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Der Baader Meinhof Komplex – Uli Edels und Bernd Eichingers RAF-Muskelspiel

Der Baader Meinhof Komplex

Von Volker Schönenberger

Politthriller // Am 2. Juni 1967 besuchen der Schah von Persien Mohammad Reza Pahlavi und seine Ehefrau Farah Diba West-Berlin. Vor der Deutschen Oper bildet sich eine Demonstration gegen den Staatsbesuch, die die Menschenrechtsverletzungen im Iran anprangert. Als die Jubelperser mit Latten, Knüppeln und Totschlägern auf die Demonstrantinnen und Demonstranten losgehen, schaut die Polizei erst tatenlos zu und agiert kurz darauf ihrerseits gewalttätig – nicht jedoch gegen die Gewalttäter, sondern gegen die Opfer. Trauriger Höhepunkt: Der Polizist Karl-Heinz Kurras erschießt den Studenten Benno Ohnesorg. Am 11. April 1968 wiederum schießt ein gewisser Josef Bachmann (einer der vielen rechtsextremistischen „Einzeltäter“ der bundesdeutschen Geschichte) auf den Studentenführer Rudi Dutschke (der mit bleibenden Schäden überlebt und 1979 an den Spätfolgen des Attentats stirbt).

Die Anti-Schah-Proteste am 2. Juni 1967 …

Diese Ereignisse gelten gemeinhin als Auslöser der Radikalisierung der bundesdeutschen Studentenbewegung mit der Gründung der linksextremistischen Terrorismusgruppen Bewegung 2. Juni und Rote Armee Fraktion (RAF). Sie bilden auch den Auftakt von „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008), der filmischen Chronik des linken Terrorismus bis 1977. Das Drehbuch verfassten Produzent Bernd Eichinger und Regisseur Uli Edel („Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“), als Vorlage diente ihnen der gleichnamige Bestseller von Stefan Aust.

… arten in Gewalt durch Jubelperser und Polizei aus

Als Besetzung wurde alles verpflichtet, was im deutschen Film Rang und Namen hat und bei drei nicht auf den Bäumen war. Viele von ihnen begnügten sich mit Kurzauftritten:

– Martina Gedeck als Ulrike Meinhof (Gründungsmitglied der RAF, erhängte sich am 9. Oktober 1976 in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim),

– Moritz Bleibtreu als Andreas Baader (Gründungsmitglied der RAF, erschoss sich am 18. Oktober 1977 in der Todesnacht von Stammheim in Haft befindlich nach der durch Befreiung der Geiseln in Mogadischu beendeten Entführung des Lufthansa-Flugzeugs „Landshut“),

– Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin (Gründungsmitglied der RAF, erhängte sich am 18. Oktober 1977 in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim),

– Niels Bruno Schmidt als Jan-Carl Raspe (führendes Mitglied der ersten RAF-Generation, erschoss sich am 18. Oktober 1977 in seiner Zelle in Stuttgart-Stammheim),

– Annika Kuhl als Irmgard Möller (führendes Mitglied der ersten RAF-Generation, überlebte ihren Selbstmordversuch in der Todesnacht von Stammheim),

– Sebastian Blomberg als Rudi Dutschke,

– Alexandra Maria Lara als Petra Schelm (erste Tote der RAF bei einem Schusswechsel mit der Polizei am 15. Juli 1971),

– Stipe Erceg als Holger Meins (Mitglied der ersten RAF-Generation, starb am 9. November 1974 in der Haft an den Folgen seines Hungerstreiks, zweiter Toter der RAF),

– Katharina Wackernagel als Astrid Proll (Gründungsmitglied der RAF),

– Anna Thalbach als Ingrid Schubert (Gründungsmitglied der RAF),

– Andreas Tobias als Manfred Grashof (Mitglied der ersten Generation der RAF),

– Nadja Uhl als Brigitte Mohnhaupt (Führungspersönlichkeit der zweiten Generation der RAF, maßgeblich Verantwortliche der Toten des Deutschen Herbstes auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland),

– Vinzenz Kiefer als Peter-Jürgen Boock (Mitglied der zweiten Generation der RAF),

– Jan Josef Liefers als Peter Homann (Publizist aus dem Umfeld der frühen RAF),

– Tom Schilling als Josef Bachmann,

– Simon Licht als Horst Mahler, (Rechtsanwalt und Gründungsmitglied der RAF, heute Nazi),

– Daniel Lommatzsch als Christian Klar (führendes Mitglied der zweiten Generation der RAF),

– Hannah Herzsprung als Susanne Albrecht (Mitglied der zweiten Generation der RAF),

– Bruno Ganz als Horst Herold (von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamts),

– Heino Ferch als Herolds Assistent (bleibt namenlos, wohl eine fiktive Figur),

– Hans Werner Meyer als Klaus Rainer Röhl (Chefredakteur der linken Zeitschrift konkret und von 1961 bis 1968 mit Ulrike Meinhof verheiratet),

– Volker Bruch als Stefan Aust,

– Christian Blümel als Siegfried Hausner (Mitglied der zweiten Generation der RAF, einer der Geiselnehmer in der deutschen Botschaft in Stockholm am 24. April 1975),

– Britta Hammelstein als Hanna Krabbe (RAF-Mitglied, an der Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft beteiligt),

– Thomas Thieme als Theodor Prinzing (Vorsitzender Richter im ab 21. Mai 1975 geführten Stammheim-Prozess),

– Peter Schneider als Gerhard Müller (Mitglied der ersten RAF-Generation, Kronzeuge im Stammheim-Prozess),

– Bernd Stegemann als Hanns Martin Schleyer (Arbeitgeberpräsident und ehemaliger SS-Offizier, am 5. September 1977 von der RAF entführt und am 18. Oktober erschossen),

– Hubert Mulzer als Jürgen Ponto (Bankier, am 30. Juli 1977 von der RAF beim Versuch, ihn zu entführen, erschossen),

– Alexander Held als Siegfried Buback (Generalbundesanwalt, am 7. April 1977 von der RAF erschossen),

– Michael Gwisdek als Gudrun Ensslins Vater Helmut Ensslin,

– Elisabeth Schwarz als Gudrun Ensslins Mutter Ilse Ensslin,

– Hannes Wegener als Willy Peter Stoll (Mitglied der zweiten Generation der RAF, mutmaßlich an der Schleyer-Entführung beteiligt),

– Michael Schenk als Siegfried Haag (Rechtsbeistand von Andreas Baader nach dessen Inhaftierung 1972, Mitglied der zweiten Generation der RAF),

– Sandra Borgmann als Sieglinde Hofmann (führendes Mitglied der zweiten Generation der RAF, an der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer beteiligt),

– Jasmin Tabatabai als Hanne (RAF-Helferin, die die Kinder von Ulrike Meinhof nach deren Abtauchen in den Untergrund nach Sizilien entführt).

All diese Personen sind in „Der Baader Meinhof Komplex“ mehr oder minder stark präsent, wobei der Fokus auf Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin liegt. Ebenso werden alle oben erwähnten Ereignisse – und einige mehr – geschildert, mal ausgiebig, mal in aller Kürze. Der Film endet mit der Erschießung Hanns Martin Schleyers in einem Wald.

Die Straßenschlacht kostet ein Menschenleben

Diese Chronologie der Ereignisse zwischen 1967 bis 1977 bewegt sich in professioneller Hinsicht auf hohem inszenatorischen Niveau, Produzent Bernd Eichinger ließ in der Hinsicht die Muskeln spielen. Die Nominierungen für Golden Globe und Oscar als bester fremdsprachiger Film kamen nicht von ungefähr (den Globe gewann 2009 allerdings „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ aus Japan, den Auslands-Oscar der israelische Animationsfilm „Waltz with Bashir“). Eichinger und sein Regisseur Uli Edel bemühten sich mit Ausnahme einiger künstlerischer Freiheiten um größtmögliche Authentizität und Faktentreue, bis hin zur wörtlichen Übernahme überlieferter Dialoge unter den Terroristen. Auch das Zeitkolorit wirkt jederzeit realitätsnah. Das lockte 2008 allein in Deutschland mehr als 2,4 Millionen Menschen in die Kinos.

Szenen einer Ehe: der konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl und seine Edelfeder Ulrike Meinhof

Obwohl Meinhof, Baader und Ensslin am präsentesten sind, bleibt „Der Baader Meinhof Komplex“ doch ein Ensemblefilm mit einer Vielzahl an Figuren, von denen einige so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Andere tauchen immer wieder kurz auf. An Identifikationsfiguren mangelt es völlig, was die richtige Entscheidung war, weil ein Sympathieträger oder eine Sympathieträgerin das Publikum zu sehr gelenkt hätte. Dieser unbedingte Wille zur Distanz tut dem historischen Stoff gut.

Studentenführer Rudi Dutschke macht sich Feinde

An den schauspielerischen Leistungen gibt es nichts auszusetzen – erwartungsgemäß, möchte ich angesichts der namhaften Besetzung hinzufügen. Große darstellerische Meriten gab es bei dieser aufwendigen Geschichtsstunde allerdings für niemanden zu holen, auch wenn Moritz Bleibtreu für den Europäischen und Johanna Wokalek für den Deutschen Filmpreis nominiert wurden. Bleibtreus Baader nervt auf Dauer zunehmend, was aber nicht dem Schauspieler anzulasten ist, sondern der Konzipierung der Figur als jähzornig und chauvinistisch (der echte Baader mag so gewesen sein). Wokalek verleiht ihrer Gudrun Ensslin ein kühles Charisma, was mir ausgesprochen gut gefallen hat. Mit präziser, wenn auch radikaler und verblendeter Argumentation die hervorstechendste Figur des Films (nimmt man Baaders laute Wutausbrüche etwas heraus).

Andreas Baader und Gudrun Ensslin …

Dank reichlich Action und enormen Informationsgehalts kommt zu keinem Zeitpunkt Langeweile auf. Stärkste Sequenz ist vielleicht sogar schon der Einstieg mit der Anti-Schah-Demo, den Jubelpersern und dem Tod von Benno Ohnesorg. Schnell sind wir mittendrin im Geschehen. Wer sich mit dieser Phase der bundesdeutschen Geschichte nicht auskennt, erfährt an reinen Fakten viel, wer sich auskennt, wird viel wiederfinden. Umgekehrt gilt aber auch: Neues erfahren wir nicht, tiefergehende Psychogramme einzelner Beteiligter ebenfalls nicht. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Motivation, sich zu radikalisieren und in den Untergrund zu gehen, findet nicht statt. Anstelle dessen springt „Der Baader Meinhof Komplex“ von Ereignis zu Ereignis. Den Zusammenhang erkennt man schon, seine Darstellung bleibt aber oberflächlich. Das gilt insbesondere für die zweite Generation der RAF, die wir einzig als Täterinnen und Täter erleben, ohne darüber hinaus irgendetwas über sie zu erfahren (von einer kurzen Sexszene einmal abgesehen, die sowieso keine Erkenntnisse zu Tage fördert). Bei Baader, Ensslin und Meinhof wurde immerhin noch diskutiert, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar hingegen müssen wohl, folgt man dem Film, simpel und gewissenlos gestrickt sein. Von den Opfern sei hier gar nicht erst angefangen, da auch der Film gar nicht erst mit ihnen anfängt.

… radikalisieren sich

Am Ende verfestigt sich der Eindruck, hier sei ein Schlussstrich gezogen worden, die Geschichte sei nun aufgearbeitet (dieser Drang nach Historisierung ist im deutschen Film oft zu bemerken). Dabei ist sie es mitnichten!

Holger Meins wird verhaftet und tritt in den Hungerstreik

Ähnlich wie der Film lässt auch die Veröffentlichung von Turbine die Muskeln spielen. Das Mediabook enthält sowohl Lang- als auch Kinofassung jeweils auf Blu-ray in sehr guter Bild- und Tonqualität, die Langfassung dabei erstmals auf Blu-ray (zu den Unterschieden zwischen Kino- und Langfassung verweise ich auf den Schnittbericht). Auf der Blu-ray mit der Langfassung findet sich zudem die knapp einstündige Dokumentation „Andreas Baader – Das Leben eines Staatsfeindes“ (2007) von Klaus Stern. Darüber hinaus hat das Label auf einer weiteren Blu-ray die 105-minütige Dokumentation „Black Box BRD“ beigefügt, die 2001 sogar im Kino lief und mit dem Hessischen, Bayerischen, Deutschen und Europäischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm prämiert wurde. Der Drehbuchautor und Regisseur Andreas Veiel zeichnet darin parallel die Biografien des am 30. November 1989 von der RAF ermordeten Deutsche-Bank-Vorstandssprechers Alfred Herrhausen und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams nach. Grams starb am 27. Juni 1993 beim GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen durch eigene Hand, nachdem er einen Beamten der Spezialeinheit erschossen hatte.

Auch Ulrike Meinhof wird geschnappt

Ergänzend finden sich weitere Featurettes, die bereits auf den vorherigen Heimkino-Veröffentlichungen von „Der Baader Meinhof Komplex“ enthalten waren. Wer dem Lesen zugetan ist, kann sich darüber hinaus an dem 60-seitigen (!) Booklet delektieren, das diverse Texte zur Entstehung des Films und der beiden Dokumentationen enthält, dazu auf neun Seiten eine Zeitleiste mit den wichtigsten Ereignissen vom 2. Juni 1967 bis zum 19. Oktober 1977.

Der Stammheim-Prozess

Inwiefern „Der Baader Meinhof Komplex“ den Ereignissen in diesen zehn Jahren und den darin auftauchenden Personen auf allen Seiten gerecht wird, darüber lässt sich trefflich streiten und wurde auch gestritten. Ein bedeutsames und dabei jederzeit fesselndes Werk bildet der Film so oder so, und Turbine hat mit seiner Veröffentlichung einmal mehr ein Rundum-sorglos-Paket aufgelegt. Es kann auch im labeleigenen Online-Shop geordert werden – die Mediabook-Variante mit dem weißen Cover gibt es sogar nur dort.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Uli Edel haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Martina Gedeck unter Schauspielerinnen, Filme mit Moritz Bleibtreu und Tom Schilling in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 14. Januar 2022 als 3-Disc-Edition Mediabook (3 Blu-rays inkl. Langfassung, 2 limitierte Covervarianten, Cover B: 750 Exemplare), 24. November 2009 als 2-Disc Extended Edition DVD im Digipack, 12. März 2009 als Blu-ray, 2-Disc Premium Edition DVD (inkl. Langfassung) und DVD

Länge: 165 Min. (Blu-ray, Langfassung), 150 Min. (Blu-ray, Kinofassung), 151 Min. (DVD, Langfassung), 144 Min. (DVD, Kinofassung)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Hörfilmfassung
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: Der Baader Meinhof Komplex
D/F/CZ 2008
Regie: Uli Edel
Drehbuch: Bernd Eichinger, Uli Edel, nach einer Vorlage von Stefan Aust
Besetzung: Martina Gedeck, Moritz Bleibtreu, Johanna Wokalek, Jan Josef Liefers, Nadja Uhl, Alexandra Maria Lara, Heino Ferch, Stipe Erceg, Niels-Bruno Schmidt, Tom Schilling, Susanne Bormann, Vinzenz Kiefer, Sebastian Blomberg, Hannah Herzsprung, Bruno Ganz, Hans Werner Meyer, Katharina Wackernagel, Anna Thalbach, Volker Bruch, Jasmin Tabatabai, Thomas Thieme, Michael Gwisdek, Bernd Stegemann, Sunnyi Melles, Adam Jaskolka, Hubert Mulzer, Britta Hammelstein, Michael Schenk, Sandra Borgmann
Zusatzmaterial Mediabooks: Audiokommentar von Uli Edel zur Kinofassung, 11 Featurettes mit drei Stunden Laufzeit, u. a. mit Bernd Eichinger, Uli Edel und Stefan Aust, Dokumentation von Klaus Stern: „Andreas Baader – Das Leben eines Staatsfeindes“ (59 Min.), Dokumentarfilm von Andres Veiel: „Black Box BRD“ (105 Min.), Audiokommentar von Andreas Veiel, Interview mit Andreas Veiel (34 Min.), Kinotrailer, 60-seitiges Booklet mit Texten zur Entstehung des Films und der Drehbuchentwicklung
Zusatzmaterial 2009: Featurettes (in Einzel-DVD nicht vorhanden), Trailer, Trailershow
Label/Vertrieb 2022: Turbine Medien
Label/Vertrieb 2009: Constantin Film / Highlight

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & untere Packshots: © 2022 Turbine Medien

 

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