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Sidney Lumet (XI): Prince of the City – Die Herren der Stadt: Die Bestechlichen

Prince of the City

Von Tonio Klein

Krimidrama // 2015 kam mit J. C. Chandors „A Most Violent Year“ ein Film in die Kinos, der das verbrechergeschwängerte New York City des Jahres 1981 noch einmal aufleben lässt. „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ hingegen entstammt jenem Jahr und brauchte nur in die zeitgenössische Wirklichkeit zu gehen. Die Stadt, in der das Drogengeschäft nie schläft, ist ein Sumpf, die Gangster unterscheiden sich kaum von den Cops, und die „Helden“ der Drogenfahndung sind die „Prinzen“ der Stadt. Vor allem Danny Ciello (Treat Williams), schon in jungen Jahren Gruppenleiter, der seine fixenden Informanten mit Stoff und die etwas höherrangigen Tippgeber mit Geld versorgt. Von dem einen oder anderen Drogen-/Geldfund zwackt er etwas für seine Partner und sich ab. Das Schweigegelübde der Omertà gibt es nicht nur bei den Mafiosi, zu denen sein Cousin Nick Napoli (Ronald Maccone) zählt. Das gibt es auch bei den Cops mit Co(r)p(s)geist, bei denen die Verbundenheit zum Partner über alles geht.

Ideale und Wirklichkeit

Schon früh in diesem sehr langen Krimidrama merkt Ciello indes, dass er seine Ideale verraten hat (der fixende Bruder klagt das Kartell zu Recht an, der Vater stimmt zu und das Elend der Fixer wird Ciello wie uns eindringlich vor Augen geführt). Diese Ideale hatte er nämlich mal, als er Polizist geworden war. Nun wird er eine „Ratte“, ein Spitzel. Dabei versucht er eine Gratwanderung, die von Anfang an nahezu aussichtslos erscheint. Erstens: Seine neuen Chefs stellen die Bedingung, dass er zunächst ausnahmslos all seine Vergehen der vergangenen elf Jahre Drogenfahndung beichtet; wenn er etwas verschwiege, würde dies in Gerichtsverfahren enorm schaden und er könne keine Rückendeckung mehr bekommen. Wir ahnen, dass er diese Bedingung zunächst nicht erfüllt. Zweitens: Ciello fordert, seine (Ex-)Partner nicht belasten zu müssen, denen auch anderweitig nicht an den Kragen gegangen werde. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Wir ahnen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit werden wird. Ciello wird lernen müssen, die gesamten Konsequenzen seines Handelns auszuhalten.

Aussagen oder aussteigen?

Dies wird ein schmerzhafter Prozess werden. Fritz Göttler bezeichnet „Prince of the City“ als „einen Krankenbericht …, das Protokoll eines langsamen Heilungsprozesses, mühsam und quälend, zweidreiviertel Stunden lang.“ Dieser ist auch religiös. Mehrfach betont der Film, dass Ciello und eigentlich alle Spitzel das Bedürfnis hätten, „sich zu erleichtern“ und „sich zu reinigen“. Was Ciello zweidreiviertel Stunden widerfährt, ist im Grunde das Fegefeuer, welches schmerzhaft ist, nichts und niemanden verschont, aber Absolution in Aussicht stellt. Angelehnt an eine wahre Geschichte, macht Lumet es sich nicht einfach und ist fernab von einem Gut-gegen-böse-Kampf. Polizisten, denen man als Kleinganove oder unbescholtener Bürger mit der „falschen“ Hautfarbe lieber nicht begegnen möchte, werden alles andere als ausschließlich negativ dargestellt; die eiserne Partner-Loyalität hat durchaus ihr Gutes. Und auf der Seite der Staatsanwälte gibt es ein paar veritable Ekelpakete, die ihren neuen und sehr wertvollen Spitzel fallen lassen würden wie eine heiße Kartoffel, wenn es gerade opportun erscheint. Oder eine FBI-Rückendeckung, die ihren Job mehr schlecht als recht macht, sodass keiner dieser Beamten, sondern ausgerechnet Ciellos Mafia-Cousin ihm das Leben rettet, als es einmal brenzlig wird.

Allein mit der Mafia

Lumet übertreibt es sogar ein bisschen in diese Richtung, wenn er in einer Parallelmontage am Ende (Entscheidung, ob gegen Ciello Anklage erhoben wird / Berufungsverfahren gegen einen Mann, in dem entschieden wird, ob dessen Verurteilung wegen Ciellos nun zugegebener Lügen neu aufgerollt wird) Folgendes betont: Alle, die Ciello wohlgesinnt sind, sind sympathisch, und umgekehrt. Zu letzterer Kategorie zählt ein aalglatter und sadistischer Jurist (allein die vorherige Demütigung, einen Ex-Informanten zu laden, der Ciello ins Gesicht spuckt), der betont, schon in der vierten Generation Jurist zu sein und daran zu glauben, dass das System bereits beim allerkleinsten menschlichen Fehler korrumpiert sei. Hier ist Sidney Lumet, der Regisseur großer Justizfilme, in seinem Element, hat seine an sich gute Kritik jedoch etwas überpointiert vortragen lassen.

Jedes Haus hat seinen Preis

Solcher Einwände zum Trotz ist dies ein großartiger Film, der Ciello keinesfalls als Helden dastehen lässt und anschaulich seine wachsende Unsicherheit und Verzweiflung demonstriert, gerade im nachdenklichen Schlussbild. Oder wenn das gesamte Gehabe der Cops letztlich als Wunsch nach Spießbürgerlichkeit entlarvt wird, weil sie alle dem Verbrechersumpf zeitweilig entfliehen wollen mit ihren Häuschen mit Garten, Gattinnen, Kindern, Grillfesten. Am Anfang klagt Ciellos Bruder Ronnie (Matthew Laurance) dieses Leben lauthals an, ziemlich gegen Ende „dürfen“ Ciello, seine Frau Carla (Lindsay Crouse) und ihre Kinder in genau so einem Traumhaus in einer ruhigen Gegend Virginias leben, wenn auch im Zeugenschutzprogramm mit Bodyguards immer und überall. „So ein Haus habe ich mir immer gewünscht. Aber nicht zu diesem Preis“, so die Ehefrau. Die Kamera wählt dunkle Farben und gedeckte Beleuchtung, ist oft statisch, zeigt die eigentlich schöne Naturgegend als undurchdringliches Dickicht, in dem nicht mal ein Junge ein Eichhörnchen abknallen kann (wie man das im ländlichen Amerika halt so macht …), ohne dass dies verständlicherweise einen Riesenwirbel der Bodyguards auslöst.

Stil: Form follows function

Lumet war „Prince of the City“ offensichtlich eine Herzensangelegenheit, er gibt alles, er riskiert auch alles (wobei ihm aber sein Talent zugute kam, mit geringen Budgets zu arbeiten und diese dann auch noch zu unterschreiten; da ließ das Studio ihn eben gewähren). Er wollte unbedingt unbekannte Darsteller, die nicht von der Geschichte ablenken. Treat Williams („Hair“) als Ciello ist glänzend; zwischen Härte und Verletzlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Selbstzweifel, amüsiertem Spiel (als das ihm das Mikrotragen zunächst vorkommt, wobei er ganz gern etwas riskiert und mehr und mehr Aufträge will, wie ein Zocker) und bitterem Ernst. Lumet wollte des Weiteren Überlänge, und seine Regiearbeit langweilt keine Minute. Er und Williams wollten und bekamen die Möglichkeit penibler Vorbereitung inklusive dreiwöchiger Hospitation auf einem Polizeirevier. Er wollte darüber hinaus eine vielschichtige Geschichte erzählen, was ihm gelang. Er wollte allerdings, typisch Lumet, nicht eine Eins-zu-eins-Abbildung der Wirklichkeit, und das ist prima. Er erzählt durchaus etwas Wahres, aber mit den Mitteln des Dramas und der filmischen Gestaltung. In seinem hierzulande 1996 veröffentlichten Buch „Filme machen“ berichtet er über diesmal besonders komplexe Ideen, was Brennweiten und Belichtung und Bildausschnitte betrifft. Der Himmel sollte nie sichtbar sein (klappte fast immer), außer in einer Szene besonderer Verzweiflung Ciellos, in der er darüber nachdenkt, durch eigene Hand in selbigen (oder in die Hölle?) abzutreten. Die Brennweiten sollten so sein, dass Räume entweder gestreckt werden (Weitwinkel), oder gestaucht (Tele). Nichts sieht normal aus in dieser verrückten Welt.

Blauer Himmel und Ciellos Hölle

Bei Weitwinkelaufnahmen gibt es oft Tiefenschärfe (Räume sind groß, kalt, hart, unbarmherzig, distanzierend gegenüber den Personen, Dinge im Vordergrund sind unnatürlich groß, zum Beispiel eine kalte, nasse Straße, wenn Lumet seine Fotografie mieser New Yorker Gegenden mit Froschperspektive kombiniert).
Bei den Tele-Aufnahmen (eher gegen Ende) gibt es oft geringe Tiefenschärfe (Menschen wirken in diffusen Räumen isoliert, so wie der Film sich gegen Ende stärker vom äußeren Geschehen darauf verlagert, was das alles in Ciello anrichtet). Die tiefenscharfen Weitwinkel-Aufnahmen haben gerade gegen Anfang eine gewisse Grelle, auch in den Nachtszenen, die Umgebung ist wichtig. Am Ende werden die Menschen wichtiger, sind nur noch sie beleuchtet, was zu dieser Isolierung von ihrer Umwelt zusätzlich beiträgt. Und dies alles haut uns Lumet nicht etwa um die Ohren, sondern lässt es so unterschwellig wirken, dass wir es eher unbewusst wahrnehmen. Das ist grandios. Nur an ein paar Stellen scheinen Lumet und sein Kameramann Andrzej Bartkowiak ganz deutlich die dramatischen Möglichkeiten nutzen zu wollen. Eine anfängliche Szene im nächtlichen Big Apple bei starkem Regen hat mit einer Nachtblau-Dominanz eine klare Neo-Noir-Ästhetik, zu der zum Beispiel die wenigen in Virginia spielenden Szenen im Kontrast stehen mit der Betonung von Weite, Natur, mit dementsprechend dominierenden braunen Farbtönen, aber der Stimmung entsprechend auf ganz andere Art genauso düster.

Keine Tiefenschärfe – Ciello ist von seinem Umfeld getrennt

Und so hat Ciello nur die Möglichkeit, vom Regen … in die Traufe zu kommen? Nein, ganz so hart ist es nicht, aber er kommt von einer Düsternis in eine ganz andere, die er sich und die wir uns so niemals ausgemalt hatten, die Lumet offenbar darum völlig anders aussehen lässt und aus der es kaum ein Entkommen zu geben scheint. Oder doch? Schaut es euch selbst an!

Was/wer nicht da war: Bonus-DVD, Booklet, Brian De Palma

Die diversen deutschen DVD-Auflagen (Auflistung siehe unten) sind im Handel vergriffen. Plaion Pictures tut somit gut daran, „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ bei uns nun erstmals auf Blu-ray im Mediabook zugänglich zu machen, was aufgrund der größeren Speicherkapazität den Vorteil hat, dass der Film auf eine Scheibe passt (die Premium und die Special Edition enthalten ihn aufgeteilt auf zwei). Zur Sichtung lag mir lediglich die Basis-Blu-ray vor, weshalb mir der sicher vorzügliche Booklettext von Stefan Jung entgangen ist. Selbiges gilt für das Zusatzmaterial der Bonus-DVD, auf der sich die Doku „Prince of the City – Die wahre Geschichte“ (bereits von älteren DVDs bekannt) sowie ein Interview mit Sidney Lumet befinden. Bild- und Tonqualität des Filmes überzeugen, wobei ein moderat verwaschener Look nicht technischer Unzuklänglichkeit geschuldet ist, sondern zu Alter und Tonlage des Filmes passt.

Abschließend: Das Projekt war eigentlich für Brian De Palma vorgesehen; es ist schwer zu sagen, ob dieser Stilist die Abgründe mit Oberflächenreizen zugedeckt hätte – in seinen besseren Werken vermag er durchaus, das eine mit dem anderen zu verbinden. Nichtsdestoweniger wandte er sich den „sauberen“ Polizisten in „The Untouchables – Die Unbestechlichen“ (1987) zu, wohingegen man Lumets Regiearbeit auch „Die Bestechlichen“ nennen könnte.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Bob Balaban, Lance Henriksen und Treat Williams unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 15. Februar 2024 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & Bonus-DVD), 16. Februar 2009 als 2-Disc Premium Edition DVD, 1. Juli 2006 als DVD der Süddeutsche Zeitung Cinemathek

Länge: 167 Min. (Blu-ray), 160 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Prince of the City
USA 1981
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Jay Presson Allen, Sidney Lumet, nach einer Vorlage von Robert Daley
Besetzung: Treat Williams, Jerry Orbach, Richard Foronjy, Don Billett, Kenny Marino, Carmine Caridi, Tony Page, Norman Parker, Bob Balaban, Lance Henriksen, Eddie Jones, James Tolkan, Ronald Maccone, Lindsay Crouse, Matthew Laurance, Tony Turco, Ron Karabatsos, Lee Richardson, Lane Smith, Cosmo Allegretti, Michael Beckett, Harry Madsen, Cynthia Nixon, Ron Perkins, Walter Brooke
Zusatzmaterial: Doku „Prince of the City – Die wahre Geschichte“ (29 Min.), Interview mit Sidney Lumet, Trailer, Bildergalerie, Booklet von Stefan Jung
Label/Vertrieb Mediabook: Plaion Pictures
Label/Vertrieb Premium und Special Edition DVD: Warner Home Video
Label/Vertrieb Süddeutsche Zeitung Cinemathek: Süddeutsche Zeitung GmbH

Copyright 2024 by Tonio Klein

Szenenfotos & Mediabook-Packshots: © 2024 Plaion Pictures,
gruppierter DVD-Packshot: © Warner Home Video

 

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Sidney Lumet (X): Find Me Guilty – Der Mafiaprozess: Die Wahrheit als Farce

Find Me Guilty

Von Tonio Klein

Gerichtsdrama // Kannste dir nicht ausdenken – in einem bald zwei Jahre währenden Mafiaprozess scheint es um so ziemlich alles zu gehen, außer um Fakten, Fakten, Fakten. Jedenfalls bei den Ausschnitten, die der Film wählt, streiten Anklage und Verteidigung eher um Beiwerk und taktieren, was das Zeug hält. Man hört von Absonderlichkeiten der US-Gerichtsbarkeit und von Inszenierungen vor derselbigen so manches, aber auch angesichts dessen wirkt dieser Prozess reichlich hanebüchen. Also funktioniert das nur, wenn er tatsächlich nicht ausgedacht ist. Regisseur Sidney Lumet greift auf den längsten US-Prozess zurück, der 1986 bis 1988 gegen 20 Mitglieder der Lucchese-Familie in Newark (New Jersey) nahe New York City geführt wurde und bei dem sich der Angeklagte Jackie DiNorscio selbst verteidigte.

Wer oder was ist Rico?

Man muss es eigentlich RICO schreiben – der Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act ist das US-Bundesgesetz, nach dem man, grob gesagt, für eine Verurteilung nicht jede Einzeltat einer konkreten Person zuweisen muss, wenn sie nur Mitglied einer kriminellen Vereinigung ist. Sippenhaft à l’américaine? § 129 Abs. 1 S. 1 StGB kennt dies ebenfalls: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind.“ Im Film wird RICO nicht direkt erläutert, aber man kann es sich in etwa zusammenreimen, denn ein konkretes „Wer hat wann welches Verbrechen wie begangen oder auch nicht“ fehlt. Dafür gibt’s Taktieren und Tricksen satt. Ganz vorn dabei: Jackie (Vin Diesel ungewohnt mit Haupthaar), der mit einem Grinsen wie ein etwas jüngerer Bruce Willis zeigt, dass er es sich gern gutgehen lässt. Auch wenn sich der Film beim Zerlegen eines FBI-Agenten des Tricks bedient, dessen Italienerklischees bloßzustellen, bedient er selbst eines: Offenkundig liebt dieses Volk gutes Essen.

Orange is the new snack …

Jackie soll zu Beginn vom Staatsanwalt Sean Kierney (Linus Roache) mit Steak, Krabbencocktail und Rotwein zur Zusammenarbeit bewogen werden, was er mit dem Four-Letter-Word quittiert (im Deutschen mal wieder zu wörtlich mit „Fick dich!“ übersetzt). Später ist ein Etappensieg, dass er (der als einziger bereits wegen einer anderen Sache einsitzt) dann wenigstens mit der Familie das üppige Mittagspausenbuffet genießen kann.

… aber auch im feinen Zwirn lässt sich’s gut speisen

Aber erst kommt die Moral, dann das Fressen, denn um die Loyalität Jackies macht der Film kein Geheimnis. Sie ist insoweit verbürgt, als der reale Jackie nie mit den Behörden zusammengearbeitet hat, bis er während der Dreharbeiten starb. Und sie kommt sogar noch vor der beschriebenen Szene zum Ausdruck. Jackies Cousin will ihn erschießen, überrascht ihn im Schlaf, ist aber drogenbedingt derart neben der Spur, dass er ihn mit vier Schüssen nur verletzt, nicht lebensgefährlich. Schon in dieser ersten Szene setzt Lumet konsequent auf Farce und einen sehr pointierten Humor, der aber auch den späteren Konflikt auf den Punkt bringt. Hier geht es nicht darum, dass sich Unschuldige der Justiz erwehren müssen; hier geht es um Menschen, die glasklar Verbrecher sind und dies auch bleiben wollen. Es ist nicht schön, was sie tun (die Anschieß-Szene ist die einzige mit blutiger Gewalt im ganzen Film), aber wir sollen sie dennoch mögen. Die kleine Jazz-Band, die durchgängig für die wohldosierte Filmmusik zuständig ist, spielt eine flotte Jive-Version von „When you’re smiling“, anscheinend total unpassend, die Kugeln fliegen und Jackie betont noch währenddessen, dass er seinen Cousin doch liebe. Witz? Aberwitz. Aber auch eine ungute Forcierung dessen, dass wir Jackie gefälligst zu mögen haben.

Vom Essen zum Gericht

Schützenhilfe bekommt „Find Me Guilty“ ohne sein Zutun, wenn man ihn Jahrzehnte später betrachtet: Am Anfang wird eine dokumentarische Aufnahme des damaligen Staatsanwalts für den südlichen Bezirk New Yorks präsentiert, und wir reiben uns die Augen angesichts des jungen Rudolph Giuliani. Na wenn der spätere Trump-Anwalt, dessen Rolle bei den Präsidentschaftswahlen 2020 und beim Sturm aufs Kapitol 2021 mehr als zweifelhaft war, die Anklage vorbereitet hat, dann gönnen wir dieser doch die Bauchlandung! Aber der Reihe nach: Jackie als jemand, der außer durch seine Knast-Erfahrung keine juristische Expertise und keine akademische Bildung hat, verteidigt sich also selbst. Dabei muss er erst mal den Komiker in sich ein wenig drosseln (aber nie ganz ausknipsen), und er eckt auch sonst mannigfaltig an, verschafft sich aber über die Strecke dann doch Respekt und wird trotz gelegentlicher Rückfälle seriöser. Am Ende findet sogar der ihm gegenüber vorher unversöhnlich feindselige Pate (Alex Rocco) mit ihm seinen Frieden. Loyalität – das ist Jackies wichtigste, vielleicht einzige Maxime, die Liebe zur Familie, zu den Mitangeklagten, mit denen er schon die Kindheit verbrachte. Dies kulminiert im Schlussplädoyer, zusätzlich hervorgehoben durch den Filmtitel: Die Geschworenen mögen alle anderen freisprechen, aber pars pro toto ihn, der eh noch 30 Jahre abzusitzen habe, für schuldig befinden. „Find me guilty!“ Der Satz mag überliefert sein, aber man fragt sich schon, ob Jackie nichts weniger als Jesus sein soll.

Familie ist alles – Besuch des Vaters

Der Film, immerhin, macht Jackie insoweit nicht zum Heiligen, als er ihn auch als sexistischen Macho zeigt, der zudem gelegentlich Mühe hat, sein Temperament, in einem Falle auch seine Aggression zu zügeln. Im Wesentlichen ist Jackie aber schon der Spitzbübische, der die Lacher und die Herzen auf seiner Seite hat. Kann die Gratwanderung gutgehen? Nicht ganz, aber vieles gelingt. Vor allem ist dies einer der großen „Ach, der kann ja schauspielern“-Filme.

Vin Diesel!

Ob Bud Spencer in „Vier Fliegen auf grauem Samt“ (1971), der Entertainer Dick van Dyke in ernster (Mörder-)Rolle in der „Columbo“-Episode „Momentaufnahme für die Ewigkeit“ (1974) oder Roger Moore in „Ein Mann jagt sich selbst“ (1970): Manchmal klappt es richtig gut, wenn Stars, die eher als Typen wahrgenommen werden, auch mal spielen müssen. Wie Sidney Lumet auf Vin Diesel gekommen ist, verrät er in seinen knappen Statements im DVD-Bonusmaterial leider nicht. Aber die Rechnung geht auf! Natürlich ist da das Gewinnergrinsen, das er auch in der „Fast & Furious“-Reihe zeigen darf. Aber in einem sehr dialogreichen und für Jackie auch monologreichen Film wird ihm einiges abverlangt.

Die Kunst der Selbstverteidigung

Trotz der positiven Grundkonnotation Jackies ist dem Mienenspiel und der Diktion Diesels (die Kamera schont ihn nicht und nutzt an markenten Stellen auch Großaufnahmen) einiges anzumerken: Er ist mitunter hin- und hergerissen, sein Gesicht kann auch mal durch eine Überraschung zu Blitzeis gefrieren, er macht zudem eine Entwicklung durch. Er wird nicht nur zu einem versierten Redner, sondern muss immer auch gegen gewisse Impulse des Kasperles, seltener des Gewalttäters, in ihm ankämpfen. Dass er das nie zu 100 Prozent meistert, nicht vom Saulus zum Paulus wird, sondern nur etwas die Gewichtung ändert, ist dem Film und Diesels Spiel hoch anzurechnen. Sollten dies Vin-Diesel-Verächter lesen: unbedingt ansehen! Übrigens, obschon eine klare Ein-Personen-Hauptrolle, drückt er nicht alle anderen an die Wand; neben den Genannten ist auf Ron Silver als Richter hinzuweisen, vor allem aber auf den gewohnt versierten Peter Dinklage als Verteidiger.

Weitwinkel und Weitblick …

Dinklage ist es dann auch, anhand dessen sich Sidney Lumets Inszenierungskunst zeigt, die mit „Inszenierungskunst“ vor Gericht korrespondiert. Angesichts der mittlerweile großen Bekanntheit des Herrn, und nur weil es in einer Szene darauf ankommt, sei erwähnt: Er ist kleinwüchsig. Aber Lumet inszeniert ihn zunächst für eine lange Zeit sitzend im Pulk der Verteidigerkollegen und im Gespräch mit Jackie, sodass man es nicht sieht. Als er mit seinem Eröffnungsplädoyer dran ist, rollt der Gerichtsdiener ein Podest für ihn herein. Mit dem (nicht nur in diesem Film) von Lumet oft genutzten Weitwinkelobjektiv wirken Räume größer, als sie sind, natürlich auch der ohnehin schon große Gerichtssaal. So bekommen das Hereinrollen und das Besteigen des Podestes etwas Pompöses, Gravitätisches, aber auch Aufgesetztes. Obschon die Dinklage-Figur selbst an keiner Stelle ihre Kleinwüchsigkeit betont, zeigt Lumet: Das Gericht ist eine Theaterbühne. Was natürlich auch ansonsten weidlich betont wird; dies soll alles gar nicht nacherzählt werden. Man kennt aus unzähligen US-Gerichtsfilmen, dass es um den guten oder schlechten Eindruck statt um die Wahrheitsfindung geht. Und nicht nur aus Filmen, wenn man sich mit Justizfarcen um Personen wie O. J. Simpson befasst. Bezeichnend, dass Tonio Walters wunderbares Buch „Kleine Rhetorikschule für Juristen“ (2. Aufl. 2017) als Einleitungsbeispiel für die Macht der Redekunst gerade den Simpson-Fall wählt.

Wie das mit Jackies Redekunst ausgeht? Man weiß es nicht. Aber man ahnt es. So oder so ist er der allseits Beliebte.

Alle Menschen werden (Knast-)Brüder

Lumets Interesse an sowie geschicktes Händchen für Justizthemen sind Legion seit seinem beeindruckenden Kinodebüt „Die 12 Geschworenen“ (1957). Es ist zunächst einmal gut, dass der Mann (1924–2011) im hohen Alter noch auf die große Leinwand zurückkehrte: Beim Ehrenoscar 2005 dachte die Academy wohl: „Bevor es zu spät ist“, denn um Lumet war es ein wenig still geworden. Nachdem insbesondere sein „Gloria“ (1999) bei Kritik und Publikum durchgefallen war und als bar jeden Vergleichs mit dem John-Cassavetes-Original von 1980 befunden wurde, stellte „Find Me Guilty – Der Mafiaprozess“ ein Comeback dar (wenn auch nur bei der Kritik). Verachtet mir die Alten nicht!

… aber nicht immer gut bei Jackie

Im Gerichtssaal ist Lumet zwar auf den ersten Blick zu Hause, aber vielleicht hat er sich doch ein wenig vom echten Jackie blenden lassen, den er noch kennenlernen durfte. Lumet ist brillant darin, dem eigentlich altbekannten Thema „Es kommt auf Kniffe und Emotionen statt auf Wahrheitsfindung an“ durch konsequentes und doch verbürgtes Aufblähen zur absurden Farce neues Leben einzuhauchen. Aber die stetige Betonung der guten Seiten und ungebrochenen Werte Jackies ist, wie man so neudeutsch sagt, drüber. Letztlich macht es gar nicht mal den Eindruck, als wandele sich einer vom kaspernden Dummbatz zum Bauernschlauen, sondern wirkt im Grunde schon das anfänglich Unbeholfene, Impulsive fast wie ein bewusster Trick. Geschworene lachen. Und wenn sie lachen, hängen sie einen nicht, so ein im Film von beiden Seiten zitiertes Sprichwort. Es spricht für den Film, dass er auch insoweit wahnsinnig geschickt inszeniert ist und Lumet alles in den Ring wirft, was er hat, inklusive der gelegentlich auftauchenden und dann meist fröhlichen Jazzmusik. Aber er tut zu viel des Guten. Die Szene, in der alle Anwälte und Mafiosi über das Angebot eines Deals abstimmen sollen, viele dem aufgeschlossen sind und Jackie alle durch einen „Wir verraten niemanden“-Monolog umstimmt, ist sogar ein bisschen klischeehaft. Wenn dann einer nach dem anderen sich mit einem „Ich sage nein“ zu Wort meldet, fürchtet man, dass gleich jemand „Ich bin Spartakus“ sagt. Oder von mir aus „Ich bin Brian, meine Frau ist auch Brian.“ Falls diese Szene verbürgt sein sollte: Egal, Film ist Kunst und gewisse dramaturgische Regeln sollte man nicht überbedienen.

Es bleibt bei einem guten Film, für den „Alterswerk“ eine Beleidigung wäre und in dem Vin Diesel überraschend versiert spielt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Vin Diesel und Peter Dinklage unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 24. Januar 2008 als DVD

Länge: 120 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Türkisch
Originaltitel: Find Me Guilty
D/USA 2006
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Sidney Lumet, T. J. Mancini, Robert J. McCrea
Besetzung: Vin Diesel, Peter Dinklage, Ron Silver, Annabella Sciorra, Alex Rocco, Frank Pietrangolare, Richard DeDomenico, Jerry Grayson, Tony Ray Rossi, Vinny Vella, Paul Borghese, Frank Adonis, Nicholas A. Puccio, Chuck Cooper, Richard Portnow
Zusatzmaterial: Im Gespräch mit Sidney Lumet, 3 englische TV-Spots, Trailershow
Label/Vertrieb: Sony Pictures Entertainment

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshot: © 2008 Sony Pictures Entertainment

 

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Sidney Lumet (IX): Der Anderson-Clan – Brandaktuell bis auf das Ende

The Anderson Tapes

Von Tonio Klein

Thriller // „Der Anderson-Clan“ steht in der Tradition der „Heist Movies“, bei denen die Planung und Ausführung eines Raubzuges im Vordergrund steht. Die eigenwillige Gruppendynamik. Die Zugeständnisse, welche die Hauptfigur notgedrungen machen muss und die sie in Schwierigkeiten bringen werden. Das Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei, „Kollegen“, Konkurrenten. Das alles enthält der Film. Und viel mehr.

Safeknacker und Knacki „Duke“ Anderson (Sean Connery) kommt nach zehn Jahren raus und will gleich wieder ein Ding drehen, selbstredend das letzte. Seine Welt hat sich aber verändert, abgesehen davon, dass er als Brite in New York zusätzlich entwurzelt ist: Das Safeknacken gelingt ihm nicht mehr mit leichter Hand; er überlässt dies seinem Kumpel „Kid“ (frühe Rolle für Christopher Walken), der aber auch kaum versierter ist.

Panzerknacker haben’s schwer

Und die Menschen schützen sich besser gegen Einbrüche und Überfälle; Audio- und Videoüberwachung sind allgegenwärtig – nicht nur zu diesem Zweck. Wer hier wen wie warum überwacht, ist ein kaum zu durchschauender Wahnsinn. Regisseur Sidney Lumet hat noch vor dem Watergate-Skandal die Überwachung zum Thema seines Filmes gemacht und dies mit dem klassischen Heist Movie verknüpft. Kann das gutgehen?

Paranoia Heist

Zunächst stößt einen die Kombination aus Paranoiathriller und Heist Movie ein wenig vor den Kopf. Rührend altmodisch sehen all diese Kameras und besonders Röhrenmonitore und Tonbänder aus. Man fragt sich, ob Lumet da rückschauend nicht offene Türen einrennt. Und ob er des Kritischen nicht entschieden zu viel präsentiert. Irgendwann steigt man durch diese multiplen Überwachungsaktionen kaum noch durch, aber der Krimi geht unverdrossen weiter, scheinbar unbeeindruckt davon, nach Schema F, bisweilen sogar regelrecht klischeehaft, etwa mit der Figur eines homosexuellen Antiquitätenhändlers (Martin Balsam).

Eine verrohte James-Bond-Variante

Aber dann geht es doch noch gut, und wie! „Der Anderson-Clan“ gewinnt in der Schlussphase ungemein und fügt sich dadurch auch insgesamt zu einer nicht nur sinnvollen, sondern ätzenden, galligen, bisweilen misanthropischen Satire zusammen, bei der man mal lachen kann, aber einem das Lachen zumeist im Halse steckenbleibt. Genau betrachtet hat er kaum sympathische Menschen. Duke ist die verrohte Version von Connerys Bond; Connery sieht noch so ähnlich aus (etwa in derselben Zeit entstand „Diamantenfieber“), aber härter, ohne Toupet, mit einzelnen grauen Härchen. Viril wie Clark Gable, aber nicht so charmant. Eher schon ein Hedonist, auch wenn er noch Rest-Anstand hat und einmal einen besonders brutalen Gangster mühsam zurückhalten muss. Duke schwingt linke Reden und vergleicht sein Handeln mit Auswüchsen des Kapitalismus, aber er entlarvt das zugleich als Farce. Gegenüber der Jagd aller nach dem Mammon übt er keine Kritik, solange er nur das größte Stück vom Kuchen abbekommt. Ein bisschen sexuelle Erregung spielt auch noch eine Rolle; das Knacken eines Safes wird deutlich mit dem „Öffnen“ von (…) gleichgesetzt. Interessanterweise ist Letzteres das Einzige, was Duke im Laufe des Filmes gelingen wird – er schafft es, dass seine ansonsten eiskalte Freundin Ingrid (Dyan Cannon) erstmals Lust empfindet. Doch dies hilft nicht: Sie hat sogleich Angst vor ihrer eigenen Verletzlichkeit, und er muss sich mit Tonbändern von diesem Liebesakt erpressen lassen.

Wer zuerst lacht, lacht am schlechtesten

Spätestens bei der Ausführung des Raubes merken wir an einer Vielzahl von auf einmal wichtigen Nebenfiguren, für wie verkommen der Thriller die meisten Menschen hält. Wie auch in seinem letzten Film „Tödliche Entscheidung“ (2007) erzählt Lumet nicht chronologisch, sodass wir relativ früh wissen: Die Räuber werden geschnappt werden. Zeitsprünge zwischen den späteren Aussagen der Opfer und dem Fortgang des Raubes geben sich die Klinke in die Hand und werfen durch ihre ständige Gegenüberstellung ein zusätzliches Schlaglicht auf menschliche Niedertrachten (beispielsweise Suggestivfragen der Polizei und unaufrichtige Schilderungen der Opfer von einem Geschehen, das wir sogleich im Zeitsprung zurück ganz anders sehen). Dazu muss man wissen, dass Anderson und seine Bande ein ganzes Nobel-Appartementhaus in Manhattan ausrauben, was entsprechend viele Bewohner und ihr Verhalten zeigt. Manchmal sollen sich in Extremsituationen ja die Zungen lösen und soll der wahre Charakter eines Menschen zutage treten (zu sehen zum Beispiel in „Der versteinerte Wald“, 1936). So ist das hier. Lustig ist noch, dass eine gefühlt Neunzigjährige das alles eher interessant findet und über ihre Mitbewohnerin lästert („Sie müssen mal gucken, was die liest. Nur Pornos. Die hat nur Sex im Kopf und ist schon 72.“). Wenig lustig sind andere Miniaturen; einige seien genannt: Da gibt es den Mann, der lieber seine Frau foltern lässt als die Safe-Kombination zu verraten. Und den selbstherrlich-herablassenden Polizeichef, der einem Sergeant befiehlt, mit seinem Team in einer halsbrecherischen Kletter-Aktion von oben in das Gebäude einzudringen, obwohl das angesichts des Riesen-Polizeiaufgebotes wohl kaum nötig wäre. Gerade die verachtende Art und Weise, in der er den Auftrag erteilt, hinterließ bei mir den Eindruck: Dass der Befehlsempfänger schwarz ist, dürfte kein Zufall sein. Herrlich indirekte Kritik durch bloßes Zeigen statt durch Dozieren.

Die Kletterei als Farce

In Richtung absurde Farce geht zudem, dass sich all diese Abhöraktionen als gänzlich ineffektiv erweisen. Kein Lauscher weiß von dem anderen, der Raub findet ungehindert statt; stattdessen achten die Überwacher auf nebensächlichen Kram. Dies mag auch den (noch am sympathischsten) Klischee-Homosexuellen erklären und rechtfertigen. „Ein Homosexueller, etwa 40, betritt das Haus“, sagt ein Überwacher einmal ins Mikro – kann man das bereits SEHEN? Und wofür ist das wichtig? Wir wissen es nicht! Wir können aber fassungslos den Kopf schütteln angesichts des extrem verschlungenen Pfades, auf dem die Polizei dann doch noch informiert wird. Das muss man einfach selbst gesehen und die entsprechenden Dialoge („Übernehmen Sie die Kosten für das Gespräch?“) selbst gehört haben. Nur soviel: Mit der ganzen Überwacherei hat es nun wirklich nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Guter Stil ist Stil, den man nicht sieht

Also sprach Lumet, der Stilist, der den Stil aber nie zum Selbstzweck werden lässt. So hält er sich mit Mätzchen zurück, aber das eine oder andere fällt gleichwohl auf. Das eher verwaschene New York kontrastiert mit teils schreienden Farben, zum Beispiel bei Ingrid, die dadurch gleichsam fassadenhaft wie unsicher wirkt; dito der oben erwähnte Mann mit dem Safe, der seinen Reichtum genießt und im Moment der Bedrohung seine hässliche Fratze offenbart. Neben Farbe ist die Gestaltung des filmischen Raumes wichtig. Lumet liebt tiefenscharfe Fluchtperspektiven, Weitwinkel, ungewöhnliche Kameraperspektiven. Mit Letzterem unterstreicht er Absurdität wie Gefährlichkeit der erwähnten Fassadenkletterei. Mit Ersterem zeigt er am Ende, wie minutiös der Polizeieinsatz geplant ist (die ganze Straße ist leer, aber am Ende wartet das Polizeiaufgebot), lässt dies aber immer mit der beschränkten Sicht der Räuber kontrastieren, die tatsächlich nicht sehen können, was sich über ihnen zusammenbraut. Sehr spannungssteigernd und durch die Totale dem Zuschauer den berühmten Informationsvorsprung gegenüber den Protagonisten gebend. Hingegen können all diese Überwachungskamerabilder, genau wie der Blick der Gangster aus dem Fenster, immer nur eine begrenzte Sicht gewähren, was das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag des Observierungswahns noch stärker herausstreicht.

Als die Abhörer noch vom Unrecht wussten

Es wäre interessant gewesen, was Lumet zu späteren Abhörskandalen gesagt hätte, wie beispielsweise zur Globalen Überwachungs- und Spionageaffäre, in die der US-Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) maßgeblich verwickelt war. Diese hatte 2013 Edward Snowden aufgedeckt, und wir haben uns mittlerweile bedauerlicherweise daran gewöhnt. „Natürlich hören wir euch ab“, so ein CIA-Agent in Brian De Palmas „Domino – A Story of Revenge “ (2019). Solchem Gebaren scheint Lumet schon vorzugreifen, doch eines hat er sich nicht in seinen kühnsten Albträumen ausgemalt: dass den Verantwortlichen fürs illegale Überwachen einmal jegliches Unrechtsbewusstsein fehlen würde. In der letzten Szene sieht man, wie alle Organisationen unabhängig voneinander ihre Bänder löschen, damit ja nicht herauskomme, dass sie selbige illegal bespielt hatten. Was – auch durch den ungewöhnlichen Einsatz elektronischer Toneffekte und einer giftgrünen, computertechnisch anmutenden Schrift – wohl bedrohlich wirken soll, wäre heutzutage fast schon ein Aufatmen wert, nach dem Motto: Hurra, die haben noch Angst, erwischt und bestraft zu werden.

So viel muss gelöscht werden – und passt heute millionenfach auf einen Chip

Heute gilt eher, dass alle Dienstvorgesetzten bis hin zum US-Präsidenten dafür sorgen, dass die Schlapphüte sich sicher fühlen können. Merkels Handy wurde abgehört? Okay, dann hören wir von nun an damit auf (womit Obama seinerzeit zugab, dass es stimmte und er es nicht für sonderlich aufregenswert hielt). Gerade deswegen ist extrem schade, dass der bis ins hohe Alter aktive Lumet nun doch nicht mehr lebt und dazu weder etwas sagen noch einen Nachfolgefilm machen kann. Aber wir haben ja „The Anderson Tapes“, wenn auch hierzulande nur als Streaming-Angebot diverser Anbieter. Die 2003 veröffentlichte DVD ist vergriffen.

Das Bild trügt: Duke Anderson hat mit James Bond wenig gemein

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Martin Balsam, Sean Connery und Christopher Walken unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 2. November 2010 als 2 Movie Collector’s Pack DVD „Best of Hollywood“ (mit „Der Wind und der Löwe“), 28. Januar 2003 als DVD

Länge: 95 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The Anderson Tapes
USA 1971
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Frank Pierson, nach dem Roman von Lawrence Sanders
Besetzung: Sean Connery, Dyan Cannon, Martin Balsam, Christopher Walken, Ralph Meeker, Alan King, Val Avery, Dick Anthony Williams, Garrett Morris, Stan Gottlieb, Paul Benjamin, Anthonly Holland, Richard B. Shull, Judith Lowry, Margaret Hamilton, Conrad Bain, Sam Coppola
Zusatzmaterial: Originaltrailer, Trailershow
Label/Vertrieb: Columbia TriStar

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshot: © 2003 Columbia TriStar

 

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