich zum üblichen Tarif erstanden habe – mittlerweile ist es out of print und erzielt Sammlerpreise. Anolis sei es gegönnt, an diesem Label können sich einige Repack-Massenproduzenten ein Beispiel nehmen.
Wer Horrorfilmen im Allgemeinen und Vampirfilmen im Besonderen gern Platz im Regal gewährt, kommt nicht daran vorbei, auch „Dracula“ dort einzureihen. Ob das nun unbedingt ein Mediabook sein muss oder die Blu-ray in herkömmlichem Softcase ausreicht, sei allen Sammlern selbst überlassen. Eine der beiden restaurierten Fassungen sollte es schon sein, bei Anolis erhält man sogar beide, und das in hervorragender Bild- und Tonqualität.
Die Zahl der Dracula-Darsteller ist Legion. Den besten gibt es nicht, jede/r darf sich ihren/seinen Favoriten wählen. Aber selbst wer Bela Lugosi, Gary Oldman, Max Schreck, Klaus Kinski, Frank Langella („Dracula“, 1979) oder gar – Gott bewahre! – Thomas Kretschmann („Dario Argentos Dracula“, 2012) bevorzugt, wird anerkennen müssen: Kaum einer seiner Kollegen hat Bram Stokers Schauergestalt so geprägt wie Christopher Lee. Er ruhe in Frieden.
Die Anolis-Entertainment-Reihe mit Produktionen von Hammer Films haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgeführt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Terence Fisher sind in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Peter Cushing und Christopher Lee in der Rubrik Schauspieler. Ein lesenswerter Text zu „Dracula“ findet sich auch bei den Kollegen von Evil Ed.
Veröffentlichung: 19. Dezember 2017 als Blu-ray im limitierten Mediabook (in drei Covervarianten, eine davon exklusiv in Holzbox-Edition) und Blu-ray, 2. Oktober 2002 als DVD
Länge: 82 Min. (Blu-ray), 78 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Dracula
US-Titel: Horror für Dracula
GB 1958
Regie: Terence Fisher
Drehbuch: Jimmy Sangster, nach dem Roman von Bram Stoker
Besetzung: Christopher Lee, Peter Cushing, Michael Gough, Melissa Stribling, Miles Malleson, Carol Marsh, Olga Dickie, John Van Eyssen, Valerie Gaunt, Janina Faye, Charles Lloyd Pack
Zusatzmaterial: Dokumentation „Dracula Reborn – The Making of a Hammer Classic“ (31:46) – mit Jimmy Sangster, Janina Faye, Mark Gatiss, Jonathan Rigby und Kim Newman, Dokumentation „Resurrecting Dracula“ (17:36) – über die Restauration des Films inclusive des Wiedereinfügens des „verlorenen“ Materials, Dokumentation „Censoring Dracula“ (9:37) – die Zensurgeschichte des Films, Dokumentation „The Demon Lover – Frayling on Dracula“ (29:55) – der britische Historiker Christopher Frayling spricht über Dracula, „Janina Faye liest Stoker“ (12:45) – am 18. Februar 2012 auf dem Vault Festival, Super-8-Fassung (in Schwarz-Weiß, 1966, 8:35), US-Kinotrailer, deutscher Kinotrailer, deutsche Werberatschläge, französischer Werberatschlag, Filmprogramme, Bildergalerien
Audiokommentar mit Dr. Rolf Giesen, Uwe Sommerlad und Volker Kronz zur Hammer-Restaurierung 2012, Audiokommentar mit Marcus Hearn und Jonathan Rigby zur Hammer-Restaurierung 2012, Audiokommentar mit Marcus Hearn und Jonathan Rigby zur BFI-Restaurierung 2007, Bildergalerien und Trailer, nur Mediabook: Booklet mit Texten von Dr. Rolf Giesen und Uwe Sommerlad, nur Holzbox: Metall-Halskette mit Dracula-Schriftzug
Label/Vertrieb: Anolis Entertainment GmbH (DVD: Warner Home Video)
Copyright 2018 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & Packshots: © 2017 Anolis Entertainment GmbH