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Der Sträfling und die Witwe – Mehr als nur ein Witwentröster

16 Nov

La veuve Couderc

Von Tonio Klein

Drama // Anfang und Ende sind eine Klammer. In scheinbar ruhigen Bildern fängt die Kamera in Luftaufnahmen das ländlich-dörfliche Frankreich ein, scheint die Gegend schon genau zu vermessen und abzustecken, in der sich das folgende Drama abspielen wird. Eher ein Kammerspiel, aber eben doch eines, das in einem ganz bestimmten Setting stattfindet, und die Innenräume haben ein gar nicht mal selten zu sehendes Außen. Sicherlich steckt in der folgenden Geschichte um Begehren, Bigotterie, äußerst beunruhigende Familienbande(n) und Abhängigkeit auch etwas Allgemeingültiges. Aber es ist eben auch wichtig, in welchem (nicht nur geografischen) Umfeld dies alles gedeihen kann.

Irgendwo, irgendwann?

Und dass es gerade in Frankreich gedeiht. Es wäre nicht völlig unmöglich, dies in ein anderes Land zu verfrachten, aber wie urfranzösisch Stoff und Film sind, sieht man eben auch bereits in der Eröffnung. Dieses ländliche Frankreich kenne ich optisch so aus meiner Kindheit und Jugend, auch wenn diese etwas später als 1971 einsetzte. Als eingeblendet wird, dass das alles 1934 spielt, ist man zwar wegen eines zuvor sichtbaren altmodischen Omnibusses nicht völlig von den Socken, konnte aber vorher durchaus mit einem zeitgenössischen Streifen rechnen. In Frankreich waren 1971 eben Gegenden zu finden, die noch wie 1934 aussahen, und das macht sich der Film zunutze, der – jedenfalls bis 1971 – nicht ortlos, aber eben doch (zu Ausnahmen später) zeitlos ist. Dominierenden Katholizismus und selbst die Todesstrafe gab es auch da noch, der Pariser Mai 1968 war nicht aufs Land gekommen, und Ersteres gibt es noch heute.

Jean und Tati brüten was aus

Jean (Alain Delon) kommt zu Fuß in das Dorf und hilft der Witwe „Tati“ Couderc (Simone Signoret) beim Tragen eines schweren Brutapparates. Der Mann, offenbar Landstreicher, kommt bei ihr, die einen Bauernhof führt, als Arbeiter unter. Ganz offensichtlich hatte und hat Tati ein hartes Leben, muss um den Verlust des versoffenen Mannes nicht allzu sehr trauern und will stattdessen den Hof mit aller Kraft hegen, pflegen und halten. Sie hatte das de facto schon zuvor getan, alles mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut, sodass sie sich daran klammert, auch wenn mit den Verschwägerten vom Nachbarhof nicht gut Kirschen essen ist. Sie wollen die Enteignung Tatis erwirken, die Motive sind nicht nur solche der Gier, sondern auch persönlicher Art. Nebenan lebt ihre Schwägerin Françoise (Monique Chaumette), die der Ansicht ist, ihr Bruder habe unter Tati gelitten. Deren Vater, also Tatis Schwiegervater, Henri (Jean Tissier) lebt hingegen bei Tati, bekommt wegen einer (höchst selektiven) Taubheit und Demenz nicht mehr allzu viel auf die Kette, aber klettert gelegentlich noch zu Tati in die Kiste. Überhaupt, Sex: Er findet zahlreich statt, auch mal im Off und in der nicht gezeigten Vorgeschichte, und erschreckend oft innerhalb der (erweiterten) Familie. Wo jeder jeden kennt, da jeder jeden erkennt („erkennen“ heißt in Luthers Bibelübersetzung …). Und da mischt auch der Fremde Jean mit – die ältere Tati und er fühlen einander als Außenseiter verbunden.

Sie sind doch nicht etwa – quelle horreur – Landstreicher?

Bereits der 1942 veröffentlichte Roman von Georges Simenon verschweigt und beschönigt nichts und katapultiert uns in diese ganz ungesunden Verhältnisse. Auf dem Klappentext der DVD heißt es, Regisseur Pierre Granier-Deferre sei ein Fachmann für Simenon-Verfilmungen. Hier kann ich mich nur auf den vorliegenden Film beziehen, und was diesen betrifft, macht der Mann tatsächlich alles richtig. Jedenfalls, wenn man der Ansicht ist, dass die beste Literaturverfilmung nicht die mit der maximalen inhaltlichen Werktreue ist, da nimmt der Film nämlich auch signifikante Änderungen vor: Während Jean im Roman aus dem Zuchthaus entlassen wurde und also keine Festnahme zu befürchten hat, ist er im Film ausgebrochen, wie wir recht früh erfahren. Während der Roman sehr gesellschaftskritisch, aber frei von direkten politischen Anspielungen ist, betrachtet der Film mit dem Vorteil, Rückschau halten zu können, die porträtierte Gesellschaft auch als eine am rechten Rande. Man liest dementsprechende, deutlich zu sehende Zeitungen und macht durch eine Wandschmiererei an der Kirche unmissverständlich klar, wer nicht in den Ort gehöre: Juden. Das Jahr 1934 hat der Film sicherlich bewusst gewählt. Das Land befand sich in einer schweren Krise und hatte am 6. Februar Straßenschlachten in Paris zu gewärtigen, an denen Faschisten, wenn auch zu unkoordiniert für einen Putschversuch, maßgeblich beteiligt waren, was ein politisches Beben auslöste. Dies wird im Film nicht direkt erzählt, scheint aber in kleinen Aperçus mitzuschwingen – so ganz isoliert war man auf dem Dorf eben doch nicht!

Selbstbehauptung und Begehren

Der Film, uns das ist das Entscheidende, bleibt aber dem Geiste des Romans treu, der Schilderung der dörflichen Enge und Bigotterie (allein das Einander-Beäugen beim inoffiziell obligatorischen sonntäglichen Kirchgang), den Turbulenzen, die ein Fremder hereinbringt. Er behält auch die Metapher des Brutapparates bei, der Tati und Jean helfen soll, auf ein solides Einkommen zu kommen, der aber gegen Ende höchst wirkmächtig … eben etwas sehr Metaphorisches tut, was hier nicht verraten sei. Und er behält bei, dass Jean irgendwann mit der sehr jungen Félicie (Ottavia Piccolo) im Heu landet; bei ihr handelt es sich um die Nichte von Tati und Tochter von Françoise, die bereits ein Kleinkind von einem unbekannten Schwängerer hat. Übrigens heißt es in vielen Inhaltsangaben, dass sie 16 Jahre jung sei, aber sollte ich nicht unaufmerksam gewesen sein, wird dies im Film, anders als im Roman, nie gesagt.

Jean ist auch nur ein Mann, und Félicie weiß das

So oder so verringert das die zwischenmenschlichen Probleme nicht gerade, obwohl Tati gar nicht einmal die Haupt-Indignierte ist und immer noch Gefallen an Jean findet, zumindest in einer „Wir gegen die“-Partnerschaft der Ausgestoßenen. Natürlich kommt es gegen Ende zur Hatz der Gesetzeshüter. Da nimmt der Film die Luftaufnahmen vom Anfang wieder auf und wir merken: Diese topografische Vermessung der Enge, die den Film eingeleitet hat, ist auch eine, die Jean einschnürt. Das Netz, das sich von oben über die Häuser, die Brücke, den Fluss gelegt hat, über die während des ganzen Filmes immergleichen Orte – es wird jetzt zugezogen. „Der Sträfling und die Witwe“ nutzt seine wenigen Orte durchweg geschickt, wobei das Symbolbild der Brücke nicht mal das beste, weil etwas naheliegend, ist. Aber der kleine Fluss zwischen den zerstrittenen Höfen/Familien! Der ist nicht nur immer wieder im Bild, sondern ist auch ein Symbol verpasster, flüchtiger Aussichten und Chancen, denn andauernd fahren Boote und Schiffe vorbei, die aber ebenso schnell wieder weg sind, wie sie gekommen sind. Eine Interaktion mit denen, die hier leben müssen – unmöglich! Da hat man sicherlich nicht zufällig unter anderem einmal ein offenbar wohlhabendes Pärchen auf einem Boot drapiert, welches per Grammofon zeitgenössische Tanzmusik aus den USA hört. Die Neue Welt und die (natürlich auch in den USA oft illusorische) Aussicht auf Befreiung und Zerstreuung lockt, ist aber für die Dörfler nicht zu greifen.

Darstellerkünste

Dies ist – kann man mögen oder nicht – ein sehr französischer Film (obschon eine französisch-italienische Koproduktion), der sich trotz Thriller-Finales Zeit nimmt, aber dabei durchaus fesseln kann, weil nicht nur Örtlichkeiten und Kamera/Montage überzeugen, sondern die Franzosen eben auch Schauspielkunst lieben. Oder sagen wir mal, das ist das Land, in dem „Star“ und „Schauspieler“ keine Gegensätze sind, in dem jemand beides sein kann: Type und äußerst versierter wie nuancierter Mime. Delon: Er war damals schon „Kult“, auch im Privaten ein schillernder und dabei etwas bedrohlich wirkender Mann, ein Frauenschwarm zudem – aber eben auch einer, der gerade hier ganz Verschiedenes kann. Seine Haltung mit Pistole und offenem Hemd ist pure Pose für die weiblichen Fans …

Einmal für die Poster-Vermarktung, bitte

… aber er kann sowohl verführen als auch verführt werden. Zudem ist Jean nicht nur der aufgesetzt-coole Outlaw, sondern scheint es mit der mindestens finanziellen Partnerschaft mit Tati tatsächlich ernst zu meinen. Er hat ein Herz für die Geknechtete und (noch nicht ganz) Entrechtete, auch wenn ein anderer Teil seines Körpers … nun ja, siehe oben; eindeutige Charakterisierungen sind erfreulicherweise nicht möglich. Ottavia Piccolo (nicht Französin, sondern Italienerin übrigens) ist pure Laszivität, eindeutig, aber mit Verführungskraft im Stillen, Abwartenden – oder Lauernden? Ihrem Blick ist anzusehen, dass sie weiß, den schmucken Jean irgendwann dorthin zu bekommen, wo sie ihn haben will. Andererseits scheint sie, auch wenn das ambivalent bleibt, ihr kleines Kind, das sie ständig mit sich herumführt, durchaus zu lieben. Simone Signoret – perfekt für die Rolle! Ein Wort, ein Blick, eine Geste kann immer Streicheleinheit und Peitschenknall zugleich sein. 1921 geboren, 1955 in „Die Teuflischen“ genau dies, konnten ihr – anders als vielen Hollywooddiven – der 40. Geburtstag und der herbe Typus rein gar nichts anhaben und sie war darin sehr gut, aber immer noch sehr facettenreich. Gerade der nicht nur harte Charakter der Tati unterstreicht dies.

Fazit: Wenn man weder exakte Übereinstimmung mit dem Roman noch ein hohes Aktionstempo von Anfang an erwartet, ein faszinierender Film, der uns eine Oberfläche zeigt und uns in die darunter liegenden Abgründe reißt, nie reißerisch, aber ungeschminkt und ungefiltert.

Und was taugt die DVD?

Das Bild hat eine wirklich hervorragende Qualität – restauriert, aber nicht so verändert, dass es die düster-verwaschene Optik der 1970er durch UHD und Farbverstärkung der 2020er austauscht – so muss es sein! Richtig pralle azurblaue Sonne scheint weder in Georges Simenons Roman noch in dieser Verfilmung. Das Cover ist reißerischer als der Film; ein Grund dafür, dass die Credits auf der Rückseite in Italienisch angegeben sind, ist mir nicht ersichtlich. Das Bildformat ist mit 1,66:1 korrekt angegeben – gemessen an dem, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Ein paar Credits sind indes dermaßen brutal am unteren Rand, dass dort ein bisschen was fehlen dürfte – indes notiert die IMDb ebenfalls 1,66:1, sodass dies ein ungelöster Fall bleiben muss. Das französische Wikipedia gibt die Länge mit 92 Minuten an, die IMDb hingegen mit 89 Minuten, sodass ich bei Ersterem einen Fehler vermute und die DVD mit 85 Minuten (Geschwindigkeit 25 statt 24 Bilder pro Sekunde) ungekürzt sein dürfte – zumal eine andere Internetquelle eine 85-minütige DVD-Version als „unzensiert“ anpreist.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Simone Signoret haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Alain Delon unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 24. September 2021 als DVD

Länge: 85 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: keine
Originaltitel: La veuve Couderc
F/IT 1971
Regie: Pierre Granier-Deferre
Drehbuch: Pierre Granier-Deferre, Pascal Jardin, nach dem Roman von Georges Simenon
Besetzung: Alain Delon, Simone Signoret, Ottavia Piccolo, Jean Tissier, Monique Chaumette, Boby Lapointe
Zusatzmaterial: Bildergalerie, Originaltitel, Wendecover
Label/Vertrieb: Pidax Film

Copyright 2021 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Pidax Film

 

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