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Fabian oder der Gang vor die Hunde – Kästner für Kenner

03 Feb

Fabian oder der Gang vor die Hunde

Von Lars Johansen

Drama // Ganz am Anfang gleitet die entfesselte Kamera im Hier und Jetzt eine Treppe hinunter zur U-Bahn-Station „Heidelberger Platz“, ohne Schnitt bewegt sie sich durch Passanten und Statisten, aus der Gegenrichtung fährt eine U-Bahn ein, die Kamera gleitet an der anderen Seite die Treppe wieder hinauf, durch einen Gang und wieder eine Treppe nach oben, diesmal nach draußen, folgt einer jungen Frau mit Rucksack, der ein Mann entgegenkommt, welcher altmodisch gekleidet ist und als wir oben ankommen, sind wir im Berlin von 1931. Die junge Frau ist in der Vergangenheit verschwunden, der Mann in der Gegenwart, also seiner Zukunft. Das allein schon ist grandios und bringt den ganzen Film auf den Punkt. Denn das Berlin von 1931 ist das Berlin von heute, gleichzeitig, die Zeitebenen sind durchlässig. Hier wird nicht wie in „Babylon Berlin“ eine Vergangenheit behauptet, hier schleichen sich immer wieder Gegenwärtigkeiten hinein, denn die Vergangenheit ist nicht festgeschrieben, sondern in steter Bewegung. Wenn ich den Film noch einmal sehen würde, dann ginge er ganz gewiss anders aus.

Der Rausch der Nacht …

Es ist die Geschichte von Jakob Fabian (Tom Schilling), der nur Fabian genannt werden will, seinem besten Freund Stephan Labude (Albrecht Schuch) und seiner großen Liebe Cornelia Battenberg (Saskia Rosendahl). Fabian wird im Lauf des Films beide verlieren und am Ende auch sich. Er und Stephan sind schon am Anfang Verlorene, Cornelia ist es nicht und darum muss sie sich von ihrer großen Liebe lösen. So steht es schon bei Erich Kästner und davon weicht Regisseur und Co-Drehbuchautor Dominik Graf auch nicht ab. Aber einiges hat er verändert und der Film gewinnt dadurch, indem er Kästner ernst nimmt.

Harmonieren: Saskia Rosendahl und Tom Schilling

Saskia Rosendahl hat schon Erfahrung mit Kästner, denn sie hat bei „Kästner und der kleine Dienstag“ (2016) mitgespielt und Erfahrung mit der Zeit, denn sie gehörte bei der dritten Staffel von „Babylon Berlin“ (2020) zur Besetzung. Tom Schilling und sie sind einander schon in „Werk ohne Autor“ (2018) begegnet. Man merkt ihr, der jüngsten im Ensemble, ihre jahrelange Erfahrung mit Improvisationstheater an. Zwischen ihr und Schilling stimmt sichtbar die Chemie. Ihre Liebesszenen wirken ungezwungen und wahrhaftig.

… macht nicht wirklich frei …

Das gilt gleichermaßen für die Dialoge. Dass in der relativ kurzen Drehzeit von knapp zwei Monaten ein sehr langer Film entstehen kann, zeigt, wie gut es tatsächlich funktioniert hat. Regisseur Dominik Graf selbst sagt, er ließ bei den Szenen zwischen den Hauptdarstellern immer zwei Kameras mitlaufen, um die Schnittbilder möglichst effizient einzufangen. Und so gut Schilling und Rosendahl spielen, gilt das in gleichem Maße für Albrecht Schuch. Alle drei stammen aus Ostdeutschland und sind Teil einer jungen (nicht nur Schauspieler-)Generation, die geradezu idealtypisch das von Valerie Schönian so genannte „Ostbewusstsein“ verkörpert. Es ist die erste Generation, die wieder in einem vereinigten Deutschland aufgewachsen und trotzdem durch Eltern, Freunde und Umgebung im weitesten Sinne ostdeutsch sozialisiert worden ist. Ist das wichtig für den Film? Vielleicht nicht, aber für das Spiel vor der Kamera und miteinander ganz sicher.

… und endet in Moll

Dominik Grafs Film ist ein Essay, eine Annäherung an Kästner, ein Versuch, eine beinahe 100 Jahre alte Geschichte neu zu erzählen. Dazu benutzt er immer wieder Kästners Worte, die sich als erstaunlich zeitgemäß erweisen. Nicht alles ist aus Kästners Roman, der übrigens 1929 spielt und eine Menge Autobiografisches erzählt. Die Zeitverschiebung bekommt dem Film gut, denn 1931 ist ein Jahr, welches ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Ende vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg steht. Und der Krieg ist durchaus von großer Bedeutung für den Film. Dort haben sich Stephan und Fabian kennengelernt. Und immer wieder tauchen Opfer des Ersten Weltkriegs auf, manche sind entstellt, andere verkrüppelt oder straffällig geworden. Einige suchen Fabian sogar noch in seinen Träumen heim.

Die braune Brut ist allgegenwärtig

Das Jahr 1931 liegt aber auch näher am Beginn des „Dritten Reichs“, welches immer wieder eine wichtige Rolle spielt, ohne dass Graf der Gefahr unterliegt, wohlfeile Klischees zu produzieren. Die braunen Truppen sind ein sichtbarer Teil der Stadt und greifen immer wieder ein, tun dies aber am Rande des Gesichtsfeldes der Kamera. So scheinen sie allgegenwärtig zu sein, wie ein steter Unterton, der immer wieder Ereignisse motiviert. Das ist wirklich kunstvoll und hochintelligent gelöst.

Die Nüchternheit des Tages

Immer wieder spielen Metadiskurse in den Film hinein, ohne dass er sein Unterhaltungspotenzial verliert. Denn das ist er, trotz einer Länge von drei Stunden: unterhaltsam. Und jung. Der fast 70-jährige Dominik Graf dreht wie ein sehr viel jüngerer Mann, er trifft einen Ton, der ungeheuer gegenwärtig ist und zugleich historisch. Die damalige Zeit wird greifbarer und das Historische zugleich mit Schwarzweißbildern aus jener Zeit immer wieder gezeigt, wobei die alten Aufnahmen mit den neuen harmonieren. Es ist alles aus einem Guss und zugleich permanent im Fluss. Die bewegenden und bewegten Bilder erinnern an die Nouvelle Vague, mit deren Bildsprache Graf filmisch sozialisiert wurde. Es ist streckenweise so, als würde man „Jules und Jim“ (1962) noch einmal zuschauen. Dabei wird aber die Zweierbeziehung von Fabian und Cornelia nur zu einem platonischen Liebesdreieck, denn Stephan wird nicht aktiv. Er sucht sich seine Befriedigung in Bordellen und bezahlt für seine Liebe. Wenn er sich wirklich einmal ein wenig verliebt, dann taucht kurz sein Vater (Michael Wittenborn), der sich sonst nicht für ihn zu interessieren scheint, mit dieser Frau, die sich vergeblich hinter ihm zu verstecken versucht, im Schlepptau auf.

Die erste gemeinsame Nacht

Natürlich gibt es auch filmische Zitate aus der Stummfilmzeit. Wenn der Filmproduzent Makart (Aljoscha Stadelmann) zum ersten Mal auftaucht, sehen wir eine Kreisblende und der Dialog wird in Form einer Schrifttafel eingeblendet. Das geschieht nur kurz, aber effizient. Die Szenen mit den drei Freunden am Wasser erinnern deutlich an „Menschen am Sonntag“ (1930), einen der letzten und zugleich einflussreichsten deutschen Stummfilme, welcher nur mit Laiendarstellern realisiert wurde und dadurch über eine ungeheure Authentizität verfügt. Einige Aufnahmen scheinen direkt übernommen. Auch dort sind die Paare nicht fest determiniert und der Sex findet klar statt, wenn auch außerhalb des Kamerabildes. Die drei Spieler schaffen es scheinbar mühelos, dieses authentische Laienspiel zu adaptieren. Graf zeigt sich hier als jemand, der mit der gesamten Filmgeschichte zu jonglieren vermag, ohne dabei das eigentliche Werk aus den Augen zu verlieren. Auch Wolf Gremms Verfilmung von „Fabian“ (1980) wird beiläufig im Film zitiert. Diese Kunstfertigkeit und das Spiel mit einem weit gestreuten Filmwissen bekommen dem filmischen Resultat hervorragend.

Menschen am Sonntag

Die Geschichte von Irene Moll (Meret Becker), die sich parallel zu der von Fabian entfaltet und immer wieder zu Begegnungen der beiden führt, gefällt ebenfalls durch ihre effiziente Beiläufigkeit. Am Anfang steht ein scheinbarer Bordellbesuch von Fabian, aber Irenes Interesse an ihm geht über das einer Prostituierten weit hinaus. Sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Ihr Ehemann soll dem Verkehr zwischen beiden zustimmen und möchte Fabian nicht nur besser kennenlernen, sondern sogar dafür bezahlen, dass er mit seiner Frau schläft. Später betreibt sie ein Männerbordell für reiche Frauen und bei ihrer letzten Begegnung bietet sie ihm an, sie nach Prag oder Wien zu begleiten. Sie habe 100.000 Mark dabei, also genug Geld für sie beide. Fabian lehnt ab. Ein wenig ist Irene die Parallele zu Makart. Die Reichen leisten sich junge Menschen, um sich zu befriedigen. Meret Becker spielt sehr gut und wurde sogar für den Deutschen Filmpreis nominiert. Für ihre Rolle als halbwahnsinnige Polizistenwitwe in Grafs „Die Sieger“ (1994) bekam sie den Bayerischen Filmpreis als beste Nebendarstellerin. Auch dort wird sie über ihre sexuelle Gier definiert. Aber hier vermag sie darüber hinaus als emanzipierte, starke Frau zu überzeugen, die, im Gegensatz zu Fabian und Cornelia, sehr genau weiß, was sie will.

Ton Tauben Scherben

Der ziellose Fabian versucht seinen ebenso ziellosen Freund Stephan zu domestizieren, indem er ihn zwingt, endlich seine Doktorarbeit abzugeben. Und weil dieser Opfer eines „Scherzes“ wird und glaubt, dass sie nicht angenommen worden ist, tötet er sich letztendlich, was Fabian dazu motiviert, noch einmal nach Hause, nach Dresden, zu seinen Eltern (Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann) zu fahren. Dort, in der Ruhe, versucht er, zu sich zu finden. Nun war Dresden mit über 640.000 Einwohnern 1931 alles andere als beschaulich. Graf benutzt die eigentlich große Stadt, um einen Gegensatz zwischen Stadt und Land zu konstruieren, ist sich aber dieser Konstruiertheit sehr wohl bewusst. Als Fabian endlich eine Entscheidung fällt und Cornelia wiedersehen möchte, stirbt er, weil er nicht schwimmen kann. Dieses Nichtschwimmer-Motiv zieht sich durch den ganzen Film. Immer wieder gibt es Schilder oder andere, subtile Anspielungen darauf. Das Ende ist immer nah. Und wenn es dann kommt, dann wird Cornelia trotzdem auf ihn warten. Jeden Tag, bis er im Café „Spalteholz“ wieder auftauchen wird. Und das wird er irgendwann, denn wie heißt es bei Kästner am Anfang, bei Graf in der Mitte und bei mir am Schluss:

Freunde …

„Soll ich hingehen oder nicht?“
„Wohin meinen der Herr?“
„Sie sollen nicht fragen. Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder nicht?“
Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: „Das beste wird sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr.“
Fabian nickte. „Gut. Ich werde hingehen. Zahlen.“
„Aber ich habe Ihnen doch abgeraten?“
„Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen.“
„Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?“
„Dann auch. Bitte zahlen!“
„Das versteh ich nicht“, erklärte der Kellner ärgerlich. „Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?“
„Wenn ich das wüßte“, antwortete Fabian.

… für immer Freunde

Die Bildqualität der Veröffentlichung ist exzellent, aber manchmal in den dunklen Szenen sehr körnig, weil sichtbar oft ohne Zusatzlicht gearbeitet wurde. Dazu kommt unterschiedliches Filmmaterial: digitale Kamera, Super8 und historisches Bildmaterial. Das Format ist das damalige Kinoformat. Dafür musste bei den digitalen Aufnahmen links und rechts abgekascht werden, damit es funktioniert. Aber es trifft den Geist jener Jahre sehr gut.

Sachliche Romanze

Die Extras der Blu-ray sind wenige, aber dafür äußerst zielführend. Der Audiokommentar von Graf ist klug und reflektiert. Das liegt natürlich auch an den adäquaten Fragen, welche sein Gesprächspartner Michael Klier aufwirft (siehe den ergänzenden Kommentar des Regisseurs unter diesem Text; zuvor war uns der Name nicht bekannt. Anm. des Blogbetreibers). Der Dialog zwischen den beiden erweitert tatsächlich einmal das Seherlebnis und man sollte ihn sich anhören, denn es lohnt sich sehr.

99 Luftballons

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dominik Graf haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Tom Schilling unter Schauspieler.

Ein letzter Blick

Veröffentlichung: 14. Januar 2022 als Blu-ray und DVD, 7. Januar 2022 als Video on Demand

Länge: 186 Min. (Blu-ray), 179 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Fabian oder der Gang vor die Hunde
D 2021
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Constantin Lieb, Dominik Graf, nach Erich Kästners Roman „Der Gang vor die Hunde“
Besetzung: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Eva Medusa Gühne, Luise Aschenbrenner, Julia Blankenburg, Thomas Dehler, Lisa Hoffmann, Kris Kwiat, Damian Thüne
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Regisseur Dominik Graf, Making-of, Wendecover
Label: DCM
Vertrieb: Leonine

Copyright 2021 by Lars Johansen

Szenenfotos, Packshot & Plakat: © 2021 DCM / Lupa Film, Szenenfotos auch: © 2021 Hanno Lentz

 
 

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4 Antworten zu “Fabian oder der Gang vor die Hunde – Kästner für Kenner

  1. Christoph Wolf

    2022/02/03 at 23:38

    Auch hier wieder eine großartige Würdigung eines herausragenden Filmes.

     
  2. Tonio Klein

    2022/02/03 at 11:42

    „Graf zeigt sich hier als jemand, der mit der gesamten Filmgeschichte zu jonglieren vermag, ohne dabei das eigentliche Werk aus den Augen zu verlieren.“ Ich weiß nicht, ob das Deine Intention war, aber wenn es einen essenziellen Satz gibt, dann diesen. Ob’s der Tarantino gelesen hat, der m. E. diese Quadratur des Kreises nicht so gut hinbekommt? Wie dem auch sei, toller Text!

     
  3. Dominik Graf

    2022/02/03 at 11:37

    Der Gesprächspartner beim Audiokommentar ist Michael Klier.

     
    • V. Beautifulmountain

      2022/02/03 at 12:03

      Hallo Herr Graf,

      da freue ich mich aber, dass Sie meinen Blog wahrnehmen. Herzlichen Dank für die Ergänzung, die ich im Namen meines Autors sogleich eingebaut habe.

      Freundliche Grüße aus Hamburg,
      Volker Schönenberger

       

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