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Sidney Lumet (VI): Der Mann in der Schlangenhaut – Von grausamen Ver- und Enthüllungen

02 Sept

The Fugitive Kind

Von Tonio Klein

Drama // Niemand kann aus seiner Haut. Aber einer versucht es doch, und er weiß, dass das schmerzhaft sein wird, darum hat er sich einen Schutzpanzer zugelegt, den allegorischen Mantel aus Schlangenhaut. Es handelt sich um Val (Marlon Brando), mit dreißig noch wie ein junger Wilder aussehend, aber als solcher ist er ein ums andere Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und will ein neues Leben beginnen, an einem neuen Ort. In der Anfangsszene spricht er zu einem nicht sichtbaren Richter und damit zu uns; wir identifizieren uns sofort mit dem Mann oder fühlen zumindest mit, haben eine Ahnung von seiner Motivation, und dass es ihm mit seinen Vorsätzen ernst ist.

Es soll aber nicht sein: Zu Beginn wird er aus einer Zelle in einem Wohnhaus geholt, wie man das bei Dorfsheriffs halt so hat. Zu Beginn seines neuen Lebens bekommt er in einer anderen Stadt in einer ebensolchen Zelle Obdach. Diese fiktive Kleinstadt befindet sich in Mississippi, und sie fährt an Rassismus, Bigotterie und gebrochenen/eingezwängten Seelen alles auf, was ein saftiges Theaterstück von Tennessee Williams zu bieten hat.

Die liederliche Carol und Lady Torrance

Erst einmal beschäftigt sich Val mit der gleichsam vulgären wie zerbrechlichen Carol Cutrere (Joanne Woodward), bevor die von allen „Lady“ genannte italienischstämmige Mrs. Torrance (Anna Magnani) ins Zentrum des Geschehens rückt. Obschon älter als Val, fühlt sie sich von ihm angezogen. Er erzählt ihr eine Geschichte von Vögeln, die keine Beine haben und niemals auf der Erde landen können, außer zum Sterben. Das erinnert an eine andere Williams-Metapher, an die Katze, die immer dazu verurteilt ist, auf dem heißen Blechdach zu tanzen. Es passt hie wie dort. Es geht um ruhelose Menschen, und wir ahnen, dass zumindest einige der Protagonisten beim Versuch, ihren Landepunkt zu finden, sterben müssen. Val hat seine Schlangenhaut, Lady hat den Mantel der Ehe gewählt, mit dem sadistischen und nun kranken Jabe (Victor Jory), der sie nie und den sie nie geliebt hat. Sie hat sich verkauft, sie hat alle Demütigungen ertragen. Sie lebt in einem nicht mal goldenen Käfig, so wie die erwähnten Zellen für Val gleichsam Schutz wie Zwang bedeuten. Auch Gegenstände in dem Laden der Torrances, in dem Val nun arbeitet, bilden oft Gittermuster vor ihm.

Carol hingegen schreit ihre Liederlichkeit demonstrativ heraus, um nicht zu werden wie der ganze Ort, in dem sich jeder auf die eine oder andere Weise verkauft. Darin neigt Woodward ein wenig zum Overacting; Styling und meterdicker Kajalstift tun ihr Übriges, um sie als zerbrechlich, wenn nicht schon zerbrochen, also „kaputt“, zu zeigen. Die Stimme: fast immer laut, aggressiv, geradeheraus, oft schreiend, dadurch wenig moduliert. Schade, dabei kann es Woodward doch besser! Glaubt man Wikipedia, so ist diese Überzeichnung eine Antwort auf die Frage, warum Val sich nicht Carol, sondern Lady zuwendet. Wenn Carol dadurch weniger Empathie wecken sollte, so ist den Machern das zu Beginn des Filmes gelungen. Es schwächt aber auch die erste halbe Stunde, in der die beiden zusammen sind und Lady noch gar nicht vorkommt. Im Kopf verstehen können wir schon, dass sich der Außenseiter zu der Außenseiterin hingezogen fühlt. Vom Bauchgefühl her aber funktioniert die Paarung nicht so gut. Erst kurz vor Schluss dieses Teiles spüren wir Carols Zerbrechlichkeit voll und ganz, und der Tod wirft erstmals Licht und Schatten voraus, auf einem Friedhof. Oftmals noch sehen wir eine irreale Beleuchtung, eine starke Lichtquelle, die ihre Strahlen durch ein Dickicht wirft, aber nicht so recht durchzukommen scheint. Und der Tod ist sowieso allgegenwärtig, in der Friedhofsszene, in der Metapher der Vögel ohne Beine, in der Erzählung, wie Ladys Vater zu Tode gekommen war, in der Figur des todkranken Jabe, dessen Libido übrigens ebenfalls tot zu sein scheint.

Verkommene Dörfler

Lady will aber endlich leben, aus ihrem Leben als lebende Tote ausbrechen, was mit Val sogar trotz nicht nur des Unterschieds im Alter für einen Moment möglich scheint. Statt aber ausschließlich nach vorn zu schauen, will sie ein Unrecht der lange zurückliegenden Vergangenheit wieder geraderücken. Wir ahnen, dass dies in der fast schon auf überzeichnete Weise verkommenen Dorfgemeinschaft nicht möglich ist, wünschen es Lady aber dennoch: Vor Jahren hatte ein Mob die Gaststätte ihres Vaters angezündet („Er hatte einen Fehler gemacht, er hatte Niggern Whiskey verkauft“), und der ganze Ort hatte sich geweigert, die Flammen zu löschen, sodass Ladys Vater beim aussichtslosen Versuch, dieses zu tun, umkam. Nun hat Lady an den Laden ihres Mannes eine Gaststätte angebaut und selbst gestaltet; in einer seltsamen, leicht kitschigen, aber doch märchenhaften Schönheit. Man merkt, das ist in jeglichem Sinne „ihr Traum“. Und sie ist zu allem entschlossen bei dem Wunsch, dieses Lokal auch zu eröffnen.

Zu viel Methode beim Method Actor

Anna Magnani: Beim Dreh 51 Jahre alt, immer noch schön und von wilder Entschlossenheit, hinter der aber auch Traurigkeit und Verbitterung stecken. Die Kamera beschönigt ihre Fältchen nicht, liebt sie aber dennoch oder auch deswegen ungemein, was man gerade im Schuss-Gegenschuss mit Jabe spürt, bei dem eine ausgesprochen harte, kontrastreiche Fotografie jede Gesichtsunebenheit und jede Schweißperle betont. Marlon Brando: Der Wilde ist nachdenklich geworden, ist dies von Anfang an, ist ein Bedächtiger, zunächst Unentschlossener, der erst einmal alles beobachtet, in sich aufnimmt und verarbeitet, bevor er handelt. Dies lässt ihn sanfter, sympathischer und ambivalenter erscheinen, und Brando spielt das einzigartig aus – vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Man hat das Gefühl, er will sich einfach nur perfekt in Szene setzen; allein diese Szene mit seinem Empfehlungsschreiben: Ob er eines habe, fragt Lady. Ja, habe er. Und dann kramt Brando ewig in seiner Hosentasche herum, holt einen völlig verknitterten Briefumschlag heraus, braucht ewig, um ihn mehr schlecht als recht zu entknittern … Hier ist Brando nicht mehr Val, hier ist er nur noch Brando (und zeigt, dass „die Methode“ des Method Acting gelegentlich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken soll).

Allzu schlimm ist das nicht. Die gewagte Paarung Brando/Magnani (neben dem Altersunterschied auch völlig verschiedene Schauspielstile; Magnani war nie klassisch ausgebildet worden, konnte nicht besonders gut Englisch und hatte halt entweder eine magische Präsenz oder nicht) kann durchaus faszinieren. Magnani/Lady würde ich vorziehen, weil sie letztlich die größere Bandbreite in Schauspielkunst wie Charakter der Figur hat, vom abgehärteten, stillen Erdulden über Trauer und Wut bis schließlich zum trotzigen Aufbegehren, in das sich neben gerechtem Zorn auch aggressiver Hass mischt. Brando ist sehr gut, aber sein Spiel ist ab und an als Masche durchschaubar. Woodward wurde leider über weite Strecken verheizt, auch wenn ihre Figur – gerade gegen Ende und besonders in der allerletzten Szene – bei weitem nicht so abstoßend ist, wie es zu Beginn scheint. Regisseur Sidney Lumet inszeniert nach den Regeln der Kunst, der Stoff ist anspruchsvoll. Dennoch: Lange Zeit konnte ich das alles zwar intellektuell würdigen, fragte mich aber, warum mich diese verkommenen, aus vielen Williams-Stücken bekannten und hier teils recht dick aufgetragenen Figuren begeistern sollten. Die große Anteilnahme kommt im letzten Akt, wenn es mit Ladys geplanter Restaurant-Eröffnung auf den dramatischen Höhepunkt zusteuert. Warum man ihr unbedingt wünscht, dass ihr Traum in Erfüllung gehe, habe ich hoffentlich hinlänglich deutlich gemacht, und dies können das Spiel der Magnani, die Erzählung und die filmische Gestaltung mit dem „märchenhaften“ Aspekt des Restaurants wunderbar transportieren. Was aus dem Traum wird, ist ohne Spoiler nicht zu schildern, man überspringe gegebenenfalls den nächsten Absatz.

Warnung vor dem Spoiler

Die Hoffnungen werden bitter enttäuscht, wenn Lady am Ende erkennen muss: Jabe war beim Mob dabeigewesen. Das fällt auf sie zurück. Seine Mitschuld hätte sie meines Erachtens ahnen oder wissen können, wenn sie sich nicht wegen ihres Sicherheitsbedürfnisses den Erstbesten ohne genaues Nachdenken genommen hätte. Da ist Williams wunderbar ambivalent, und es erweist sich endgültig, dass seine Lady keine ausschließlich positiv konnotierte Figur ist. Nein, in dieser selbst mitverschuldeten schicksalhaften Verstrickung steckt, in der Figur der Lady steckt die ganze Wucht einer Tragödie. Mehr darf nun wirklich nicht verraten werden, nur: Vielleicht gelingt dem einen oder anderen die Häutung ja. Die Schlangenhaut wird jedenfalls in der Schlussszene eine schöne Bedeutung erfahren.

Fazit: Etwas zu saftige Williams-Adaption mit kleinen Problemchen bei zwei von drei Hauptfiguren/-darstellern, die gegen Ende immer besser wird und nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen und im Bauch begeistern kann.

Die deutsche DVD ist vergriffen, findet sich auf dem Gebraucht- und Sammlermarkt nicht mehr ganz billig. Des Englischen Mächtige und mit Codefree-Player ausgestattete Filmgucker seien auf die US-Veröffentlichung von „The Criterion Collection“ hingewiesen. Damit macht nichts falsch, wer auf deutsche Synchronisation keinen Wert legt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Joanne Woodward unter Schauspielerinnen, Filme mit Marlon Brando in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 3. Dezember 2012 als DVD

Länge: 117 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: The Fugitive Kind
USA 1960
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Tennessee Williams, Meade Roberts, nach Williams’ Bühnenstück
Besetzung: Marlon Brando, Anna Magnani, Joanne Woodward, Maureen Stapleton, Victor Jory, R. G. Armstrong, Virgilia Chew
Zusatzmaterial: Wendecover
Label/Vertrieb: KSM GmbH

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshots: © 2012 KSM GmbH

 

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