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Archiv für den Monat Juli 2019

Peter Weir (IV): Mosquito Coast – Es gibt keinen Neuanfang

Mosquito Coast

Von Leonhard Elias Lemke

Abenteuerdrama // „Mosquito Coast“ ist ein gewollt frustrierender Film – was für seine Qualität spricht. Damals, als Zwölfjähriger, als ich ihn auf Video sah, erhoffte ich mir einen Abenteuerfilm mit einem heldenhaften Harrison Ford. Ich wurde enttäuscht und kann ihn heute umso mehr schätzen.

Allie Fox – Idealist oder Egoist?

Allie Fox (Harrison Ford) ist Erfinder. Zig Patente sind bereits angemeldet, die nächsten genialen Einfälle stehen kurz bevor. Allein: Niemand fragt nach seinen Erfindungen. Für einen Farmer soll er eine einfache Kühlvorrichtung konstruieren. Fox stellt ihm sein revolutionäres und potenziell gigantisches Gefrierfach vor – nach einem derart komplexen Gebilde hat sein Auftraggeber aber gar nicht gefragt. In dieser Gesellschaft sind keine Neuerungen für die Zukunft gefragt, sondern Behelfsmittel für die Gegenwart. Eine ökologische Wende hin zum Guten und eine sinnvolle, die Lebens- und Umweltqualität verbessende Technik interessieren nicht. Der schnelle Dollar regiert, koste es, was es wolle. Fox kehrt sich ab von dieser Art der Zivilisation und will noch einmal ganz neu beginnen – im Dschungel, an der Mosquito Coast. Seine Frau (Helen Mirren) und seine vier Kinder im Schlepptau, macht er sich auf, gemeinsam mit den Eingeborenen eine neue, bessere Welt zu schaffen. Doch nach wessen Urteil handelt es sich eigentlich um eine bessere Welt? Ein fanatischer Pastor, südamerikanische Kriminelle und vor allem sein aufkommender Größenwahn und sich zunehmend trübender Blick auf den Sinn des Lebens sowie unsere (geringe) Macht über die Welt stellen sich Fox und seinem (scheinbar) idealistischen Neuanfang in den Weg.

Das Ende der Welt kommt auf leisen Sohlen

Rätselhafte, gewaltige Natur, deren Rache schleichend daher kommt. Der australische Regisseur Peter Weir ist für seine Zivilisationskritiken bekannt. Dabei bietet er in seinen Filmen nur bedingt Lösungen für eine bessere Welt an. Er hält uns einen Spiegel vor und lässt uns die Perversionen der Menschen erkennen oder konfrontiert den Zuschauer mit anscheinend übernatürlichen Phänomenen, die wir nicht verstehen können. 1975 machte er ein „Picknick am Valentinstag“, ließ Menschen an einem objektiv wunderschönen Ort verschwinden. Auf den ersten Blick mag der Film romantisch wirken, bei näherem Hinsehen ist er jedoch der blanke Horror, über allem schwebt eine Aura des Unbekannten, das nicht danach strebt, den Menschen über seine Bewandtnis aufzuklären. Mit wachsendem Unverständnis wird auch die Angst größer – alles scheint möglich. Im den die Gewohnheit liebenden Menschen macht sich Panik breit. Zwei Jahre nach seinem Picknick schickte uns Weir „Die letzte Flut“. Ein apokalyptischer Film, aber kein Katastrophenthriller. Es regnet unentwegt, Aborigines verkünden das Ende unserer schönen neuen Welt. Der Regisseur stellt die Naturvölker in seinen Filmen als überlegene Wesen dar. Sie besitzen noch den Kontakt zum Ursprünglichen, zur Natur, zu Gott oder wie auch immer man es nennen möchte. Sie verstehen noch die Prozesse unseres Planeten. 1998 zeigte er „Die Truman Show“, eine Perversion und Entlarvung wahrer Menschlichkeit. Als Unmenschlichkeit. Jim Carrey ist der Hauptdarsteller einer Sitcom – nur weiß er dies nicht. Der Mensch hat seinesgleichen zu seinem Spielball gemacht, den Respekt vor der eigenen Rasse verloren. Kein Zusammenleben mehr, ein Vorzeichen der Wachablösung auf der Erde.

Die Mosquito Coast als bessere Welt?

Paul Schrader („Katzenmenschen“) schrieb aus Paul Theroux’ Novelle das Drehbuch. Den reinen Menschen gibt es nicht. Ihn erschaffen zu wollen, ist Terror. Protagonist Fox erklärt kopfschüttelnd die Absurdität unserer Gesellschaft: Die Eingeborenen verlassen ihren Dschungel, indem sie doch so reich an Leben sind, um in unserer Welt Handlanger eines kommerziellen und selbstzerstörerischen Systems zu werden. Sie kommen, um ihre eigene Welt – für sie unbewusst – dem Beton gleich zu machen. „Mosquito Coast“, vor über 30 Jahren mäßig erfolgreich in den Kinos gelaufen, ist als Ökofilm – eine mögliche Kategorisierung – 2019 von noch größerer Aktualität. Und diese wird mit jedem Jahr weiter zunehmen.

Eis im Dschungel

Fox’ für die Menschheit potenziell wichtige Erfindungen sind nicht gewollt. Jeder denkt nur an das eigene Wohlsein und nicht an die Gemeinschaft. Und schon gar nicht an den Zustand unseres Planeten. Der Film wird damit zu einem regelrechten Fingerzeig auf das politische Geschehen – besonders unserer Tage: Hier geht es nur um Interessen, Wählerstimmen, Amtsperioden und Zahlen. Der vorausschauende Blick in die Zukunft wird nicht gewagt. Man hat Angst vor dem Kommenden, wohlwissend, dass man nichts zu dessem Wohle beigetragen hat. Daraus folgen Abkehr und Konzentration auf das ausschließlich eigene Glück.

„Wenn man über das 20. Jahrhundert nachdenkt, muss man verrückt werden.“

Auch wenn Fox den fatalen Werdegang der Dinge erkannt hat, so ist er doch weder stark, noch allwissend genug, es besser zu machen. Seine Ideale sind groß, doch auch sie sind verfärbt von der eigenen Sozialisation. Im Grunde genommen steigt er schon mit dem falschen Bein ins Boot, als er sich das Urwalddorf kauft – oder besser: einem betrunkenen Geldhai abluchst. Das Land, das er sich eigentlich wünscht, sollte nicht käuflich sein. Er will dem Dschungel das Eis – die Zivilisation – bringen (was gar nicht benötigt wird, alles wächst frisch nach), die Vorzüge der Wissenschaft installieren – und verseucht, weil niemand die Chemie kontrollieren kann, seine neue Heimat. Das von ihm erbaute Kraftwerk wirkt wie ein Schrein, ein künstlicher Gott, den Fox gebracht hat. Er wird zum Extremisten, mordet, um eine friedliche Welt zu schaffen. Das kann so nicht gelingen.

Er verliert die klare Struktur, die für einen Neuanfang vonnöten ist, durch seinen Hass auf das, was ihm zuwider spricht. Damit bleibt auch er engstirnig und für sich. Wie die Menschen, die er doch so sehr verabscheut. Auch fernab der Konsumtempel kann er keine Gemeinschaft formen, er bleibt in seinem Denken und Tun für sich. Warnende Worte anderer, nächststehender wie Frau und Kinder nimmt er nicht an, um seine Pläne anzupassen. Er wird zum Diktator. Zwar hat er Gutes im Sinn, aber Menschen können nur gemeinsam füreinander entscheiden. Das entgeht Fox.

Der älteste Sohn, Charlie, überzeugend gespielt von einem 16-jährigen River Phoenix, entdeckt seine erste Erotik – „Mosquito Coast“ ist auch ein gelungener Coming-of-Age-Film. Doch sein Vater hat keinen Blick dafür, zu sehr ist er mit sich und SEINER neuen Welt beschäftigt. Der Zuschauer erlebt den Film aus der Perspektive von Charlie, der uns auch als Erzähler führt. Trotz seines jugendlichen Alters wirkt er so viel reifer als sein Vater. Er kommentiert aus der Rückschau und uns wird schnell klar, wie dieser Film enden muss.

Es läuft aus dem Ruder

Die Kirche, die den Menschen eigentlich den wahren (?) Glauben bringen sollte, vereinnahmt die Menschen tatsächlich nur für sich. Sie sollen ihr und nicht der Welt dienen. Konsum und Dienen gehen Hand in Hand und ein gutes Mittel zur Indoktrinierung sind die Medien. Der irre Pfarrer baut im Dschungel eine scheinbar makellose Kirche – und lässt den Gottesdienst in der Kirche vom Fernseher laufen. Die Eingeborenen werden zum Opfer der Manipulation, vorbereitet auf ihren Umzug in die erschlossene Welt oder dafür bestimmt, sich dem Kirchenstaat an der Mosquito Coast zu unterwerfen.

An der Mosquito Coast sind Han Solos und Indiana Jones’ Waffen stumpf

„Mosquito Coast“ ist vielleicht der stärkste Film von Harrison Ford. Er bringt zunächst das Publikum auf seine Seite, man stimmt ihm zu, in seinem unsere Welt verachtenden Blick. Man will, dass das neue Leben seiner Familie gelingt. Man wünscht sich ein Happy End. Doch Peter Weir ist kein Märchenerzähler. Sein Protagonist, Fox, wird vom Subjekt zum Objekt. Er wird Opfer seiner eigenen Pläne, seiner Selbstüberschätzung. Ford gelingt es kongenial, tröpfchenweise den Wahnsinn seiner Figur durchscheinen zu lassen. Seine Rolle ist fatalistisch. Da Selbstaufgabe für diesen Charakter unmöglich ist, steuern wir mit ihm immer schneller auf den großen Knall zu. Der kommt im Film für die Hauptfigur. Für uns sicher auch demnächst.

Eine Blu-ray in guter Bild- und Tonqualität dieses bedeutsamen Films ist ein wichtiges Mosaikstück in einer gut sortierten Filmsammlung. Nun hätte sich aber gerade dieses vielschichtige Werk mit hochkarätigen Namen vor und hinter der Kamera für eine aufwendigere Veröffentlichung angeboten, etwa im Mediabook. So muss man hier auf jegliche Extras oder wenigstens ein Booklet verzichten und sich allein am Film selbst erfreuen. Achtung: Anders als auf dem Backcover angegeben fehlt die englische Fassung, also die Originalsprache – stattdessen findet sich eine spanische Tonspur. Das ist sehr ärgerlich und hinterlässt einen faden Beigeschmack, denn so ein Film ohne den Originalton dürstet ja schon fast wieder nach einer erneuten, erweiterten Auflage. Auf Rückfrage beim Label Pidax zu diesem Fauxpas erhielt der Autor dieser Zeilen leider keine zufriedenstellende Antwort.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Peter Weir sind in unserer Rubrik Regisseure aufgeführt, Filme mit Helen Mirren unter Schauspielerinnen, Filme mit Harrison Ford in der Rubrik Schauspieler.

Gescheitert?

Veröffentlichung: 1. April 2019 als Blu-ray und DVD

Länge: 114 Min. (Blu-ray)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Spanisch
Untertitel: keine
Originaltitel: The Mosquito Coast
USA 1986
Regie: Peter Weir
Drehbuch: Paul Schrader
Besetzung: Harrison Ford, Helen Mirren, River Phoenix, Jadrien Steele, Hilary Gordon, Rebecca Gordon, Jason Alexander, Dick O’Neill, Andre Gregory Martha Plimpton
Zusatzmaterial: keins
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2019 by Leonhard Elias Lemke
Szenenfotos & Packshot: © 2019 Pidax Film

 
 

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Replicas – In der Tradition von Philipp K. Dick?

Replicas

Von Lucas Gröning

Science-Fiction // Was ist der Mensch? Was macht die ureigene Existenz des menschlichen Wesens aus? Was macht uns so besonders? Wodurch unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen? Vor allem: Was unterscheidet den Menschen in einer immer weiter von künstlicher Intelligenz dominierten Welt von der Maschine? Mit diesen Fragen verbinden wir heute in der Popkultur vor allem einen Mann: Philip K. Dick, seines Zeichens einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche seiner Werke wie die Kurzgeschichtensammlung „Electric Dreams“, „The Man in the High Casle“ oder auch „Do Androids Dream of Electric Sheep“ erlangten weit über die Buchvorlagen hinaus große Bekanntheit. Besonders letztgenannter Stoff wurde im Zuge seiner 1982er-Verfilmung „Blade Runner“ durch Ridley Scott in beiden Mediengattungen zum Klassiker. Scott stellte mit seinem Film ebenfalls die Frage nach der menschlichen Existenz und ihrem Verhältnis zu den Maschinen, in diesem Beispiel den sogenannten Replikanten. Am Ende ist es ein Einhorn, welches uns in „Blade Runner“ den finalen Twist des Films offenbart und uns die Beziehung der beiden noch einmal von vorn durchdenken lässt. Ein Motiv, dass Jeffrey Nachmanoff in seiner Regiearbeit „Replicas“ ebenfalls aufgreift. Es ist nicht die letzte Gemeinsamkeit beider Werke, auch wenn Nachmanoff, das sei vorweggenommen, es weit verfehlt, dem selbst zur Sprache gebrachten Vergleich mit dem berühmten Vorbild von Altmeister Ridley Scott gerecht zu werden. Dies wäre zwar zu viel der Erwartung, dennoch provoziert der Film diesen Vergleich an vielen Stellen selbst (das Einhorn sei nur als ein Beispiel genannt), wodurch man um eine Gegenüberstellung schwerlich herumkommt. Nachmanoff, der hauptsächlich durch die Inszenierung einiger TV-Episoden verschiedener Serien sowie seine Arbeit als Drehbuchautor an einigen Folgen der Serie „Homeland“ und Roland Emmerichs Katastrophenfilm „The Day After Tomorrow“ bekannt ist, hat sich dafür einen echten Routinier des Genres ins Boot geholt: Schauspieler Keanu Reeves, der durch seine Darstellungen des Neo in der „Matrix-Trilogie“ und des Protagonisten in Richard Linklaters „A Scanner Darkly“ (ebenfalls nach einer Geschichte von Philip K. Dick) bereits Erfahrung im Genre gesammelt hat. Inwiefern sich das auszahlte, soll im vorliegenden Text aufgezeigt werden.

Fragen über Fragen

Die Geschichte dreht sich um den Protagonisten William Foster (Reeves), einen Neurowissenschaftler, der mit seiner Familie, bestehend aus seiner Frau Mona (Alice Eve) sowie den drei Kindern Matt (Emjay Anthony), Sophie (Emily Alyn Lind) und Zoe (Aria Lyrik Leabu) in Puerto Rico lebt. Er arbeitet für das Unternehmen Bionyne, welches versucht, das Bewusstsein aus dem menschlichen Gehirn mitsamt aller Daten auf Maschinen zu übertragen. Das Unternehmen selbst fungiert im Auftrag der Regierung. Durch die Übertragung soll es möglich werden, gefallene Soldaten in einem neuen, stärkeren Körper wieder zum Leben zu erwecken. Alle Versuche schlugen jedoch bisher fehl. Es stellte sich heraus, dass die synthetischen Gehirne nicht in der Lage sind, das menschliche Bewusstsein anzunehmen. Stattdessen wird es abgestoßen, was zu einer Selbstzerstörung der Maschine führt. Der Chef der Abteilung, Mr. Jones (John Ortiz), kündigt das Ende des Auftrags an, sollten Fosters Bemühungen nicht bald von Erfolg gekrönt sein.

Mit dem glücklichen Familienleben ist es bei den Fosters bald vorbei, doch …

Auf der Suche nach dem Schlüssel landen der Familienvater und sein Kollege und Freund Ed (Thomas Middleditch) jedoch weiterhin in Sackgassen, sodass Foster beschließt, zur Ablenkung einen Kurzurlaub mit seiner Familie zu unternehmen. Während der gemeinsamen Autofahrt gerät die Familie in einen Sturm. Durch einen auf die Straße fallenden Baum kommt es zu einem Unfall, in dessen Folge die gesamte Familie bis auf den trauernd zurückbleibenden Familienvater stirbt. Bereits in dem Moment, in dem seine Frau Mona von einem Ast durchbohrt wird, ahnen wir die nächsten Schritte des Protagonisten. William ruft seinen Kollegen Ed an und die beiden machen sich auf die Mission, die einzelnen Familienmitglieder zu klonen und die im Hirn verbliebenen Daten in die Kopien zu transferieren.

Leider keine Antworten

Ein Auftakt wie gemacht, um eine Verhandlung der Themen rund um das Klonen, den Transfer des menschlichen Bewusstseins, der Möglichkeit dieses Unterfangens, und allen damit einhergehenden ethischen und philosophischen Fragen zu beginnen. Diese Ausgangssituation ist wirklich spannend, und auch wir Zuschauer stellen uns diese Fragen ganz automatisch. Schade jedoch, dass wir in dieser Hinsicht die Einzigen sind, lehnt doch „Replicas“ selbst eine klare Verhandlung der sich anbietenden Fragestellungen ab. Ob es überhaupt eine gute Idee ist, das menschliche Bewusstsein in Maschinen (die hier übrigens ebenfalls Replikanten genannt werden) zu transformieren? Keine Stellungnahme. Welches übergeordnete Ziel könnte eine Regierung oder beispielsweise ein Unternehmen des Silicon Valley mit dem Klonen und dem damit einhergehenden unendlichen Erhalt des menschlichen Lebens verfolgen? Keine Stellungnahme. Und auch die eigens aufgeworfenen Problematiken des Films verpuffen teilweise im Nirgendwo. Warum zum Beispiel funktioniert die Übertragung des Bewusstseins auf einen Klon im späteren Verlauf des Films? Eine Erklärung liefert der Film zwar, jedoch eine wenig befriedigende und zugleich unlogisch hergeleitete.

… Vater William sucht nach einem Weg, seine Familie zurückzuholen

Immerhin stellt Mona ihrem Mann zu Beginn die interessante Frage, ob das menschliche Gehirn nicht mehr ist als eine Ansammlung von Daten inklusive einer Mischung aus Elementen der Neurochemie. Damit stößt sie bei William auf Ablehnung, sodass die Frage im Nichts verschwindet und später auch nicht wieder aufgegriffen wird. Die einzige Figur, die Williams Handlung zu Beginn noch konstant hinterfragt – sein Freund Ed –, wirft alle ethischen und moralischen Bedenken im Augenblick des Erfolges sofort über Bord. Der zu erwartende finanzielle Gewinn des Durchbruchs scheint alles zu rechtfertigen, was sich auch im Schicksal des als Antagonist aufgebauten Mr. Jones wiederspiegelt. Ein weiterer interessanter Aspekt tut sich auf, wenn William die Social-Media-Accounts seiner Kinder verwaltet und so zum Beispiel Chatnachrichten der Schulkameraden und Freunde beantwortet, um den Anschein zu erwecken, die Kinder seien noch am Leben, während ihre Klone im Keller in Tanks hochgezüchtet werden. Der Nachricht eines Jungen, der mit seiner Tochter Sophie flirtet und ein Date arrangieren möchte, begegnet William hierbei mit Ablehnung. Was uns als Zuschauer fremd und falsch vorkommt, wird vom Film nicht weiter kommentiert und bleibt als semi-lustiger Gag zur Auflockerung der Story stehen. Man sieht: Der Film bietet genügend Potenzial zur Bearbeitung dieser komplexen Themen, verweigert sich dieser jedoch und man fragt sich, wozu der Vergleich zu Ridley Scotts Meisterwerk an so vielen Stellen erzwungen wird.

Logiklöcher und ein Genrewechsel

Doch auch abgesehen von der Verweigerung, die Thematik auf eine philosophische Ebene zu ziehen, leidet „Replicas“ an einigen Schwächen. Es begegnen uns viele Szenen, gepaart mit Handlungen der Figuren, die auch losgelöst von einem übergeordneten Sinn nicht logisch erscheinen. Wie erwähnt werden die Klone im Keller des Hauses Foster hochgezüchtet. Das Equipment für den Prozess, drei große Tanks und einer Menge weiteres Zubehör, stehlen William und Ed noch in derselben Nacht des Unfalls aus den Laboren von Bionyne. Wieso es zwei Wissenschaftlern gelingt, unbemerkt Materialien im Wert von Millionen aus einer militärisch gesicherten Basis zu entwenden, bleibt das Geheimnis des Films. Selbst an den folgenden Tagen scheint dies niemand bemerkt zu haben. Auch der Diebstahl sämtlicher Autobatterien der Nachbarschaft zum elektrischen Betrieb der Tanks scheint niemanden außer zwei Polizisten zu kümmern, die das aber auch nicht länger interessiert als die kurze Gesprächsdauer während der routinemäßigen Befragung von William. Man fragt sich, wozu dieses Konfliktpotenzial überhaupt aufgeworfen wurde.

Im späteren Verlauf kommt es außerdem zu einigen Konflikten hinsichtlich der fragwürdigen Entscheidungen von William, die er während des Todes seiner Familie getroffen hat. Diese sich meist auf persönlicher Ebene abspielenden Auseinandersetzungen verpuffen jedoch nach kurzen Streitgesprächen. Eine von vorn bis hinten durchdachte und logisch strukturierte Geschichte hat der Film dadurch eher nicht zu bieten, was sich auch in einem Genrewechsel gegen Ende des Werkes ausdrückt. Anstatt ein Science-Fiction-Film zu bleiben, die wichtigen Fragen zu stellen und den Versuch einer Beantwortung zu übernehmen, flüchtet sich der Stoff ins Genre des Thrillers. Dieser Teil macht zwar durchaus Spaß, fügt sich jedoch nur bedingt in die Handlung und die Komplexität der Themen und Motive ein.

Großes Potenzial

Nur um das, nach so viel Negativität, einmal klar zu stellen. „Repilcas“ ist alles andere als ein katastrophaler Film. Die Charaktere, auch wenn sie größtenteils Stereotype repräsentieren, die nötige Komplexität vermissen lassen und man ihr Schicksal bereits nach wenigen Minuten erahnen kann, sind durchaus sympathisch. Das liegt vor allem an den ansprechenden darstellerischen Leistungen. Keanu Reeves spielt seine Rolle routiniert und glaubhaft herunter. Nach zum damaligen Zeitpunkt zwei „John Wick“-Filmen und etlichen Charakterdarstellungen wie in „Im Auftrag des Teufels“ (1997) scheint er den Herausforderungen derartiger Rollen bereits lange entwachsen. Auch die übrigen Darsteller spielen ihre Rollen mit hoher Qualität. Alice Eve überzeugt als sich sorgende Ehefrau, Thomas Middleditch mimt einen glaubhaften und auflockernden Sidekick und John Ortiz nimmt man die Rolle des bösen, von Wirtschaftsinteressen gesteuerten Antagonisten jederzeit ab.

Auch technisch befindet sich „Replicas“ auf ordentlichem Niveau. Die Kulissen sind zu jedem Zeitpunkt perfekt ausgeleuchtet, was einen Gegensatz zum in einer fernen Dystopie angelegten „Blade Runner“ darstellt, zu einem „Replicas“, der eher vor der großen Katastrophe spielen soll, jedoch perfekt passt. Besonders das Farbenspiel des Films sei hervorgehoben: Stechen uns während der Szenen im Versuchslabor des Bionyne-Unternehmens klinisch-kalte und von blautönen durchzogene Bilder ins Auge, stellen die warmen und eher ins rötliche abdriftenden Farben des Familienhauses der Fosters einen Gegensatz dazu dar. In jedem Fall ist der Film durchzogen von Helligkeit, außer in den Nachtszenen beim Unfall inmitten eines Gewitters. Hier wird die düstere Stimmung durch die Beleuchtung unterstrichen und somit auch die Macht der Natur als Gegensatz zur perfekt funktionierenden und durchtechnologisierten Welt der Menschen. Unter dem Strich reicht das jedoch alles nicht, um den Vergleich mit anderen von Philip K. Dick inspirierten Werken zu bestehen. Dafür ist Nachmanoffs Werk unter dem Strich zu anspruchslos. Ein unterhaltsamer Film mit einigen netten Ideen ist dem Regisseur mit „Replicas“ aber in jedem Fall gelungen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Keanu Reeves sind in unserer Rubrik Schauspieler aufgeführt.

Veröffentlichung: 9. Mai 2019 als Blu-ray und DVD

Länge: 107 Min. (Blu-ray), 104 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Replicas
GB/CHN/PUER/USA 2018
Regie: Jeffrey Nachmanoff
Drehbuch: Chad St. John
Besetzung: Keanu Reeves, Alice Eve, Thomas Middleditch, John Ortiz, Emjay Anthony, Emily Alyn Lind, Aria Lyric Leabu, Nyasha Hatendi, Amber Rivera
Zusatzmaterial: Making-of, entfallene Szenen, B-Roll, deutscher Kinotrailer, Originaltrailer
Label/Vertrieb: Concorde Home Entertainment

Copyright 2019 by Lucas Gröning

Szenenfotos, Packshot & Trailer: © 2019 Concorde Home Entertainment

 
 

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Centurion – Fight or Die: Römer gegen Pikten

Centurion

Von Volker Schönenberger

Action-Abenteuer // Erstmals nahm ich Neil Marshall im Sommer 2002 wahr, als sein Langfilm-Regiedebüt „Dog Soldiers“ beim Fantasy Filmfest lief. Der Werwolf-Schocker mit humorigen Einlagen gehört zu meinen Lieblingsfilmen mit den haarigen Kreaturen. Drei Jahre später drehte The Descent – Abgrund des Grauens unerbittlich an der Spannungsschraube und etablierte Marshall für mich endgültig als einen der besten Genre-Regisseure. Den Horror verließ er dann – eine Episode der Anthologie „Tales of Halloween“ (2015) bildete eine Ausnahme –, blieb aber dem weiten Feld der Genrefilme verhaftet, wie etwa der Endzeit-Actioner „Doomsday – Tag der Rache“ (2008) belegt.

Die Schlachten von „Game of Thrones“

Nicht zu vergessen seine beiden großen Schlachtenepisoden „Blackwater“ (2012) und „The Watchers on the Wall“ (2014) für die zweite beziehungsweise vierte Staffel des Serien-Highlights „Game of Thrones“. Gerade diese beiden Regiearbeiten weckten in mir die Lust, endlich wieder „Centurion – Fight or Die“ zu schauen, den ich erstmals 2010 auf der großen Leinwand gesichtet hatte – einmal mehr war das Fantasy Filmfest verantwortlich. Seinerzeit hatte ich Michael Fassbender („X-Men – Dark Phoenix“) noch gar nicht als den großen Schauspieler auf dem Zettel, der er ist. Dass es bis zur Zweitsichtung dann doch bis 2019 gedauert hat, ist dem großen Ungesehen-Stapel an Filmen geschuldet. Wer davon frei ist, werfe den ersten Stein.

Ruhe vor dem Sturm

Wer denkt bei der römischen Besetzung Britanniens nicht gleich an „Asterix bei den Briten“? Okay, viel hat Neil Marshalls Film damit nicht zu tun, aber immerhin leisten die Pikten unbeugsamen Widerstand. Die historische Einordnung der Handlung erfolgt zu Beginn über Texteinblendungen: Im Jahr 117 n. Chr. erstreckte sich das Römische Reich von der afrikanischen Wüste bis zum Kaspischen Meer. Aber seine entlegenste und am wenigsten gesicherte Grenzlinie war der Norden Britanniens. In diesem gnadenlosen Land trafen die römischen Legionen auf den erbitterten Widerstand der heimischen Völker, die man Pikten nannte. Durch ihre Überfälle aus dem Hinterhalt und die Nutzung ihrer Ortskenntnisse zu ihrem Vorteil geboten sie der römischen Invasion Einhalt. Fast zwanzig Jahre währte dieser Patt-Zustand. Nun gab Rom Order, die festgefahrene Situation mit allen Mitteln zu beenden.

Endlich die Pikten bezwingen

Mit nacktem Oberkörper und gefesselten Händen rennt der römische Zenturio Quintus Dias (Fassbender) durch den Schnee. Dann springt die Handlung zwei Wochen zurück, zur Garnison Inch-Tuth-II, dem nördlichsten römischen Außenposten des Grenzgebiets. Des Nachts überfallen die Pikten das Fort und metzeln die Römer nieder. Einzig Quintus Dias wird verschont, weil er die Sprache der Angreifer spricht. Die Pikten verschleppen ihn zu ihrem König Gorlacon (Ulrich Thomsen). Der Römer wird gefoltert, bis ihm die Flucht gelingt. Er wird gejagt, aber in letzter Sekunde von einem von General Titus Flavius Virilus (Dominic West) angeführten Trupp der Neunten Legion gerettet. Die legendäre Einheit soll im Auftrag des römischen Statthalters Agricola (Paul Freeman) endlich die Pikten besiegen.

Niemand will diese Frau zur Feindin haben

Ich mag diese Schlachtengemälde, sei es der in derselben historischen Phase und Lage angesiedelte „Der Adler der Neunten Legion“ (2011) oder die Mittelalter-Metzelei „Ironclad – Bis zum letzten Krieger“ (2011). „Centurion – Fight or Die“ überragt die beiden genannten, nicht zuletzt dank der guten Besetzung. Als römische Soldaten sind Liam Cunningham (Davos Seaworth aus „Game of Thrones“) und David Morrissey (der Governor aus „The Walking Dead“) zu sehen. Das ukrainische Topmodel Olga Kurylenko („The Man Who Killed Don Quixote“) sowie Imogen Poots („Green Room“) sind als Piktinnen zu sehen, beide sogar mit nicht unbedeutenden Parts, aber da will ich nicht zu viel verraten.

Geschichtlich wenig akkurat

Um historische Authentizität scherte sich Neil Marshall nicht besonders, also halten wir uns gar nicht erst damit auf. Im weiteren Verlauf mutiert „Centurion – Fight or Die“ zum kernigen Survival-Abenteuer, wenn eine Gruppe Römer unter Führung von Zenturio Quintus Dias ihr Heil in der Flucht durch feindliches Gebiet sucht. Es spricht für Marshalls Geschick als Regisseur, dass bei all der kostümierten Action Raum für die charakterliche Entwicklung der Figuren bleibt. Das ändert nichts daran, dass Marshall die brutale Action mitreißend inszeniert hat, und das weitgehend handgemacht – gelegentlich mit dem Computer eingefügte Blutspritzer trüben den Eindruck nur gering. Visuell dominieren kühle Blautöne.

Auf ins Getümmel

Marshalls jüngste Regiearbeit „Hellboy – Call of Darkness“ wurde zwiespältig aufgenommen. Ich habe sie mir gespart, weil mein Interesse an diesen hoch budgetierten Comicverfilmungen gering ist. Mit dem im England der frühen Neuzeit, der Hexenverfolgung und der Pest angesiedelten „The Reckoning“ hat sich der Regisseur wieder in Horrorgefilde begeben – ich bin gespannt. Einen Starttermin hat das Werk noch nicht, zuletzt befand es sich noch in der Vorproduktionsphase. Und was aus „Skull Island – Blood of the Kong“ werden wird, für dessen Regiestuhl Marshall schon lange im Gespräch ist, steht in den Sternen. „Centurion – Fight or Die“ hat mir jedenfalls auch bei der zweiten Sichtung viel Freude bereitet.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Neil Marshall haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgeführt, Filme mit Olga Kurylenko und Imogen Poots unter Schauspielerinnen, Filme mit Liam Cunningham und Michael Fassbender in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 30. September 2010 als Blu-ray und DVD

Länge: 97 Min.
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel:
Originaltitel: Centurion
GB/F/USA 2010
Regie: Neil Marshall
Drehbuch: Neil Marshall
Besetzung: Michael Fassbender, Dominic West, Olga Kurylenko, David Morrissey, Ulrich Thomsen, Andreas Wisniewski, Dave Legeno, Axelle Carolyn, Simon Chadwick, Paul Freeman, Imogen Poots, Liam Cunningham
Zusatzmaterial: Featurette, entfernte Szenen, Outtakes, Interviews, Blick hinter die Kulissen, Darstellerinfos, DVD-Empfehlung, Trailershow
Label/Vertrieb: Constantin Film

Copyright 2018 by Volker Schönenberger

Szenenfotos: © 2010 Constantin Film

 

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