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Zug in die Freiheit – Flucht als Fanal gegen das Unrecht

28 Sept
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Abschied aus Prag (Copyright: MDR / © AFP / Getty Images / Pascal George)

Zug in die Freiheit

TV-Ausstrahlungen:

Arte: Dienstag, 30. September 2014, 20.15 Uhr
Das Erste: Freitag, 3. Oktober 2014, 18.30 Uhr
MDR: Sonntag, 2. November 2014, 20.15 Uhr

Doku-Drama // Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise … Der Rest dieser Worte von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ging unter im Jubel der Menschen an jenem Abend des 30. September 1989 in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Seit Februar des Jahres hatte sich das Gelände mit DDR-Bürgern gefüllt, die ihrem Land den Rücken kehren wollten.

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Triumphale Ankunft im bayerischen Hof (Copyright: MDR / © Wolfgang Eilmes)

Ich entsinne mich nicht mehr, wann genau ich die Szene damals im Fernsehen gesehen hatte. War es live? Ein Ausschnitt in der Tagesschau? Die Gänsehaut kehrt beim erneuten Sehen 25 Jahre später jedenfalls zurück, doch sie ist sicher nichts im Vergleich zu den Gefühlen, die Christian Bürger verspüren muss. Er war damals 32 Jahre alt und einer dieser DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Christian kommt im Doku-Drama zu Wort, und als er über Genscher auf dem Balkon spricht, sieht man ihm an, wie bewegt er ist.

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Spielszene: Bahnhof Reichenbach

Die mit Spielszenen angereicherte Dokumentation „Zug in die Freiheit“ beginnt auf dem Rangierbahnhof Reichenbach im Vogtland, wo der Sonderzug 23-360 am späten Abend jenes 30. September durchkommt – und anhält. 800 Passagiere befinden sich an Bord, allesamt DDR-Flüchtlinge aus der Botschaft. Sie hatten dort Tage, Wochen oder gar Monate ausgeharrt, bis Genscher die erlösende Nachricht verkündete. Mehr als 4.000 waren es zeitweise. Dass die DDR-Führung darauf bestand, die Züge müssten auf dem Weg in die Bundesrepublik über ihr Territorium rollen, wirkt in der Rückschau absurd. Die Züge wirkten nicht wie Fluchtfahrzeuge, sondern wie Freiheitsfackeln, merkte Bundesaußenminister Genscher jüngst treffend an.

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Spielszene: Drei Freunde wollen auf den Zug …

Die Kunde dieser Freiheitsfackeln verbreitete sich schnell in der DDR – so schnell, dass einige Bürger kurzerhand den Versuch wagten, auf den Zug aufzuspringen. Drei junge Männer waren es im Bahnhof Reichenbach – ihre Flucht wird im Film nachgespielt, sie selbst kommen zu Wort. Viele Originalaufnahmen aus der überfüllten Botschaft werden gezeigt, dazu auch etliche Szenen, in denen DDR-Bürger den Zaun überwinden, verfolgt von der tschechischen Polizei.

Es ist die Mischung aus Archivmaterial und gespielten Szenen mit Schauspielern, deren Gesichter unvertraut sind, die aus „Zug in die Freiheit“ ein authentisches Zeitdokument macht; ein Zeitdokument, das die Atmosphäre, Stimmung – Aufbruchstimmung – in der Botschaft und im Zug erlebbar und nachvollziehbar macht. Und wenn mich die Bilder schon bewegen, der ich damals als 21-jähriger Bundesbürger den Hauch der Geschichte in erster Linie am Bildschirm mitbekam (bis am 10. November die Trabis in Hamburg einfuhren), was mögen erst jene fühlen, die dabei waren? 25 Jahre sind seitdem vergangen, ein Vierteljahrhundert seit der Öffnung der Mauer, dem Anfang vom Ende des Unrechtsstaats. Diese Tage wirken bis heute nach.

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Spielszene: … doch er ist abgeriegelt

Ein junger Mann, den Christian Bürger 1989 in der Prager Botschaft kennenlernte, ist Jens Hase, damals 19 Jahre alt. Auch er kommt in „Zug in die Freiheit“ zu Wort. Chris war unser Sprecher der Botschaftsflüchtlinge und hat bedeutend mehr mitmachen müssen als ich, schrieb Jens kürzlich auf seiner Facebook-Seite. Nach der Ankunft in Deutschland verloren sich die beiden aus den Augen, um sich 20 Jahre später in Darmstadt bei einer Podiumsdiskussion wiederzutreffen. Seit fünf Jahren ist eine echte Freundschaft draus geworden. Eine Freundschaft, die ich nie mehr missen möchte. Wir sehen uns nicht oft, aber wenn, dann ist die Freude umso größer. (…) Unsere Wege begegnen sich immer und immer wieder. (…) Chris, solange wir leben, werden wir gemeinsam aufklären und gemeinsam lachen. Gemeinsam bewegte Momente Revue passieren lassen – das können die beiden jedenfalls auch.

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Spielszene: Die Stasi rückt an

Es ist mir gelungen, mir von Christian Bürger und Jens Hase ein paar Fragen beantworten zu lassen:

Die Nacht der lebenden Texte: Ihr habt „Zug in die Freiheit“ gesehen. Schon mehrfach? Gibt er die Stimmung unter den Flüchtlingen eurer Ansicht nach gut wieder?

Christian: Ich persönlich habe den Film jetzt bereits auf vier Premieren gesehen. Und ja! Er gibt die Stimmung in den Zügen absolut wieder.

Jens: Ich war auf zwei Premieren zu Gast. Was die Stimmung in den Zügen angeht, hat Christian völlig recht.

Die Nacht der lebenden Texte: Kam das alles beim Schauen wieder hoch? Was haben der Film und die darin gezeigten Interviews mit euch in euch ausgelöst?

Christian: Obwohl ich durch unsere Gruppe eigendlich nie ganz loskomme von dem Thema, haben die Interwievs mit dem Regisseur des Films eine unglaublich emotionale Welle in mir ausgelöst. Ich musste durch die Erzählungen wieder ganz tief eintauchen in das Thema und habe dabei auch viele Erinnerungen wiedergefunden, die mir irgendwie im Laufe der Jahre entgangen waren …

Jens: Mich bewegen die Bilder immer wieder. Aber nicht nur die Szenen mit mir, sondern auch alle Bilder, die immer wieder um die Welt gehen.

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Spielszene: Gelingt das waghalsige Unterfangen?

Die Nacht der lebenden Texte: Welche Szenen haben euch besonders bewegt?

Christian: Eigenartigerweise haben mich Dinge besonders bewegt, die im Film zwar keinen Platz mehr hatten, aber durch mein Erzählen plötzlich wieder ganz da waren. Wie zum Beispiel unsere Bemühungen, den Kindern ein Spiel- und Schulzelt zur Verfügung zu stellen, oder als wir mit den Kindern Schulanfang gefeiert haben – und Ähnliches.

Jens: Die Abschiedsszene mit Judith Braband und Tochter berührt mich am allermeisten (Judith Braband war seinerzeit ebenfalls nach Prag gereist, jedoch nicht, um in die Botschaft zu flüchten, sondern um sich am Zaun von ihrer Tochter zu verabschieden, Anm. d. Verf.).

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Spielszene: Banges Ausharren auf dem Weg durch den ungeliebten Heimatstaat

Die Nacht der lebenden Texte: Was haltet Ihr von den Spielszenen und generell von der Idee, den Film als Mischung aus Archivbildern und gespielten Sequenzen zu inszenieren?

Christian: Die Idee, den Film als Hybrid zu produzieren, finde ich genial! Die Doku-Szenen untermauern die Erinnerungen der Zeitzeugen und die Interviews lockern die Doku-Szenen auf und unterstreichen sie.

Jens: Ganz meine Meinung.

Die Nacht der lebenden Texte: Jens, du wirst andernorts mit den Worten „Die Angst ist mitgefahren“ zitiert. Wie konkret war diese Angst? Für uns Westdeutsche ist sie schwer nachzufühlen – im Sonderzug zu sitzen, der durch die DDR in Richtung Bundesrepublik fährt, und fürchten zu müssen, von der Staatsmacht gestoppt zu werden. Die Stasi war ja auch an Bord. Hast du während der gesamten Fahrt damit gerechnet, dass noch etwas schiefgeht?

Jens: Naja, wenn man teilweise unter Einsatz seines Lebens ein Land nach der Landesordnung „illegal“ verlässt und dann genau durch dieses Gebiet 280 Kilometer fahren muss, dann hat man gewaltige Ängste, die in einem hochkommen. Wir konnten ja nicht wissen, ob es gut geht. Was wäre gewesen, wenn man die Züge gestoppt und uns rausgeholt hätte? Wäre das Schlimmste passiert? Alle verhaftet und „zugeführt“?

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Spielszene: Die Obrigkeit ist machtlos

Die Nacht der lebenden Texte: Im Film entsteht der Eindruck, Hans-Dietrich Genscher und das Botschafter-Ehepaar Hermann und Jacqueline Huber seien so etwas wie persönliche Helden von euch. Von „Mama und Papa“ ist in Bezug auf die Hubers auch die Rede. Wie denkt Ihr über die drei?

Christian: Hans-Dietrich Genscher sehe ich persönlich nicht ganz so innig, aber ich habe eine Riesen-Achtung vor ihm, dass er damals trotz seiner schweren Erkrankung nach New York geflogen ist, um uns zu helfen. Das Ehepaar Huber kenne ich auch privat sehr gut, und ich kann sagen, dass dies zwei unglaublich liebenswerte Menschen sind, die eigendlich so gar nicht in das Bild von Diplomaten passen. So warmherzig und Tag und Nacht hilfsbereit – das hat man nur sehr selten im Leben.

Jens: Genscher und Seiters (Jens meint den damaligen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, Anm. d. Verf.) haben uns das geschenkt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: die Freiheit! Das macht sie zu meinen persönlichen Helden der Geschichte. Hermann und Jaqueline Huber haben uns die schweren Tage in der Botschaft versüßt. Sie waren immer für uns da und haben sich fast übermenschlich engagiert. Sie hatten keinerlei Berührungsängste. Sie sind die heimlichen Helden der Geschichte für mich. Ihnen gegenüber empfinde ich tiefste Dankbarkeit für alles.

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Spielszene: Linientreu – nur widerwillig verrichtet der Lokführer seinen Dienst

Die Nacht der lebenden Texte: Jens, du positionierst dich als scharfer Kritiker der Partei „Die Linke“, Chris, du vermutlich auch (nur kenne ich dich kaum und hab‘ das bei dir somit weniger verfolgt als bei Jens). Linkes Gedankengut führt ja nicht automatisch zu einer Verklärung der DDR. Was sagt Ihr Wählern, die mit dem Programm der Partei sympathisieren? Unabhängig von der Frage, ob Ihr das Programm der Partei für gut oder schlecht haltet: Was müsste „Die Linke“ tun, damit sie für euch als Partei wählbar wäre?

Christian: Du hast recht, ich bin da ganz bei Jens. Diese Partei wird so lange nicht eine demokratische und wählbare Partei sein, so lange sich in ihrer Führung noch immer stalinistisches Gedankengut und Spitzenleute mit Stasi-Vergangenheit tummeln (siehe jetzt wieder in Thüringen unter Bodo Ramelow: zwei ehemalige Stasi-Mitarbeiter im Vorstand). DAS geht nicht! Es ist eine Verunglimpfung aller Opfer des Systems. Die Linke hat sich bis heute nicht von den alten SED/Stasi-Kadern befreit und zeigt auch keinerlei Interesse daran, sich diesbezüglich zu distanzieren! Seine unselige Vergangenheit zu leugnen oder Kritiker gerichtlich mundtot zu machen à la Gysi – das zeigt mir, dass diese Partei nicht demokratisch ist und nicht bereit ist, zur Vergangenheit zu stehen und diese zu verantworten.

Jens: Ich kann Christians Äußerungen voll unterschreiben.

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Christian Bürger (l.) und Jens Hase (r.) mit Regisseur Sebastian Dehnhardt (Foto: privat)

Über die Partei „Die Linke“ als Rechtsnachfolgerin der SED möge sich jeder selbst ein Bild machen. Zur Zugfahrt der Botschaftsflüchtlinge aus Prag in die Bundesrepublik sei abschließend auf eine vierseitige Strecke mit Interviews verwiesen. Unter den Befragten befinden sich auch Jens und Christian. Ein kurzes, aber ebenfalls lesenswertes Interview mit Regisseur Matthias Schmidt findet sich hier, ein weiteres mit Christian Bürger hier. Last not least geht’s hier zu einem interaktiven Blog, der auf Christian Bürgers Erinnerungen basiert.

Länge: 90 Min.
D 2014
Regie: Sebastian Dehnhardt, Matthias Schmidt
Drehbuch: Sebastian Dehnhardt, Matthias Schmidt
Produktion: BROADVIEW TV GmbH & MDR in Zusammenarbeit mit Arte
Gefördert durch die Film und Medien Stiftung NRW und durch die Mitteldeutsche Medienförderung.

Copyright 2014 by Volker Schönenberger
Fotos: © 2014 BROADVIEW TV GmbH / Bernd Cramer

 

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