Ex Drummer
Sozialdrama // Klingt harmlos. Drei Typen tauchen bei dem Schriftsteller Dries (Dries Vanhegen) auf. Koen de Geyter (Norman Baert), Jan Verbeek (Gunter Lamoot) und Ivan Van Dorpe (Sam Louwyck) wollen ihn als Schlagzeuger für ihre Punkband anheuern.
„Ex Drummer“ beginnt mit einem bemerkenswert kunstvollen Vorspann: Die Fahrt des Trios mit dem Rad, um Dries aufzusuchen, läuft rückwärts ab, in die Szenerie wurden die Namen der Beteiligten eingearbeitet. Jeder der drei hat eine Behinderung, wie wir vom die vierte Wand durchbrechenden Dries erfahren: Sänger Koen lispelt, Bassist Jan hat einen steifen Arm, seit seine Mutter ihn beim Onanieren erwischt hat, und Gitarrist Ivan hört fast nichts mehr. Daher wird auch für den neuen Schlagzeuger ein Handicap benötigt. Dries hat den rettenden Einfall: Sein Handicap sei, dass er kein Schlagzeug spielen könne. Die Band will nur einen einzigen Auftritt bei einem Wettbewerb absolvieren.
Erfolgsautor Dries sieht sein Engagement als Chance, soziologische Feldforschung für ein Buchprojekt zu betreiben. Seine drei neuen Mitmusiker sind fertige Gestalten, leben in elenden Verhältnissen im miesesten Viertel von Ostende. Der Mist läuft aus dem Ruder.
Kein Wohlfühlfilm
Ein unangenehmer Film, von Anfang an. Will irgendjemand einem Typen wie Koen de Geyter begegnen? Der ständig mies gelaunte Frauenhasser lauert Frauen auf, um sie zusammenzuschlagen. Mit Jans missmutiger Mutter will er allerdings gern Sex haben. Dessen Vater vegetiert ans Bett gefesselt (nicht metaphorisch, sondern tatsächlich) vor sich hin. Ivan wiederum hat mit seiner Frau eine Tochter, die man sofort von ihren Eltern wegholen müsste, so sehr lässt das Paar die Kleine verwahrlosen. Aber zu spät.
Es tut weh. Man stelle sich einen Wohlfühlfilm wie „Tatsächlich … Liebe“ (2003) vor und im Anschluss einen Film, der davon ganz weit entfernt ist. Irgendwann kommt man dann vielleicht zu „Ex Drummer“. Ist das Voyeurismus, als Mensch des Mittelstandes, der in vielleicht sogar „bürgerlich“ zu nennenden Verhältnissen lebt, so tief auf diese Abgründe der sozial Schwachen zu blicken? Und diese Typen sind nicht nur finanziell schwach, wie es oft gemeint ist, wenn „sozial schwach“ gesagt oder geschrieben wird, sie sind tatsächlich sozial schwach. Ist nur Dries der Elendstourist, oder sind wir es ebenfalls?
Auf Dries’ Vorschlag nennt sich die Combo The Feminists. Deren rotzige Punkmucke ist gar nicht so schlecht, auch wenn ein Songtitel wie „Mongoloid“ die Augenbrauen hochziehen lässt. Die belgische Indie-Band Millionare steuerte die Songs von The Feminists bei.
Dries manipuliert seine Mitmusiker, sich selbst wohl auch. Sympathen gibt es überhaupt keine in „Ex Drummer“. Dries ist schon mal gar keiner. Der Film hat ein paar fiese kleine Ideen. So spielt bei dem Band-Wettbewerb auch eine Formation namens Six Million Jews. Geschmackvoll – Verfechter der politischen Korrektheit sind hoffentlich in der Lage, sich in puncto „Ex Drummer“ auf eine Meta-Ebene zu begeben. Sex spielt permanent eine Rolle, aber ich will da jetzt nicht drüber schreiben. Auch visuell gibt es Originelles, etwa die Tatsache, dass Koen daheim meist von der Decke hängt, sogar an der Decke im Bett liegt. Ob es seinen verqueren Charakter illustrieren soll? Auch das exzessive Finale sei als Positivum erwähnt, in welchem sich ein paar der Figuren ans Publikum wenden, nachdem sie … aber lassen wir das.
Blu-ray im Mediabook von Camera Obscura
Die verschiedenen Editionen der „Kino Kontrovers“-DVDs von Legend Films sind schon lange vergriffen, da kam die erste deutsche Blu-ray im Mediabook von Camera Obscura gerade recht. Einen Bildvergleich kann ich mangels Zugriff auf eine der DVDs nicht liefern, die Qualität des HD-Transfers erscheint anständig. Hochglanz-Optik wäre bei „Ex Drummer“ nicht angemessen und wird auch nicht geboten. Im Booklet schreibt der Film- und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Marcus Stiglegger über den Punk-Bezug des Films, die Produktion und über den Regisseur Koen Mortier. Es findet sich auch ein Abschnitt über Herman Brusselmans, den Autor der Romanvorlage. Das feine Bonusmaterial der „Kino Kontrovers“-Editionen findet sich ebenfalls auf der Blu-ray, dazu ein neues Video-Statement von Koen Mortier (Auflistung siehe unten).
Punk und seine Hochphase werden ja gern mal verklärt. Davon kann hier überhaupt keine Rede sein. Ich hatte „Ex Drummer“ zuvor tatsächlich noch nie gesehen. Anschließend fühlte ich mich schmutzig. Ein außergewöhnlicher Film, aber alles andere als ein Sehvergnügen. Ab ins Regal mit dem Mediabook, ganz weit nach hinten. Gleichwohl: Wer an abseitigen Filmerlebnissen weit jenseits des Mainstreams interessiert ist, sollte „Ex Drummer“ gesehen haben. Ich spreche eine Empfehlung aus und rate gleichzeitig ab, um meine Hände in Unschuld zu waschen. Stiglegger schließt seine Booklet-Ausführungen mit dem Satz: Unter seiner rauen, schmuddeligen Oberfläche kann man „Ex Drummer“ allerdings als eine radikale Liebeserklärung an die belgische Musikszene auffassen. Das mag sein, aber es ist dann vielleicht eine Hassliebe.
Veröffentlichung: 19. Februar 2021 als Blu-ray im Limited Edition Mediabook, 8. November 2012 als DVD, 27. Oktober 2011 als DVD im Mediabook, 31. März 2008 als DVD (inkl. Soundtrack-CD)
Länge: 105 Min. (Blu-ray), 101 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Flämisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Ex Drummer
BEL/F/IT 2007
Regie: Koen Mortier
Drehbuch: Koen Mortier, nach einem Roman von Herman Brusselmans
Besetzung: Dries Vanhegen, Norman Baert, Gunter Lamoot, Sam Louwyck, François Beukelaers, Bernadette Damman, Joris Van Der Speeten, Nancy Denijs, Nomie Visser, Dolores Bouckaert, Will Willaert, Barbara Callewaert, Jan Hammenecker, Vinnie Bonduwe, Chantal Wannyn
Zusatzmaterial: „Ex Director – The Making of Ex Drummer“ (31:37 Min.), Statement von Regisseur Koen Mortier, 2 Kurzfilme von Koen Mortier: „A Hard Day’s Work“ (12:16 Min.) & „Ana Temnei“ (8:56 Min.), 2 Musikvideos: Flip Kowlier – „De Grotste Lul Van’t Stad“ (2:58 Min.) & Musik für The Feminists von Millionaire – „Oh Brother“ (2:51 Min.), deutscher und belgischer Trailer, Auftritt der Overdo Hykers: „Die Band, die es nicht in den Film schaffte“ (2:08 Min.), nur Camera-Obscura-Mediabook: 22-seitiges Booklet mit einem Text von Prof. Dr. Marcus Stiglegger, nur DVD-Erstauflage: 20-seitiges Booklet mit Informationen zum Film, Soundtrack-CD
Label 2021: Camera Obscura Filmdistribution
Vertrieb 2021: Al!ve AG
Label DVDs: Legend Film (Kino Kontrovers)
Vertrieb DVDs 2012 & 2011: EuroVideo Medien GmbH
Vertrieb DVD 2008: Universum Film
Copyright 2021 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Camera Obscura Filmdistribution, DVD-Packshots: © Legend Films