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Archiv für den Monat Oktober 2022

Horror für Halloween (XXXIV) / Stanley Kubrick (VIII): Shining (1980) – Meisterwerk trotz Kings Verachtung

The Shining

Von Volker Schönenberger

All work and no play makes Jack a dull boy. – Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

Der folgende Text kann Spuren von Spoilern enthalten.

Horror // Stephen King hat schon recht, wenn er meint, Stanley Kubrick habe bei der Adaption von Kings Roman „Shining“ (1977) die vom Overlook Hotel verkörperte Essenz des Bösen außer Acht gelassen. Tatsächlich scheint sich im Film „Shining“ (1980) das Böse in dem Hotel lediglich dadurch zu manifestieren, dass böse Taten dort auf metaphysische Weise ihre Spuren hinterlassen haben, wie es der Chefkoch Dick Hallorann (Scatman Crothers) zu Beginn erklärt. Bei Stephen King hingegen ist das Hotel selbst das personifizierte Böse, was es nachvollziehbar macht, dass der Großmeister der Horrorliteratur Kubricks cineastische Umsetzung nicht für adäquat hält, um es milde auszudrücken. Aber immerhin deutet der berühmte Blutschwall am Fahrstuhl an, dass auch mit dem Hotel etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Auch eine von außen verriegelte und sich öffnende Tür spricht dafür, ist sie doch lediglich mit einer Aura des Bösen nicht erklärbar.

Es geht idyllisch los

Kubrick schrieb das Drehbuch gemeinsam mit Diane Johnson – es blieb das einzige Skript der US-Schriftstellerin („Le Divorce“). Dabei veränderten die beiden den Fokus: Während Stephen King die Geschichte aus Sicht des Sohns Danny Torrance erzählt, spielt sich das Geschehen in Skript und Film vornehmlich aus der Perspektive des von Jack Nicholson verkörperten Vaters Jack Torrance ab. King hielt (und hält vermutlich) Nicholson sogar für fehlbesetzt, hätte sich einen „Normalo“ als Darsteller gewünscht, weil man bei Nicholson sowieso damit rechne, dass er durchdreht – und der charismatische Schauspieler grimassiert in der Tat von Anfang an.

Familie Torrance ist auf dem Weg …

Auch über die Besetzungspersonalie von Jack Torrances Ehefrau Wendy äußerte sich der Schriftsteller enttäuscht: Shelley Duvall sei als Wendy eine der frauenfeindlichsten Figuren, die je auf Film gebannt wurde, sie sei nur dazu da, zu schreien und dumm zu sein, und das sei nicht die Frau, über die er geschrieben habe. King hat da einen Punkt, allerdings ist Kubricks Änderung des Charakters nachvollziehbar, da sie mit der Änderung der Figur Jack Torrance einhergeht: Eine starke Frau würde mit dem Jack Torrance im Film nicht lange zusammenbleiben, also musste sie schwächer gezeichnet werden. Vor allem aber gilt: Die Eheleute Torrance mögen im Roman weniger manisch sein, aber genau dieses neben der Spur liegende Gebaren im Film übt einen voyeuristischen Reiz aus, dem wir uns nicht entziehen können. Und es ist auch die Kombination dieses Ehe- und Familiendramas mit einer betörenden Horrorvision, mit der sich „Shining“ in der Rezeption bei Kritikern und Fans gleichermaßen den Status erarbeitet hat, den der Film hat (den eines Meisterwerks). Unbenommen davon, dass sich viele andere der Kingschen Kritik angeschlossen haben, was ihr gutes Recht ist.

… ins Overlook Hotel

Es ist sogar eine Aussage Stephen Kings überliefert, Kubricks Verfilmung sei die einzige Adaption eines seiner Romane, bei der er sich daran erinnere, sie gehasst zu haben. So sehr man die Enttäuschung eines Schriftstellers versteht, der seinen Roman – sein Baby! – in Filmform gepresst nur verstümmelt wiedererkennt, so sehr kann einem Stephen King doch auch leid tun, weil er nicht in der Lage ist, dieses cineastische Horror-Meisterwerk einfach zu genießen. Ein wenig drängt sich auch der Verdacht auf, bei Kings jahrelangem Wettern gegen Kubricks Arbeit könne es sich um das Verhalten einer beleidigten Leberwurst handeln, weil der Regisseur dem Autor das Verfassen des Drehbuchs entzogen hatte.

Montana für Colorado

„Shining“ eröffnet mit einem wunderbaren Landschaftspanorama: Im Glacier-Nationalpark in den Rocky Mountains im US-Staat Montana fährt die Kamera über den Saint Mary Lake und die darin gelegene kleine Insel Wild Goose Island. Im Anschluss verfolgen wir aus der Luft einen gelben VW Käfer, der auf der Going-to-the-Sun Road seinem Ziel entgegenfährt (die Szenen wurden mittels Helikopter gedreht, die Zeit der Drohnen war noch lange nicht gekommen). Dort entstand die Eröffnungssequenz, im Film hingegen befinden wir uns in Colorado, wo Jack Torrance zu einem Job-Interview das hoch in den Rockies gelegene Overlook-Hotel aufsucht (für die Außenaufnahmen des Hotels hielt die an der Südflanke des Vulkans Mount Hood in Oregon gelegene Timberline Lodge her, die Innenaufnahmen entstanden in den berühmten Londoner Elstree Studios).

Chefkoch Hallorrann merkt: Auch Danny hat das „Shining“

Das Overlook schließt im Oktober und öffnet erst wieder im Mai, weil die dorthin führende Straße in der kalten Jahreszeit unpassierbar wird. In diesen Monaten wird dort ein Hausmeister benötigt, der dafür Sorge trägt, dass die Kälte dem Hotel nicht allzu übel mitspielt, und der kleinere Schäden repariert. Das bedeutet aber auch monatelange Isolation. Jack bekommt den Job angeboten und nimmt ihn an, auch wenn ihm der Hotelmanager Stuart Ullman (Barry Nelson) sogar von dem früheren Hausmeister Charles Grady (Philip Stone) berichtet, der 1970 dort seine Frau und seine Zwillingstöchter mit einer Axt ermordet und sich anschließend erschossen habe.

Mutter und Sohn erkunden das Labyrinth

Bald darauf reist der neue Hausmeister mit seiner Ehefrau Wendy (Shelley Duvall) und dem gemeinsamen Sohn Danny (Danny Lloyd) an. Es ist der Tag, an dem die verbleibende Belegschaft das Overlook verlassen wird. Familie Torrance lernt noch den Chefkoch Dick Hallorann kennen, mit dem Danny ein Geheimnis teilt. Die beiden sprechen darüber in einem Moment, da sie miteinander allein sind: Sie verfügen über telepathische und hellseherische Fähigkeiten – Hallorann nennt sie „Shining“. Bei Danny äußert sich das auch über „Tony“ einen imaginären (?) Freund, der durch den Mund des Jungen redet und im Zwiegespräch dessen Zeigefinger bewegt. Als Danny den Koch nach Zimmer 237 fragt, reagiert dieser schmallippig und beschwört den Jungen, den Raum auf keinen Fall zu betreten.

Danny fährt im Dreirad durch die Hotelflure …

Der einsame Aufenthalt der dreiköpfigen Familie lässt sich ruhig an. Danny fährt mit seinem Dreirad durch die Gänge oder stromert mit seiner Mutter durch das große Labyrinth aus Büschen, das sich neben dem Hotel befindet. Jack beginnt in einem der großen Säle langsam mit dem Schreiben – er will die Zeit im Hotel nutzen, einen Roman zu verfassen. Doch schnell stellen sich erste Misstöne ein. Als Wendy ihren Mann aufsucht, während er gerade an der Schreibmaschine sitzt, gibt er ihr äußerst unwirsch zu verstehen, fortan nicht mehr gestört werden zu wollen, wenn er sich in diesem Raum befinde.

Dannys Visionen häufen sich. Das Grauen hat gerade erst begonnen.

… und hat Visionen

Stanley Kubricks Porträt einer dysfunktionalen Familie in einer schauerlichen Isolation strotzt vor ikonischen Momenten, die „Shining“ zu dem Meisterwerk machen, das es ist, da kann Stephen King noch so sehr greinen. Die grandiose Kameraführung aus dem oben erwähnten Landschaftseinstieg setzt die Messlatte für das, was noch kommen mag, schon enorm hoch an, und der Rest des Films hält dieses Niveau. Seien es Dannys Dreiradtouren durch die Hotelflure mit dem markanten Teppichmuster, seien es seine Visionen – Zwillingsmädchen in adretten Kleidchen, mal aufrecht stehend, mal blutüberströmt tot auf dem Boden liegend. Nie hat ein Tennisball mehr Horror verströmt als der, der aus dem Nichts auf Danny zurollt.

Blutige Visionen

Oder der bitterböse Handlungsstrang um den wie Danny übersinnlich begabten Chefkoch des Overlook (die ganz oben zur Warnung erwähnten Spuren von Spoilern nehmen massiv zu): Ausgiebig schildert Kubrick, wie sich Dick Hallorann aufgrund seiner düsteren Vorahnungen auf den Weg zurück zum Hotel begibt, was sich aufgrund des winterlichen Wetters als gar nicht so einfach erweist. Als der hilfsbereite Koch schließlich nach beschwerlichem Trip im Hotel eintrifft und durchs Foyer geht – zack! Das hat er nicht vorausgesehen! Ganz schön gemein von Kubrick, uns den weiten Weg Halloranns verfolgen zu lassen, nur um ihn …

„Here’s Johnny!“

Richten wir unseren Blick aufs Finale: Wenn Wendy liest, was ihr Göttergatte von Möchtegern-Schriftsteller während des Aufenthalts in die Schreibmaschine gehämmert hat, kann einem vor Angst schon blümerant werden. Und zu Recht, wie sie kurz darauf merkt, wenn er die Axt schwingt und mit Here’s Johnny! durch den von ihm geschlagenen Türspalt grinst (fürs deutsche Kino zu Hier ist Jackie! umsynchronisiert, weil man vermutlich – wohl zu Recht – annahm, das hiesige Kinopublikum werde die Anspielung auf den Beginn der in den USA legendären Tonight Show mit ihrem damaligen und langjährigen Moderator Johnny Carson nicht verstehen). Für die Szene, in der sich Jack Torrance mit der Axt Einlass ins Badezimmer zu verschaffen versucht, in welchem die in Panik befindliche Wendy kauert, bediente sich Stanley Kubrick recht unverhohlen bei den beiden Stummfilmklassikern „Gebrochene Blüten“ (1919) von David Wark Griffith und „Der Fuhrmann des Todes“ (1921) von Victor Sjöström.

Ein Sturzbach aus Blut

Ganz wunderbar auch, wie Danny und Jack zum Ende hin jeder für sich durch das eingeschneite Labyrinth irren – Danny auf der Flucht, Jack auf der Jagd. Hier unter anderem kam die von Garrett Brown geführte Steadycam zum Einsatz, eine damals innovative Technik, die Kamera mittels Schwebestativ am Körper zu tragen, was viel Bewegungsfreiheit und dennoch wackelfreie Bilder mit sich brachte. Übrigens nahm sich Kubrick auch bei den Hecken Freiheiten, denn im Roman handelt es sich keineswegs um ein Labyrinth, sondern um zu dekorativen Tierfiguren zurechtgestutzte Hecken, die sogar zum Leben erwachen. Der Regisseur schreckte vor der filmischen Umsetzung zurück, weil er sie dem damaligen Stand der Spezialeffekte nicht zutraute. In der von Mick Garris inszenierten und von Stephen King als Executive Producer mitverantworteten dreiteiligen Miniserie „The Shining“ (1997) kamen die Heckentiere zum Einsatz und setzten sich tatsächlich in Bewegung. Diese Fernsehproduktion hat auch ihre Qualitäten, auch wenn ihr die visuelle Kraft von Kubricks Version abgeht.

Jack Torrance (l.) trifft auf den freundlichen Barkeeper Lloyd

Dieser visuellen Kraft zum Trotz wurde „Shining“ 1981 sogar für zwei Goldene Himbeeren nominiert: Stanley Kubrick und Shelley Duvall kamen in den zweifelhaften Genuss, als schlechtester Regisseur beziehungsweise schlechteste Hauptdarstellerin nominiert zu werden – der Kelch ging allerdings an ihnen vorbei, da Robert Greenwald für „Xanadu“ und Brooke Shields für „Die blaue Lagune“ „prämiert“ wurden. Shelley Duvalls Nominierung wurde von den Veranstaltern der Razzie Awards 2022 sogar nachträglich zurückgenommen, da mittlerweile bekannt war, wie sehr der Regisseur seine Hauptdarstellerin schikaniert hatte, um ihre schauspielerische Leistung als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs anzustacheln. So habe er seine Crew angewiesen, Duvall mit Missachtung zu behandeln, und speziell Szenen mit ihr viel häufiger wiederholen zu lassen, als er es ohnehin gern betrieb. Eine zweifelhafte Methode, mit der egomanische Filmemacher heute hoffentlich nicht mehr ohne Weiteres durchkommen.

In Deutschland bis 2019 nur gekürzt erhältlich

Für den internationalen Markt schnitt Kubrick einige Szenen heraus, sodass „Shining“ außerhalb der USA um rund 20 Minuten gekürzt verliehen und vertrieben wurde. Die Langfassung war in Europa lange Zeit weder erhältlich noch bekannt, in Deutschland erschien sie erstmals 2019 als UHD Blu-ray, immerhin mit zusätzlicher Blu-ray. Die nun für uns zusätzlichen Szenen erhellen die brisante familiäre Gemengelage der Torrances mit Jacks Alkoholproblemen und häuslicher Gewalt. Stephen King hatte seinerzeit selbst mit dem Teufel Alkohol zu kämpfen und verarbeitete in seinem Roman auch die eigenen Probleme, was ihm in Kubricks Film ebenfalls zu kurz kam. Die Unterschiede zwischen beiden Fassungen können detailliert im Schnittbericht nachgelesen werden.

Der Wahnsinn bricht sich Bahn

Wer sich mit Kubricks „Shining“ beschäftigt, stößt zwangsläufig auf einige Thesen darüber, welche Themen der Regisseur mittels versteckter Hinweise in seinem Film verborgen haben könnte. So sei der Filme eine Metapher für die Vertreibung und Ermordung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, wofür beispielsweise die Erwähnung spreche, das Overlook Hotel sei auf einem indianischen Friedhof errichtet worden. Bei Weitem nicht der einzige Hinweis darauf und deshalb sicher nicht nur irgendeine Verschwörungstheorie. Erstmals äußerte der Journalist Bill Blakemore diese Vermutung im Juli 1987 in einem Artikel in der Washington Post mit dem Titel „Kubrick’s Shining’ Secret“. Der Filmhistoriker Geoffrey Cocky wiederum brachte die These auf, „Shining“ könne auch als indirekter Kubrickscher Kommentar zum Holocaust verstanden werden, dem Völkermord an den europäischen Juden.

Die Axt im Haus

Mit diesen beiden großen Theorien zur Interpretation von „Shining“ gehen etliche kleinere, auf Details bezogene einher, die mal mehr, mal weniger Hand und Fuß haben. All dies wurde 2013 in der Doku „Room 237“ verarbeitet. Hartnäckig hält sich unter Verschwörungstheoretikern allerdings weiterhin das Gerücht, Stanley Kubrick habe 1969 im geheimen Auftrag der US-Regierung auf der Erde die Mondlandung inszeniert. Die französische MockumentaryKubrick, Nixon und der Mann im Mond“ hat dieses Hirngespinst 2002 auf höchst unterhaltsame Weise aufgegriffen. Allein mit der These vom Einbau des Holocausts lassen sich ebenso etliche Seiten füllen wie mit der Theorie, in „Shining“ verberge sich auch ein Kommentar zur Geschichte der Ureinwohner. Beide lassen sich sogar recht schlüssig begründen, die Beschäftigung damit würde aber ebenso den Rahmen dieses Texts sprengen wie das tiefergehende Aufgreifen der Frage, ob Kubrick Hinweise auf seine Beteiligung an der falschen Mondlandung in den Film eingebaut habe. Auch jenseits solcher Ansätze bietet „Shining“ eine enorme Spielfläche für Interpretationen und lädt zur intensiven Beschäftigung ein. Aber natürlich kann man sich auch einfach zurücklehnen und vom Film gehörig gruseln lassen. Das funktioniert heute noch genauso wie im Jahr 1980.

„Here’s Johnny!“

Stephen King ließ seinem Roman 2013 eine Fortsetzung mit dem Titel „Dr. Sleep“ folgen, deren Verfilmung „Doctor Sleeps Erwachen“ 2019 in die Kinos kam. Ewan McGregor spielt darin den erwachsenen Danny Lloyd. Das Sequel muss sich vor anderen Verfilmungen des Autors nicht verstecken, auch wenn es nicht zu den großen Stephen-King-Adaptionen aufschließt, zu „Shining“ schon mal gar nicht. Regisseur Mike Flanagan hat selbst die Schwierigkeit eingeräumt, die Romanfortsetzung zu inszenieren, weil man an Kubricks Version einfach nicht vorbeikomme. Über „Shining“ ließe sich noch so viel schreiben, etwa über die den Film beschließende Fotografie der Feier des Unabhängigkeitstags 4. Juli 1921, die Jack Torrance inmitten vieler Partygäste zeigt. Aber belassen wir es dabei. Auf die Gefahr, mit Wiederholungen zu langweilen: „Shining“ ist ein Meisterwerk. Einer der großen Horrorfilme der Kinogeschichte und bis heute von Einfluss.

Im Labyrinth

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Stephen-King-Adaptionen sind in unserer Rubrik Filmreihen aufgelistet. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Stanley Kubrick haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Scatman Crothers und Jack Nicholson unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 10. Oktober 2019 als UHD Blu-ray im Steelbook und UHD Blu-ray (Langfassung, jeweils inkl. Blu-ray), 8. Juli 2015 als Teil der 8-Blu-ray-Box „Stanley Kubrick – Visionary Filmmaker Collection“, 6. November 2014 als Teil der 10-Blu-ray-Box „Stanley Kubrick – The Masterpiece Collection“, 17. Dezember 2007 als Teil der 5-Blu-ray-Box „Stanley Kubrick Collection“, 6. Dezember 2007 als Blu-ray, 26. September 2008 & 23. August 2001 als Teil der DVD-Boxen „Stanley Kubrick Collection“, 4. Juli 2008 & 23. August 2001 als DVD

Länge: 144 Min. (Blu-ray, Langfassung), 119 Min. (Blu-ray, Exportfassung), 115 Min. (DVD, Exportfassung)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The Shining
USA 1980
Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Diane Johnson, nach dem Roman von Stephen King
Besetzung: Jack Nicholson, Shelley Duvall, Danny Lloyd, Scatman Crothers, Joe Turkel, Philip Stone, Anne Jackson, Tony Burton
Zusatzmaterial: keine Angabe
Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Packshots DVDs & Visionary Filmmaker Collection: © 2016 Warner Home Video,
Szenenfotos: © 1980 Warner Bros. Inc.

 
 

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Horror für Halloween (XXXIII): Tunnel der lebenden Leichen – „Mind the Doors!“

Death Line

Von Volker Schönenberger

Horror // Das Studentenpärchen Patricia Wilson (Sharon Gurney) und Alex Campbell (David Ladd) entdeckt auf der Treppe eines Londoner U-Bahnhofs einen Bewusstlosen. Ein Blick in dessen Brieftasche identifiziert ihn als James Manford (James Cossins), einen Officer of the Order of the British Empire. Als die beiden mit einem Bobby zurückkehren, ist der Mann verschwunden. Weil Manford als Träger des britischen Ritterordens kein kleines Licht ist, nehmen Inspector Calhoun (Donald Pleasence) und Detective Sergeant Rogers (Norman Rossington) Ermittlungen auf. Es stellt sich heraus, dass rund um den U-Bahnhof Russell Square immer wieder Menschen verschwunden sind. Calhouns Borniertheit verhindert zunächst Ermittlungserfolge. Obendrein tritt unvermittelt der Agent Stratton-Villiers (Christopher Lee) vom britischen Inlandsgeheimdienst MI5 auf den Plan, der verhindern will, dass der Inspector zu tief in den Angelegenheiten des Vermissten wühlt. Schließlich erwacht eine urbane Legende zum Leben, nach der beim Bau der U-Bahn Ende des 19. Jahrhunderts eine Schar Arbeiterinnen und Arbeiter verschüttet wurde, unterirdisch überlebt und eine kleine Gemeinde gebildet hat, die sich kannibalistisch ernährt.

„Tunnel der lebenden Leichen“ hat für ein durch moderne Sehgewohnheiten geprägtes Filmpublikum das typische Problem manch alten Films, dass man seine Erwartungen an Tempo herunterschrauben und sich auf eine fast schon betont gemächliche Erzählgeschwindigkeit einlassen muss, um sich nicht zu langweilen. So werden wir beispielsweise recht früh Zeuge zweier langer Kamerafahrten, in denen sich sowohl das Schicksal Manfords als auch das der unterirdisch lebenden Kreaturen offenbaren. Da kann man entweder ungeduldig werden oder sich zurücklehnen und die Szenerie genießen, wobei „genießen“ angesichts einiger eher ekliger Details natürlich relativ ist. Jedenfalls bekommen wir auf diese Weise komplett dialogfrei bereits einen tiefen Einblick in das Dahinvegetieren des „Monsters“.

Schnitt und …

Ebenfalls hinzunehmen ist die Tatsache, dass das unterirdisch hausende Kannibalenpärchen (Hugh Armstrong, June Turner) in der Tiefe ausharrt, statt den Weg ans Tageslicht zu suchen. Ein meines Erachtens allerdings geringfügiges Logikloch, das dem Spaß an „Tunnel der lebenden Leichen“ keinen Abbruch tut, zumal das Geschehen ansonsten einigermaßen schlüssig abläuft. Apropos lebende Leichen: Zwar handelt es sich bei den beiden mitnichten um Untote, ihr durch Geschwüre entstelltes Äußeres und die mangels Sonnenlicht fahle Gesichtsfarbe lassen sie aber als solche wirken, sodass ich diese deutsche Titelschöpfung nicht anprangern würde.

Donald Pleasence!

Eine Freude ist es, Donald Pleasence zuzuschauen. Der Gute gibt mit Verve den dienstbeflissenen Kriminalisten und bereichert jede Szene, ob beim Verhör des Studenten Alex, den er mit gebotener Herablassung behandelt, oder in einer bierseligen Szene im Pub. Es muss Pleasence einen Heidenspaß gemacht haben, Calhouns Blasiertheit gegenüber den jungen Studenten zu spielen: Why don’t you hurry back to your school, Mr. Campbell? There might be a protest march for you to join. Frei übersetzt: Zurück an ihre Schule, Herr Campbell. Vielleicht wartet ein Protestmarsch auf Sie! Ganz wunderbar!

Kurzauftritt von Christopher Lee

Bemerkenswert ist Pleasences Aufeinandertreffen mit Christopher Lee – im Übrigen die einzige Szene des „Dracula“-Darstellers: Die beiden unterhalten sich in Schuss-Gegenschuss-Montage, weil Lee Pleasance deutlich überragte, was in puncto Bildrahmen problematisch gewesen wäre. Erst am Ende, wenn sich Lee hingesetzt hat, sind beide gemeinsam im Bild zu sehen. Bedauerlich für Lee, der die Rolle dem Vernehmen nach einzig angenommen hatte, um mit Pleasence zusammenzuarbeiten, und dafür sogar Tariflohn akzeptierte. Angesichts seiner kurzen Drehzeit wird er es verschmerzen.

… Gegenschnitt

Das Geschehen spielt sich auf drei Erzählschienen ab, die bisweilen aufeinandertreffen: Da sind zum einen Patricia und Alex, deren Erlebnissen wir folgen und die erneut mit dem unterirdischen Grauen konfrontiert werden; zum anderen versucht Inspector Calhoun mit seinem Mitarbeiter Detective Sergeant Rogers, Licht ins Dunkel der Vermisstenfälle zu bringen. Schließlich immer wieder Szenen mit dem degenerierten Mann, der mehr und mehr aus der Deckung kommt.

Mal wieder ein Verriss von den Katholiken

Ein abstruser, völlig unlogischer Gruselfilm mit ekelerregenden Details, den auch der bizarre Humor, der die polizeilichen Maßnahmen begleitet, nicht erträglicher macht. Das Lexikon des internationalen Films der Katholischen Filmkommission für Deutschland ziehe ich bei Horrorfilmen stets gern zu Rate, da seine Verrisse speziell in früheren Jahrzehnten oft zum Schmunzeln reizen und fast schon als Empfehlungen für Gruselfans durchgehen. Selbstverständlich ist „Tunnel der lebenden Leichen“ alles andere als unerträglich, sondern ein herrlich abstruses Vergnügen englischen Gruselkintopps der 70er. Der Drehbuchautor und Regisseur Gary Sherman („Tot & begraben“, 1981) hob sein Spielfilmdebüt über den Durchschnitt gängigen Monsterfilm-Unfugs, indem er der Figur des unterirdisch hausenden Mannes – die Frau spielt eine geringe Rolle – eine gehörige Portion Tragik beimengte.

Auch er schneidet gern

Der US-Kritikerpapst Roger Ebert bemängelte in seiner Rezension von „Tunnel der lebenden Leichen“ nicht nur several vast improbabilities, also einige gewaltige Ungereimtheiten, sondern insbesondere auch die painfully inept performance, die schmerzvoll linkische Darstellung von David Ladd. Nun hat der Sohn von Leinwandlegende Alan Ladd („Mein großer Freund Shane“) zwar in der Tat keine Chance, in den gemeinsamen Szenen mit Donald Pleasence zu bestehen, gleichwohl ist Ladds Leistung überhaupt nicht angetan, den Film herabzuwürdigen. So bedeutsam ist seine Rolle gar nicht, wie Ebert sogar selbst aufgefallen ist: Luckily, Ladd is not in too much of the movie. Glücklicherweise trete Ladd im Film nicht allzu oft auf.

Sawney Bean lässt grüßen

Als Inspiration mag die Legende von Alexander „Sawney“ Bean gedient haben, der mit seiner inzestuösen und kannibalistischen Sippschaft angeblich im 15. Jahrhundert in Schottland wütete (aber womöglich gar nicht existierte). Die britische Produktion entstand mit US-Finanzmitteln von American International Pictures. Im Original „Death Line“ betitelt, feierte sie ihre Weltpremiere im Oktober 1972 im Vereinigten Königreich, knapp ein Jahr später gelangte sie unter dem Titel „Raw Meat“ auch in die US-Kinos, nach Westdeutschland erst 1976.

Vorsicht an der Bahnsteigkante!

Was uns Deutschen in Bahnhöfen als Vorsicht an der Bahnsteigkante geläufig ist, lautet bei den Briten Mind the gap (Achten Sie auf die Lücke – gemeint ist die Lücke zwischen Bahnsteig und Bahn) oder Mind the doors (Achten Sie auf die Türen – beim Schließen derselben). Letztgenannter Satz spielt in „Tunnel der lebenden Leichen“ eine kleine, aber feine Rolle und beschließt den Film auch. Eine Lücke klafft in der Tat, und zwar in deutschen Heimkinoregalen, da es „Tunnel der lebenden Leichen“ bislang noch nicht auf eine deutsche DVD oder Blu-ray geschafft hat. In den USA hat das angesehene Label Blue Underground „Raw Meat“ bereits 2017 einen vermutlich wertigen HD-Transfer angedeihen lassen, auf den Zug wird ein deutscher Lizenznehmer hoffentlich bald aufspringen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Christopher Lee und Donald Pleasence haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung (D): 11. August 2023 als Blu-ray, 10. Februar 2023 als DVD
Veröffentlichung (GB): 17. April 2019 als DVD, 27. August 2018 als Blu-ray
Veröffentlichung (USA): 27. Juni 2017 als 2-Disc Collector’s Edition (Blu-ray & DVD), 26. August 2003 als DVD

Länge: 87 Min. (Blu-ray), 84 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Englisch, Französisch
Originaltitel: Death Line
US-Titel: Raw Meat
GB 1972
Regie: Gary Sherman
Drehbuch: Ceri Jones
Besetzung: Donald Pleasence, Norman Rossington, David Ladd, Sharon Gurney, Hugh Armstrong, June Turner, Clive Swift, James Cossins, Heather Stoney, Hugh Dickson, Christopher Lee
Zusatzmaterial D: Interview mit Schauspieler Hugh Armstrong, Kinotrailer, Bildergalerie, Wendecover, nur Blu-ray: Bonusfilm „Der Geisterzug von Clematis“ (1978)
Label D: Pidax Film
Vertrieb D: Al!ve AG
Label/Vertrieb GB: Network
Label/Vertrieb USA 2017: Blue Underground
Label/Vertrieb USA 2003: MGM

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Gruppierter Packshot oben: © 2023 Pidax Film,
Szenenfotos & gruppierter Packshot unten: © 2017 Blue Underground,
Filmplakate: Fair Use

 
 

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Horror für Halloween (XXXII): Das Cabinet des Dr. Caligari – Die Errettung der filmischen Realität

Das Cabinet des Dr. Caligari

Von Lucas Gröning

Stummfilm-Horror // Der Deutsche Expressionismus gilt als eine der herausragenden Perioden der Filmgeschichte. Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau und andere Regisseure verhalfen dem deutschen Kino mit Werken wie „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920), „Der müde Tod“ (1921) „Die Bergkatze“ (1921), „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922), „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922), „Metropolis“ (1927) und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) in einer schwierigen Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu einer globalen Anerkennung, wie sie bis heute nicht mehr erreicht wurde.

Eines der zentralen und wohl bekanntesten Werke dieser Zeit stellt Rober Wienes 1920 veröffentlichter Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ dar. Beginnen möchte ich mit einem kurzen Handlungsblock, gefolgt von einer historischen Einordnung des Films, bevor ich mich seiner Ästhetik und dem Begriff des Deutschen Expressionismus widme sowie schlussendlich einige Interpretationsansätze aufgreife.

Zunächst zum im fiktiven Städtchen Holstenwall angesiedelten Plot: Ein Jahrmarkt hält Einzug in den Ort und wird als Großereignis zur Sammelstelle der gesamten Bevölkerung. Mit dabei: Ein gewisser Dr. Caligari (Werner Krauss), der sich zunächst die Genehmigung für den Aufbau seines Standes holen muss und im Zuge dessen mit den örtlichen Behörden aneinandergerät. Nach einigen Querelen wird dem zwielichtigen Doktor die Genehmigung ausgestellt, sodass er der örtlichen Bevölkerung seine Attraktion präsentieren kann. Diese stellt sich als ein sogenannter Somnambuler heraus, ein Schlafwandler mit dem Titel Cesare (Conrad Veidt), welcher Caligari zufolge jeder Person zu jeder Zeit die Zukunft voraussagen kann. Eine Fähigkeit, die sich sogleich als Unglück für den als Besucher angereisten Alan (Hans Heinrich von Twardowski) entpuppt, welcher in Begleitung seines Kumpanen Franzis (Friedrich Fehér) die erste Vorstellung des Doktors besucht. Ihm wird auf seine Frage, wie lange er leben werde, mit der Antwort „Bis zum Morgengrauen!“ der baldige Tod prophezeit, was Alan in Angst versetzt und fortan vor jedweder potenziellen Bedrohung erschaudern lässt. Und tatsächlich geht in Holstenwall ein Mörder um. Was haben Dr. Caligari und Cesare mit den mysteriösen Geschehnissen in der Stadt zu tun?

Eine Zeit der Umbrüche

Bevor es nun darum gehen soll, was „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zu einem solch außergewöhnlichen Vertreter des Mediums macht, will ich auf die historische Ausgangslage in der Weimarer Republik zum Ende der 1910er-Jahre und Anfang der 1920er-Jahre eingehen, weil sie für eine angemessene Erklärung des Films unabdinglich erscheint. Der Schlüssel ist hier augenscheinlich das Jahr 1918, in welchem zwei entscheidende Ereignisse der deutschen Geschichte stattgefunden haben: Zum einen das Ende des Ersten Weltkrieges und zum anderen, und damit einhergehend, die Gründung der Weimarer Republik und somit die Ablösung des deutschen Kaiserreichs. Wir hatten es also mit einer Änderung der Herrschaftsform zu tun, welche die Monarchie hinter sich ließ und ein demokratisches System etablierte. Ein enormer gesellschaftlicher Umbruch, welcher inmitten einer krisengebeutelten, von riesigen Armutswellen, Epidemien und der langsam anlaufenden Inflation durchsetzten Zeit vollzogen werden musste. All dies sind Krisen, welche nun plötzlich, in Abwesenheit des Kaisers als oberstem Schirmherren und Verantwortungsträger, den verantwortungsbewussten Bürger mit seiner individuellen Handlungsmacht und vor allem Handlungspflicht erforderten. Eine nie gekannte Situation für das bürgerliche Individuum, welche die Möglichkeit und gleichzeitig Bürde mit sich brachte, mit den Krisen der 1920er-Jahre umgehen zu dürfen beziehungsweise zu müssen. Eine neue Unübersichtlichkeit machte sich breit und ergab sich aus den nun zahlreich stattfindenen Diskussionen und Streitgesprächen, mit denen die junge Weimarer Republik erst lernen musste umzugehen.

Es bot sich unvermittelt also ein zuvor unmöglicher Raum zur Debatte und zur Etablierung einer völlig neuen Kultur, in welcher das menschliche Subjekt aufblühen und sein Schicksal mithilfe der eigenen Stimme in einem gewissen Rahmen selbst beeinflussen konnte. Eine Entwicklung, von der selbstverständlich auch die Kunst und insbesondere der Film maßgeblich beeinflusst wurden. Dieser galt lange als ein Nachfolgemedium der Fotografie und sollte zunächst die Funktion übernehmen, diese als Mittel zur „Errettung der physischen Realität“, wie es der bekannte Journalist und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1889–1966) formulierte, abzulösen und ihre Befreiung hin zum Medium der Kunst ermöglichen, so wie es die Fotografie viele Jahre zuvor mit der Malerei getan hatte. Statt also selbst zu einer Form künstlerischen Ausdrucks zu werden, sollte der Film sich lediglich darauf beschränken, die Realität wiederzugeben und für ein breites Publikum zu reproduzieren, wie es ja auch in den ersten Jahren der Filmgeschichte geschah (man denke an die ersten Werke der Brüder Lumière). Mit dem gesellschaftlichen Umbruch innerhalb Deutschlands kam es jedoch zu einem Umdenken, einem Hinterfragen dieser Funktion und einem Ausloten und Reflektieren der formellen Gestaltungsoptionen durch die Avantgarde, was sich unmittelbar auf die filmhistorischen Entwicklungen der Weimarer Republik auswirken sollte. Der Film sollte nun selbst Ausdruck von Kunst sein und nicht länger als reines Medium der Abbildung verstanden werden. Es war die Voraussetzung für das, was sich mit Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ realisieren lassen sollte.

Die Entstehung des Deutschen Expressionismus

Denn was ist während der Betrachtung des Films zu bestaunen? Augenscheinlich haben wir es hier in keinster Weise mit einem Nachahmen oder gar einer Errettung der Wirklichkeit zu tun. Es ist eine durch und durch verzerrte Realität. Sie ist gekennzeichnet von Straßenzügen, die so nicht verlaufen können, Häusern, die so nicht gebaut werden können, und Größenverhältnissen, die in dieser Form unmöglich erscheinen. Zu sehen ist eine Realität, die weder gerade Winkel noch Formen kennt, ein Gefühl von Unordnung hervorruft und die Ausstellung ihrer Künstlichkeit zum alles überstrahlenden Prinzip erklärt. Ein völliges Zerrbild dessen was man Wirklichkeit nennt und zugleich die Realisation eines Gegenentwurfs zum bis dato etablierten Verständnis der Aufgabe von Film. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erinnert eher an Malerei als an alles, was in der Realiät an tatsächlicher unvermittelter Begegnung möglich sein kann und schuf gerade dadurch seine filmhistorische Relevanz. Ein Film, der durch das Ausreizen formeller Gestaltungsoptionen jene Epoche maßgeblich beeinflusste, die heute als „Deutscher Expressionismus“ bekannt ist.

Dr. Caligari kommt mit dem Jahrmarkt nach Holstenwall

Für diese Epoche wurde Robert Wienes Werk in gewisser Weise als paradigmatisch angesehen, denn seine Regiearbeit vereint die wichtigsten Merkmale, die laut der Filmwissenschaftlerin Lotte H. Eisner (1896–1983) als maßgeblich zu betrachten sind. Sie arbeitete in den 1950er-Jahren heraus, dass an zugehörigen Filmen ein deutlich sichtbarer Einfluss expressionistischen Theaters sowie Bildkunst auf die Filmarchitektur sowie auf die Kostüme und das Spiel der Darsteller festzustellen ist. Außerdem sei expressionistische Literatur ein großer Einflussfaktor auf die thematische Gestaltung filmischer Sujets. All dies klingt natürlich sehr abstrakt und selbstverständlich lassen sich nicht alle Werke des Deutschen Expressionismus durch die Verbindung jener Merkmale kennzeichnen, weswegen Eisner zwei kleinste gemeinsame Nenner für die Filme dieser Epoche herausarbeitete: das Stilmerkmal des starken kontrastierten Einsatzes von Licht und Schatten sowie das expressive Spiel der Darsteller. Beide Merkmale können wir in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ an mehreren Stellen bewundern. Das starke Kontrastieren von Licht und Schatten ist vor allem in den Nachtszenen zu vernehmen und vor allem in jenen Szenen, in denen uns Konflikte zwischen den Figuren gezeigt werden. Das expressive Spiel wiederum ist hier ebenso bei jeder Figur zu bewundern, vor allem jedoch im Hinblick auf die massiven Gesichtsverrenkungen eines Werner Krauss, der es hier vermag, seinem Dr. Caligari etwas durch und durch Bösartiges und Unheimliches zu verleihen.

Wessen Psychologie?

Expression fungiert hier in jeglicher Hinsicht und im Sinne der unmittelbaren Wortbedeutung als Ausdruck, sowohl durch das soeben angesprochene Schauspiel, als auch durch die verzerrte, von unserer Realität abstrahierte Welt. Stellt sich nur die Frage, was hier eigentlich in Form von Expression auf der Leinwand ausgedrückt werden soll. Der Film gibt darauf mehrere Antworten. Zunächst wird nahegelegt, dass es sich um einen Ausdruck des inneren Gemütes unserer Hauptfigur Franzis handelt, die sich zum einen in den Verstrickungen einer potenziell romantischen Dreiecksbeziehung mit Alan und dem Love Interest beider, dem jungen Mädchen Jane (Lil Dagover), befindet. Zum anderen lässt der Film durch die Eingliederung des Plots in eine Rahmenhandlung Interpretationen hinsichtlich der geistigen Gesundheit des Protagonisten zu. Diese Rahmenhandlung fügte Regisseur Robert Wiene dem Film gegen den erklärten Widerspruch der beiden Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz hinzu.

Gefangen zwischen den Begehrensstrukturen der Männer

Wie man es auch deutet, konfrontiert „Das Cabinet des Dr. Caligari“ Franzis mit einer Überforderungssituation, deren Komplexität in der konfusen Gestaltung der filmischen Realität einen adäquaten Ausdruck findet. Gleiches lässt sich allerdings auch auf andere Figuren übertragen. Zwar ist der Film über weite Strecken an Franzis gebunden, jedoch lässt sich die Problemstellung des unauflösbaren Begehrens auch auf Alan übertragen, dessen Konfusion zusätzlich durch das drohende Lebensende in Form der Prophezeiung des Somnambulen gesteigert wird. Ähnliches gilt für Jane als Gefangene zwischen den Begehrensstrukturen der beiden Männer. Die angesprochene Rahmenhandlung fungiert in dieser Lesart dann nicht nur als Realität von Franzis, auch Alan und Jane werden in einer Weise dargestellt, sodass der Plot um die Morde von Holstenwall als Spiegelung des Inneren dieser beiden Figuren gesehen werden kann.

Der Doktor präsentiert den Bewohnern seine Hauptattraktion: den Somnambulen Cesare

Es gibt jedoch noch mindestens eine weitere Interpretation. Diese orientiert sich stärker an den historischen Tatsachen und fasst „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Spiegelbild der afilmischen Realität auf. Denn was ist, wenn die konfuse Weltdarstellung des Films nicht Ausdruck einer bestimmten Figur ist, sondern als Expression der Realitätswahrnehmung des Publikums der Weimarer Republik betrachtet wird? Ich hatte zuvor bereits auf die konfuse Zeit im Zuge des Aufkommens der Weimarer Republik hingewiesen, die sich in einer Demokratisierung des Landes und einer Überforderung der Bürgerinnen und Bürger niederschlug. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nacheliegend, dass das damalige Kinopublikum Robert Wienes Werk im Lichtspielhaus betrachtete und der Gedanke „Ist das nicht exakt das, was wir hier gerade erleben?“ alles andere als fern schien. Dass also die künstlerische Überhöhung der physischen Realität ein viel größerer Ausdruck von Wirklichkeit ist, als all jenes, was man alltäglich wahrnahm, wenn man beispielweise durch die realen Straßen von Berlin geschritten ist, scheint durchaus naheliegend. Wie aber ist dann die Rahmenhandlung zu werten, die den titelgebenden Dr. Caligari als ordnende Hand ins Zentrum ihres Geschehens rückt?

Von Caligari zu Hitler

Hier kommen wir zur wohl größten Kontroverse, die Robert Wienes Film umranken und spätestens hier kommen wir erneut nicht an Siegfried Kracauer vorbei. Der Filmsoziologe veröffentlichte 1947 seine aufsehenerregende Schrift „Von Caligari zu Hitler – Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“, in der er anhand der frühen Filmgeschichte eine Darstellung der deutschen Gesellschaftspsychologie formulierte und sich die Frage stellte, wie es in der vergleichsweise jungen Weimarer Republik zu Voraussetzungen kommen konnte, die später im dunklen Kapitel des Nationalsozialismus münden sollten. Er schlussfolgerte, dass sich in jenen Filmen, vor allem in „Das Cabinet des Dr. Caligari“, bereits der Wunsch nach einer starken Führerfigur manifestierte, was in abstrakter Form den Aufstieg Adolf Hitlers vorbereitet habe. Vor allem steht hier die angesprochene Rahmenhandlung im Zentrum des Interesses, in welcher Dr. Caligari eine positive Zuschreibung erhält, die eine Form von Ordnung, Struktur, Klarheit in das zuvor präsentierte Chaos zu bringen vermag. Kracauer sieht Dr. Caligari somit als ordnendes Korrektiv, das aber zur Schaffung dieser Ordnung in manipulativer Weise in das Unbewusste der Masse eindringe und diese Fähigkeit zur Gleichschaltung aller Individuen in seinem Sinne verwende. Eine These, die zwar nicht vollends von der Hand zu weisen ist, allerdings in Konfrontation mit der Komplexität dieses Werkes nur eine von vielen validen, jedoch weitestgehend gegenläufigen Lesarten darstellt. Nicht umsonst ist Kracauers Interpretation reichlich umstritten und breit diskutiert worden.

Angesichts mehrerer Morde bekommen die Bewohner Angst vor dem Schlafwandler

Unbestritten ist jedoch, dass „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ein ästhetischer Meilenstein der Filmgeschichte ist, welcher eine Vielzahl nachfolgender Werke in beispielhafter Weise beeinflussen sollte. Der amerikanische Film noir der 1940er-Jahre ist ohne Caligari sicherlich ebenso wenig denkbar wie viele Horrorfilme, die in den folgenden Jahren, aber auch noch heute, ihren Weg in die Kinos finden sollten. Das Prinzip eines Mörders, der als Agent einer Zuschauerschaft fungiert, welche gewisse Figuren liebend gern aus dem Film exkludieren will, sehen wir hier mit zum ersten Mal. Filme wie Terence Fishers „Dracula“ (1958) und John Carpenters „Halloween – Die Nacht des Grauens“ (1978) können nicht verleugnen, dass sie sich dieses Prinzip zu Eigen gemacht haben. Auch ansonsten gab „Das Cabinet des Dr. Caligari“ den Startschuss für eine Entwicklung, wie man sie seither im deutschen Film in dieser Konzentration nicht wieder bewundern durfte und allein dafür lohnt es sich, immer wieder an Robert Wienes Klassiker zu erinnern.

Ängste, die sich eventuell als begründet herausstellen

In dieser Hinsicht bietet der Film vielleicht nicht die Rettung der physischen Realität, ganz sicher aber der filmischen. Sehen kann man den „Das Cabinet des Dr. Caligari“ schlussendlich in einer Vielzahl exzellenter DVD- oder Blu-ray-Veröffentlichungen. Je nach Version findet man dort unterschiedliche Dokumentationen, Making-ofs und Musikfassungen. In der Regel liegt jeder Veröffentlichung außerdem ein 20-seitiges Booklet bei, das mit Texten von Olaf Brill, Anke Wilkening und Nina Goslar gespickt ist, die sich mit den filmhistorischen Begebenheiten, der Rezeptionsgeschichte, der Restaurationsgeschichte und der musikalischen Gestaltung auseinandersetzen. Eine vorbildliche Edition als Blu-ray im Steelbook mit dickem Booklet hat Anfang 2017 auch das englische Label Eureka Entertainment im Rahmen seiner „The Masters of Cinema Series veröffentlicht“ (siehe die ersten drei Abbildungen), und Anfang Dezember 2022 ist sogar eine 4K UHD Blu-ray im Limited Edition Box Set angekündigt – inklusive eines 100-seitigen Büchleins, das unter anderem einen Text von Lotte H. Eisner über „Das Cabinet des Dr. Caligari“ enthält.

Franzis hat sich in die junge Jane verliebt

Veröffentlichung: 13. Mai 2022 als UHD Blu-ray, 27. Juni 2014 als Blu-ray und DVD

Länge: 77 Min. (Blu-ray), 74 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassung (Texttafel-Einblendungen): Deutsch
Untertitel: Deutsch
D 1920
Regie: Robert Wiene
Drehbuch: Carl Mayer, Hans Janowitz
Besetzung: Werner Krauss, Conrad Veidt, Friedrich Feher, Lil Dagover, Hans Heinrich von Twardowski, Rudolf Lettinger, Rudolf Klein-Rogge, Hans Lanser-Rudolf
Zusatzmaterial: Dokumentation „Dr. Caligari – Die Geburt des Horrors im Ersten Weltkrieg“, Making-of der digitalen Restaurierung, Restaurierungsbeispiele, zusätzliche Musikfassung von 2019, 20-seitiges Booklet
Label Blu-ray und DVD: Transit Film
Vertrieb Blu-ray und DVD: Universum Film (heute: Leonine)
Label/Vertrieb UHD Blu-ray: Studio Hamburg Enterprises

Copyright 2021 by Lucas Gröning

Szenenfotos & UHD-Packshot: © 2022 Studio Hamburg Enterprises

 

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