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Zum 100. Geburtstag von George Roy Hill: Modern Millie – Reicher Mann gesucht: Entweder man schüttelt den Kopf oder sich vor Lachen

20 Dez

Thoroughly Modern Millie

Von Tonio Klein

Musical-Komödie // „Die junge Millie Dillmount kommt vom Land ins New York des Jahres 1922“, so Wikipedia. Das genügt schon, auf die Handlung kommt es in dieser wilden Farce nicht so sehr an. Man muss Musik und Mode der 1920er-Jahre mögen, dazu ein Faible für Julie Andrews und überdrehte Albernheiten und überbordende Tänze haben – dann kann nichts schiefgehen. Man muss sich aber drauf einlassen. Objektiv gesehen ließe sich nämlich so manches an „Modern Millie“ kaputtreden. Im Gesamtzusammenhang fallen die scheinbar groben Nachlässigkeiten des Filmes kaum noch ins Gewicht oder wandeln sich sogar in Vorteile.

Unsinn …

„Modern Millie – Reicher Mann gesucht“ ist strunzdämlich und randvoll mit absurden Handlungselementen bar jeglicher Logik. Der Plot ist überkonstruiert, die abschließende Auflösung diverser Missverständnisse allzu gewollt und völlig an den Haaren herbeigezogen. Ein Krimi- und ein Beziehungsplot gehen eine unheilvolle Mesalliance ein, bei der das eine mit dem anderen lange Zeit nur sehr wenig zu tun hat. Dadurch verliert der Film seinen in der Anfangsphase wichtigeren Krimistrang zeitweise völlig aus den Augen. Man fragt sich, warum der verlorene Faden nicht wieder aufgenommen wird. Am Ende ist er jedoch so fest in den Händen der Protagonisten, dass man sich fragt, warum sich nicht mal wieder das Musical zu Wort meldet. Hinzu kommen handwerkliche Macken wie erstaunlich miese Rückprojektionen und Anschlussfehler: Millie (Julie Andrews) kann bei ihrem Fenstersturz unmöglich so weit geschleudert werden, dass sie sich an der Fahnenstange festhalten kann. Sie reißt ein den ganzen Film begleitendes symbolträchtiges Herz-Ass quer durch; in der folgenden Großaufnahme schien es aber herzzerreißender auszusehen, wenn der Ratsch diagonal durch das Kartenherz geht. Dann haben wir noch die üblichen Klischees wie dasjenige vom bösen Chinesen, der sich vorzugsweise mit dem Betrieb einer Wäscherei tarnt.

… mit Methode

Und der Film ist wundervoll, nicht einmal trotz alldem, sondern fast schon wegen alldem (auch wenn ich in der Schlussphase tatsächlich die Musicalnummern etwas vermisst habe). Das ist nämlich höherer Blödsinn, bei dem ich das Gefühl hatte, Regisseur George Roy Hill habe sehr genau gewusst, was er da tat. Und wenn er auch mal die Beine hochgelegt und den Dingen ihren Lauf gelassen hat. Nein, perfekt ist dieser Film nicht. Aber sein ganz großes Plus ist, dass er es auch nicht sein will, dass das Unperfekte in seiner Lässigkeit Methode hat (und dennoch lässig wirkt), und dass andere Aspekte wiederum perfekt sind. Perfekt fängt der Film nämlich die Zeit ein, in der er spielt, die flippigen 1920er-Jahre. Und der nostalgischen Gefühle wegen ist er auch selbst ein bisschen wie ein Film der Zwanziger gemacht. Da wurden halt mal Dinge mit nicht so ganz durchkonstruierten Storys heruntergekurbelt. Da waren die Rückprojektionen mies. Da ging es um Schau- und Unterhaltungswerte, und auch im Stummfilm um (Begleit-)Musik, Tanz und Bewegung. „Modern Millie“ bietet all dies satt. Vieles lässt ihn wie einen Stummfilm oder frühen Tonfilm aussehen: Bei den Szenenwechseln löst das neue das alte Bild durch Übergänge in allen erdenklichen Formen ab (die gute alte Kreisblende, ein Dreieck öffnet sich im alten Bild, und vieles mehr), was seinerzeit sehr populär war (kaum Zufall, dass das große Kind George Lucas diese Technik konsequent bei den sehr märchenhaften Star-Wars-Filmen anwendet). Der Film hat eine Akrobatiknummer, eine Kombination aus Akrobatik und Klopperei, ein paar künstlich beschleunigte Szenen, Slapstickeinlagen mit Hochhausklettereien und Fast-Abstürzen sowie im wahrsten Sinne des Wortes ein Feuerwerk an Gags aus purer kinetischer Energie. Das wirkt slapstick- und cartoonhaft verfremdet – im Finale werden Erinnerungen an Blake Edwards’ Inspector-Clouseau-Reihe wach. An Cartoons erinnert auch die Tatsache, dass gewaltsam betäubte Menschen nicht einfach zusammensacken, sondern mit geöffneten Augen und scheinbar wachem Gesichtsausdruck einfach reglos stehen- oder sitzenbleiben.

Reines kinetisches Kino

Selten war der Begriff „Motion Picture“ so passend wie hier. Das ist pures Bewegungskino, so wie der Stummfilm noch stolz war, „bewegtes Bild“ zu sein. Darin ist „Modern Millie“ eben doch perfekt – und ziemlich lustig. Das Ganze ist bis aufs Kleinste durchchoreografiert, und zwar auch dann, wenn nicht gesungen oder getanzt wird. Allein die ersten fünf Minuten sind eine wahre Sinfonie aus Bild und – insoweit doch anders als beim Stummfilm – Ton. Der subjektive Kamerablick durch die Augen einer Verbrecherin, das mechanische, rhythmische Quietschen eines Korbwagens, das Chloroformieren einer Frau just nach der letzten Note ihres Gesanges, das fast schon musikalisch-rhythmische Dröhnen des kaputten Fahrstuhls, den man stets nur mit Stepptanz zum Laufen bringen kann. Und so wird es weitergehen. Hier sitzen selbst kleine beiläufige Handbewegungen, Blicke, auch einmal Pseudo-Handkantenschläge so traumwandlerisch sicher wie jeder Tanzschritt (vielleicht gab es gegen Ende wenige Musicalnummern, weil im Grunde der ganze Film eine einzige Choreografie ist). Dabei achtet die Kamera gern auf liebenswerte oder skurrile Details, führt beispielsweise Frauen erst einmal durch die Art und die Rhythmik ihres Ganges ein (auch wieder so ein choreografisches Element). Der Film achtet ferner – hier doch wieder vom Stumm- und frühen Tonfilm unterscheidbar – auf die Farbgebung, die nicht nur allgemein prächtig und satt ist, sondern auch bewusste Akzente setzt. Natürlich fällt das knallrote Cabriolet eines Protagonisten besonders auf, ist herrlich ungeeignet zum Spionieren, sehr geeignet zum Knutschen (mit „rot ist die Liebe“ fährt man gar nicht so schlecht), und vielleicht hat dort der große Douglas-Sirk-Kameramann Russell Metty seine Spuren hinterlassen. Farbakzente wie das Auto werden gern einmal übervoll ins Bild gesetzt (wie oft gab es Vergleichbares bei Sirk!) oder mit einem Bild kombiniert, aus dem alle Farben herausgenommen sind (Millies Hutschmuck in einem Vorläufer moderner Großraumbüros voller grauer Mäuse und einer strengen Obermaus). Der Film ist in vielen Details derart aufmerksam inszeniert, dass er sich selbstbewusst einen Dreck um gewisse Konventionen scheren kann und die Handlung etwas unstet dahinplätschern lassen und mit seltsamen Tonlagenwechseln garnieren darf. Er macht einfach gute Laune. Die DVD hat eine gute Bild- und Tonqualität, als Extra leider nur den Trailer.

Und der Jubilar?

Regisseur George Roy Hill, der am 20. Dezember 2021 100 Jahre alt geworden wäre, ist schwer zu fassen. Sehr bekannt sind seine beiden Arbeiten mit Paul Newman und Robert Redford, „Zwei Banditen“ (1969) und „Der Clou“ (1973) – in beiden Fällen eine Komödie mit liebevollem historischen Zeitkolorit und Sympathie für die Outlaws. Letzterer ist aber eine Gauner-gegen-Gauner-Geschichte, und beide geben sich nicht so hemungslos dem burlesken Humor wie „Modern Millie“ hin. Die John-Irving-Verfilmung „Garp und wie er die Welt sah“ (1982) tendiert im Gegenteil mehr zum Absurden und ließe sich am ehesten als Tragikomödie bezeichnen. Nicht übersehen werden sollte aber auch „Puppen unterm Dach“ (1963), bei dem es nun wirklich nichts zu lachen gibt: Ein Kammerspiel nach Lillian Hellman, aber doch mehr als abgefilmtes Theater, und in den schwarz-weißen Breitwandbildern steckt nichts als Enge. Wer wirklich einmal bedrückende Abhängigkeiten und Abgründe sehen will, wie sie auch einem Tennessee Wlliams gut angestanden hätten, ist hier richtig, und Dean Martin als etwas infantile, tragische, unterdrückte Hauptfigur ist echt eine Überraschung, die man dem Strahlemann nicht zugetraut hätte. Ist Hill also einer, der keine Handschrift hatte? Schwer zu sagen; jedenfalls sollte dies höchstens eines von mehreren Kriterien zur Beurteilung einer künstlerischen Gesamtleistung sein. Man darf auch nicht vergesen, dass Hill vom Theater kam, in dem er zunächst auch als Schauspieler tätig war. Wie so viele seiner Generation (beispielsweise Sidney Lumet) absolvierte er seine filmischen Lehrjahre beim boomenden US-Fernsehen, in seiner Frühzeit mit Live-Inszenierungen dem Theater nicht unähnlich. So mag sich ein meisterlicher Film wie „Puppen unterm Dach“ erklären. Dieser und spätere Arbeiten zeigen aber auch, dass er nicht nur Personenzeichnungen, sondern auch den Einsatz genuin filmischer Mittel genau verstanden hatte. Zahlreiche Preise waren der Lohn, auch „Modern Millie“ bekam einen Oscar (beste Originalmusik – Elmer Bernstein). Für „Der Clou“ konnte Hill einen von sieben (!) Oscars persönlich entgegennehmen (beste Regie). An Kinofilmen ist sein Werk eher schmal, aber man darf da nicht Quantität und Qualität verwechseln. Sein Name blieb – gemessen an seinem Erfolg – vergelichsweise unbekannt, und so muss ich Angaben zum Privatleben von Wikipedia abschreiben. Hill war von 1951 bis 1971 mit der Schauspielerin Louisa Horton verheiratet und hatte mit ihr vier Kinder. Nachdem er schon lange in Rente gegangen war, starb er sieben Tage nach seinem einundachzigsten Geburtstag an Komplikationen seiner Parkinson-Erkrankung. Anders als im Finale von „Der Clou“ gab’s natürlich keine wunderbare Wiederauferstehung. Aber es gibt seine Filme.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Julie Andrews haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet.

Veröffentlichung: 1. Juli 2004 als DVD

Länge: 146 Min.
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch u. a.
Originaltitel: Thoroughly Modern Millie
USA 1967
Regie: George Roy Hill
Drehbuch: Richard Morris
Besetzung: Julie Andrews, James Fox, Mary Tyler Moore, Carol Channing, John Gavin, Jack Soo, Pat Morita, Philip Ahn, Anthony Dexter, Herbie Faye
Zusatzmaterial: Trailer
Label/Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH

Copyright 2021 by Tonio Klein

Packshot: © 2004 Universal Pictures Germany GmbH

 

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