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In den Gängen – Staplerballett und zarte Großmarkt-Romanze

21 Mai

In den Gängen

Kinostart: 24. Mai 2018

Von Volker Schönenberger

Drama // Bringen wir den unvermeidlichen Kalauer gleich zu Anfang hinter uns: In „In den Gängen“ spielen Gabelstapler eine tragende Rolle. Sie tun es in der Tat in dem Großmarkt in der ostdeutschen Provinz, wo Christian (Franz Rogowski) seinen neuen Job als Regaleinräumer antritt. Einen blauen Kittel kriegt er, ein paar Kugelschreiber in die Brusttasche und einen Cutter – fertig ist die Laube. Die tätowierten Arme müssen natürlich unter langen Ärmeln verborgen bleiben, gibt ihm sein Boss gleich mit auf den Weg.

Bruno (l.) und Christian „machen 15“

Christian wird der Getränkeabteilung von Bruno (Peter Kurth) zugeteilt. Der gibt sich anfangs grantig, aber schnell zeigt sich, dass man mit ihm gut auskommen kann – vor allem, wenn es mal wieder „Ich mach 15“ heißt, dann ist Zigarettenpause angesagt. Rauchen ist im Betrieb natürlich verboten, lernt Christian sogleich. Aber da der Chef es ebenfalls tut, schert man sich wenig drum. Zur Not wird eben auf der Toilette geschmökt. Ebenfalls – streng! – verboten ist es, sich bei den Lebensmitteln mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum zu bedienen, die nun auch Christian in die Müllcontainer befördern soll. Trotzdem tut es jeder, und das mehr oder weniger auffällig. Bei solch kleinen Vergehen drückt die Marktleitung offenbar ein Auge zu, sofern ansonsten der Laden läuft.

Der aus „Getränke“ und die aus „Süßwaren“

Der schüchterne und wortkarge Christian fügt sich gut ein und packt bei den Getränkekisten fleißig an – fleißiger als Bruno allemal. Nur bei den Gabelstaplern stellt er sich anfangs nicht sehr geschickt an, weder beim Handgabelhubwagen noch beim Elektro-Deichselstapler oder gar auf Brunos Schubmaststapler. Dafür wirft er bald ein Auge auf Marion (Sandra Hüller, „Toni Erdmann“), die in den benachbarten Süßwaren-Gängen arbeitet. Auch sie findet Gefallen am „Frischling“, wie sie Christian gern neckt. Doch Bruno klärt seinen Kollegen auf: Marion ist verheiratet. Ihr Mann sei zwar nicht gut zu ihr, aber dennoch …

Regisseur Thomas Stuber („Teenage Angst“) beginnt sein Melodram aus der tristen ostdeutschen Provinz denkbar frech: Zu den Klängen des Donauwalzers („An der schönen blauen Donau“) von Johann Strauss sehen wir Gabelstapler durch die Gänge des Großmarkts huschen – ein Schelm, wer dabei an Stanley Kubricks „2001 – Odysee im Weltraum“ denkt. Später wird Stuber auch mal derber: Als Christian Unterricht nimmt, um den Staplerschein zu machen, zeigt der Lehrer seinen Schülern zur Erbauung und als abschreckendes Beispiel natürlich den legendären Kurzfilm „Staplerfahrer Klaus – Der erste Arbeitstag“. Das „In den Gängen“-Publikum bekommt daraus gar einige der heftigen Splatterszenen zu sehen.

Kurzgeschichte eines Staplerfahrers

Ansonsten zeigt sich „In den Gängen“ mit viel Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass Stubers Ko-Drehbuchautor Clemens Meyer selbst drei Jahre lang als Staplerfahrer in einem Großmarkt gearbeitet hat. Seine Erfahrungen dort verarbeitete er in der Kurzgeschichte, aus der er und Stuber später das Skript für „In den Gängen“ machten. Hoch anzurechnen ist es den beiden dann auch, dass sie keine einzige Nebenfigur bloßstellen und niedermachen – nicht einmal den Kollegen, der sich bei der Weihnachtsfeier vor den Toren des Großmarkts einen Heizlüfter hinstellen lässt, um sich mitten im Spätherbst nur in Unterhose bekleidet auf der Liege niederzulassen. Diese Extravaganz quittieren seine Kollegen alsbald mit einer gehörigen Dosis Deospray, und dennoch sind dort keine Knallchargen am Werk, sondern Menschen.

Der Frischling zeigt sich fleißig

Besonders viel Gefühl gibt Stuber der zarten Romanze zwischen Christian und Marion mit. Beim ersten Wortwechsel der beiden im Pausenraum lässt der Regisseur die Kamera ganz nah an Marions Gesicht heranfahren, sodass wir ihrer Mundwinkel und ihrer kleinen Ohrringe sehr gut gewahr werden. Solche Nahaufnahmen meidet Stuber ansonsten, aber in diesem kurzen Moment sollen wir Marion offenbar so nah sein, wie es Christian auch gern wäre. Der Protagonist redet nicht viel, wie Bruno gleich zu Anfang bemerkte. Das mag an seinem leichten Sprachfehler liegen, verursacht durch die Lippenspalte, die er hat – ein Merkmal, übernommen von Christian-Darsteller Franz Rogowski. Das Filmpublikum hört den neuen Mitarbeiter etwas häufiger, als das seine Kollegen tun, da seine Figur ab und zu als Stimme aus dem Off zu uns spricht.

Vom VEB Fernverkehr nahtlos in den Großmarkt

„In den Gängen“ zeigt einen Mikrokosmos von Kolleginnen und Kollegen. Dass Christian Interesse an Marion hat und sie an ihm, bekommen die anderen schnell mit. Es gibt ein wenig Gerede, aber keine Häme, denn grundsätzlich hält man zusammen. Hier geht es um Beziehungen, dann aber auch um die Arbeitswelt und die Bedingungen im Niedriglohnsektor, wo das Höchste der Gefühle nach Feierabend ein Bierchen darstellt und man sich ansonsten in seine triste Wohnung in der Plattenbausiedlung oder sein im Verfall begriffenes Häuschen zurückzieht. Die Wende wird Thema – Bruno und seine Kollegen derselben Altersklasse waren vormals am selben Ort im VEB Fernverkehr als Lkw-Fahrer tätig und wurden später nahtlos in den Großmarktbetrieb übernommen. Speziell Bruno vermisst die Straße, wie er Christian einmal beim Bier verrät. Doch alles lässt er nicht aus sich heraus, wie sich eines Tages zeigt. Vereinsamung fordert ihren Tribut.

Auffällig: Die Themen Migration und Fremdenfeindlichkeit kommen überhaupt nicht vor. Obwohl gerade bei Anlernjobs viele ungelernte Kräfte mit Migrationshintergrund eingesetzt werden (zumal deren Ausbildungen hierzulande oft nicht anerkannt werden), sind sie „In den Gängen“ nicht anzutreffen. Der Film ist im Hier und Heute angesiedelt, die Handlung könnte sich aber auch kurz nach der Jahrtausendwende abspielen. Weshalb Meyer und Stuber diese Themen so konsequent umschiffen, berichtete mir der Regisseur auf Nachfrage: Es sei ihnen eine Erzählschicht zu viel gewesen. Eine legitime Haltung. „In den Gängen“ ist rund, so wie er ist, und nimmt sich Zeit für die Themen, an denen Meyer und Stuber dafür nun mal lag.

Marion aus den Süßwaren hat es ihm angetan

Wir haben es mit einem Ensemblefilm zu tun, in dem jede einzelne Figur treffend porträtiert ist, und doch stechen Peter Kurth, Sandra Hüller und Franz Rogowski heraus – verständlich, da auf ihnen der Fokus liegt. Dem erfahrenen Peter Kurth („Herbert“, „Good Bye, Lenin“) konnte Thomas Stuber natürlich blindlings vertrauen, und auch der 2006 bei der Berlinale mit einem Silbernen Bären für „Requiem“ prämierten Sandra Hüller gelingt es scheinbar mühelos, ihrer Marion mit feinen Nuancen Profil zu verleihen, sie an uns zu binden und doch auf Distanz zu halten.

Shooting Star Franz Rogowski

An Franz Rogowski („Victoria“, 2015) schließlich werden der deutsche Film und die deutschen Bühnen in den kommenden Jahren kaum noch vorbeikommen. Auf der Berlinale 2018 war er außer in „In den Gängen“ auch in Christian Petzolds Flüchtlingsdrama „Transit“ zu sehen. Rogowski wurde dort als Shooting Star geehrt. „In den Gängen“ selbst erhielt auf dem Festival in der Bundeshauptstadt den Gilde-Filmpreis und den Preis der ökumenischen Jury. Nicht wenige hätten Stubers Drama auch den Goldenen Bären gegönnt, aber der ging schließlich an den Experimentalfilm „Touch Me Not“ der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie. An der Klasse von „In den Gängen“ ändert das nichts.

Abschließend ein Wort in eigener Sache: Für mich war es faszinierend, mit der Beschäftigung mit „In den Gängen“ zwei meiner derzeitigen Tätigkeiten miteinander verbinden zu können: mein Dasein als Filmblogger und meine Arbeit für die Jungheinrich AG im Bereich der Sozialen Medien. Dass es ausgerechnet Jungheinrich-Stapler sind, die in Thomas Stubers Drama durch die Gänge kurven, ist reiner Zufall – jedenfalls habe ich damit nichts zu tun. An meiner Einordnung von „In den Gängen“ als feinfühliges und lakonisches Kleinod des deutschen Kinos hätte es aber auch nichts geändert, wären es Gabelstapler eines anderen Herstellers gewesen. Erlaubt mir die Freude daran. Und auf das nächste Projekt von Thomas Stuber und Clemens Meyer können wir uns auch freuen. Die beiden arbeiten bereits daran, wie mir der Regisseur verriet.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Sandra Hüller haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Franz Rogowski unter Schauspieler.

Endlich darf Christian den Schubmaststapler lenken

Länge: 125 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Originaltitel: In den Gängen
Internationaler Titel: In the Aisles
D 2017
Regie: Thomas Stuber
Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber, nach Clemens Meyers Kurzgeschichte
Besetzung: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Henning Peker, Ramona Kunze-Libnow, Andreas Leupold, Gerdy Zint, Steffen Scheumann, Michael Specht
Verleih: Zorro Film / 24 Bilder

Copyright 2018 by Volker Schönenberger

Filmplakat & Trailer: © 2018 Zorro Film / 24 Bilder, Fotos: © 2018 Sommerhaus Filmproduktion

 

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