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Zum 100. Geburtstag von Dirk Bogarde: Teufelskreis – Ist bald jede Perversion erlaubt?

28 Mär

Victim

Von Tonio Klein

Thrillerdrama // Basil Deardens „Teufelskreis“ beginnt wie ein Puzzle, verschiedene Personen und Fäden haben nur schwache Interdependenzen, in den ersten etwa 25 Minuten wird kaum klar, worum es geht. Erstmals ahnen wir es, als ein Mann bei einem anderen Unterschlupf sucht und dessen Frau dies brüsk zurückweist: „Warum gehst du nicht zu einem von deiner Sorte?“ Oho – und später wird ausgesprochen: Schwul ist er, der Unterschlupfsuchende. Im England der frühen 1960er-Jahre, in dem das strafbar war. Dieser bemerkenswert offene und fortschrittliche Film verdeutlicht, was das heißt. Es ist ja nicht etwa so, dass es Schwule nicht gibt, wenn man sie nur gehörig diskriminiert, auch wenn tschetschenische Machthaber das immer noch behaupten. Nein, England ist wie jedes andere Land voll von ihnen. Und „Teufelskreis“ tut gut daran, zu zeigen: Sie finden sich (in einem stark von Klassenbewusstsein geprägten Land) in allen Schichten. Und sie müssen ihre Neigung zu unterdrücken versuchen oder ihr im Verborgenen nachgehen. Beides keine gute Idee, wie sich an dem angesehenen Rechtsanwalt Melville Farr (Dirk Bogarde) zeigt, der geheiratet hat, um sein Verlangen überwinden zu können. Und wie sich an vielen anderen zeigt, die Opfer von Erpressungen sind – gingen sie einfach zur Polizei, würde die sie gleich dabehalten.

Klarheit ohne Zeigefinger

Das im Original „Victim“ (englisch für „Opfer“) betitelte Drama lässt keine Zweifel, was von der damaligen Gesetzgebung zu halten ist: nichts. Nun sind solche Filme mit aufklärerischen Botschaften immer der Gefahr ausgesetzt, zu dozierenden Thesenfilmen zu werden. Dieser hier ist hingegen hervorragend. Obwohl stark dialoggeprägt, sind die Dialoge keine Predigten, sondern sie illustrieren die Pein diverser Leute, aber auch den inneren Zwist der Hauptfigur des Anwalts. Dies kommt zum Beispiel in einem Streitgespräch zum Ausdruck, in dem Melville – als Vertreter der rule of law – das existierende Gesetz noch zu verteidigen versucht; jenes Gesetz, das Homosexualität verbietet und mit Gefängnis ahndet. Wie auch durch die Heirat ist die ganze Zerrissenheit dieses Mannes spürbar: Er ist so sozialisiert, dass man sich an eine überkommene Moral und an das Recht halte, aber es ist nun mal seine Natur, Männer zu begehren. Genau, seine Natur (wie dies auch einmal eine Nebenfigur, ein erpresster Friseur, sagt), nicht etwa eine Laune oder Krankheit, die man umpolen, gar „heilen“ könnte. Für 1961 ist der Film erfrischend deutlich und seiner Zeit voraus, und auch heute gibt es jenseits von Schurkenstaaten Gesellschaften, in denen sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt hat.

Was wäre, wenn …? Alles wäre besser, für jeden!

„Wenn wir ,das‘ legalisieren, wird irgendwann jede andere Perversion erlaubt sein.“ Diesen Vergleich spricht ein Gastwirt aus, er spiegelt sich zudem in Melvilles Heirat mit Laura (Sylvia Syms) wider. Dem Anwalt nehmen wir durchaus ab, dass er wirklich geglaubt hat, seine Neigung dadurch zu überwinden, so wie ein Pädophiler, der sich freiwillig in eine Therapie begibt, bevor er etwas wirklich Schlimmes tut. Das Drama zeigt, welche Nöte daraus entstehen können, dass man solches zu Unrecht (aber – zumal damals – in weit verbreiteter Weise) gleichsetzt. Und das alles in Form eines packenden Thrillers! Dieser ist zugleich Betrachtung einer Gesellschaft. Die Erpresser sind nicht die großen bösen „anderen“, sondern die Biedermänner mitten unter uns. Gewisse Äußerlichkeiten lassen ahnen, dass es bei ihnen die unterdrückte homosexuelle Neigung sein könnte, die in Hass auf sich selbst und dadurch auf andere umschlug. Sogar ihnen hätte es geholfen, wäre die britische Rechtslage und gesellschaftliche Einstellung nicht gewesen, wie sie war. Besser und umfassender kann man kaum für die Anerkennung Homosexueller plädieren. Das Problem ist ein gesamtgesellschaftliches.

Alles ist wichtig, nichts ist aufdringlich

„Teufelskreis“ ist großartig darin, mit einer schier unglaublichen Zahl markanter Minirollen aufzuwarten, die dies illustrieren und que(e)r durch alle Milieus die Folgen einer unterdrückten, niemandem schadenden natürlichen Veranlagung demonstrieren. Übrigens vermeidet der Film – offensichtlich bewusst – jeglichen Voyeurismus. Von einem schrecklichen und tragischen Ereignis nach etwa 30 Minuten sehen wir weder die Ausführung noch die Folgen, sondern es wird dem Anwalt und uns nur davon berichtet. Nicht nur sehen wir die Erpresserfotos
niemals (was noch die Fantasie im Sinne wilden Homo-Sex ankurbeln könnte), es wird auch in einem Dialog klar, dass auf den Bildern kein „Schweinkram“ zu sehen ist, sondern in einem Falle nur der Anwalt mit einem ihn begehrenden Mann im Arm, der weint. Was natürlich auch wieder mit dem Problem zu tun hat, eine Neigung nicht offen ausleben zu können. Zugleich scheint dieses harmlose Zusammensein für ein „Schuldig bei Verdacht“ gut genug …

Kein artifizielles Licht am Ende des Tunnels

Schließlich ist das Thrillerdrama wunderbar fotografiert und wieder einmal ein Beleg meiner These, dass viele Spät-Schwarz-Weiß-Filme gut sind. Ja, der Film ist noch schwarz-weiß, aber hat so gar nichts mehr von der Ästhetik früherer Vertreter, der glamourösen High-key-Künstlichkeit der 1930er-Jahre oder der harten Low-key-Kontraste des Film noir. Nein, die Ästhetik ist ganz modern, da haben wir Menschen wie du und ich an allen möglichen Orten und in allen möglichen Aufmachungen, weder high key noch low key, sondern oft in verwaschenem Schwarz-Weiß, das zudem bei manchen Außenaufnahmen nie richtig hell zu werden scheint, ohne dass es Nacht ist. Ein interessanter, zum klassischeren Schwarz-Weiß überhaupt nicht passender Kontrast. Man konnte damals nur hoffen, dass es für Schwule ein bisschen heller würde (in vielen Weltgegenden ist dies noch heute dringlichst zu wünschen).

Kein Puzzleteil fehlt, aber eine deutsche Heimkinoveröffentlichung

Gegen Ende stellen wir fest, dass keine der vielen Minirollen achtlos in den Film hineingeworfen und dann links liegengelassen wurde. Nicht nur „Jeder ist wichtig“, sondern auch „Alle hängen mit allen zusammen“. Barrieren wie Rechtsvertreter/Rechtsbrecher, Unterschicht/Oberschicht, Homo/Hetero ergeben keinen Sinn und existieren weder in einer gesellschaftlichen Scheinrealität noch im Innern der Figuren. Dass Dearden den Film als Puzzle begonnen hat, hatte seinen Zweck. Er hat es zusammengesetzt. Das Bild ist aus damaliger Sicht unbequem, aber von erfrischender Klarheit – und auch heute wirft „Teufelskreis“ die Frage auf, ob wir „schon alles erreicht haben“. Grandios, leidenschaftlich, spannend, facettenreich und in jeder Facette überzeugend, hierzulande leider noch ohne Heimkinoveröffentlichung. In den USA hat Criterion 2011 im Rahmen ihrer „Eclipse Series“ eine „Basil Dearden’s London Underground“ betitelte DVD-Box aufgelegt, die außer „Victim“ drei weitere Filme des englischen Regisseurs enthält. Eine Blu-ray mag beizeiten folgen, dazu ist das vorbildliche Label ja mittlerweile übergegangen. Im Vereinigten Königreich ist bereits eine Blu-ray erschienen.

Hauptdarsteller Dirk Bogarde wäre am 28. März 2021 100 Jahre alt geworden. Über ihn habe ich mich in meiner Rezension von „Die Nacht ist mein Feind“ (1959) etwas näher geäußert, Blogbetreiber Volker hat dies in seinem Text über „Die Brücke von Arnheim“ (1977) ebenfalls getan. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Dirk Bogarde haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung (GB): 28. Juli 2014 als Blu-ray, 10. April 2006 als DVD
Veröffentlichung (USA): 25. Januar 2011 als DVD in der Box „Eclipse Series 25: Basil Dearden’s London Underground“ (mit „Sapphire“, „The League of Gentlemen“ und „All Night Long“)

Länge: 100 Min.
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Englisch
Originaltitel: Victim
GB 1961
Regie: Basil Dearden
Drehbuch: Janet Green, John McCormick
Besetzung: Dirk Bogarde, Sylvia Syms, Dennis Price, Anthony Nicholls, Peter Copley, Norman Bird, Peter McEnery, Donald Churchill, Derren Nesbitt, John Barrie, John Cairney, Alan MacNaughtan, Nigel Stock
Zusatzmaterial: keine Angaben
Label/Vertrieb: Network (GB), The Criterion Collection (USA)

Copyright 2021 by Tonio Klein

 

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