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Vier Schwestern (1933): Liebenswerter Film in liebloser Edition

11 Dez

Little Women

Von Tonio Klein

Drama // Es verwundert nicht, dass der zu Herzen gehende Roman „Little Women“ von Louisa May Alcott fest im kollektiven Gedächtnis der US-Nation verankert ist und gleich mehrfach verfilmt wurde. Ein Lob den Familienwerten und der Selbstlosigkeit einer Familie mit vier Töchtern, die sich in schwierigen Zeiten im ländlichen Neuengland durchschlagen muss, während der Vater im Sezessionskrieg ist. Zugleich authentische, starke Frauenfiguren, deren Gefühle und Ambitionen auch dann nachvollziehbar sind, wenn der Zuschauer sich in eine völlig fremde Welt begeben muss. Das ist der Stoff, aus dem die Traumfabrik ist, auch wenn jede Verfilmung berechtigterweise neu die Frage stellt, wie man einen schon 1933 historischen Stoff angemessen verfilmt. Wie auch Theateraufführungen, sagen Period Pictures gleichsam etwas über die dargestellte Zeit wie auch über die Entstehungszeit, und vor gar nicht langer Zeit stand das Update „Little Women“ (2019) von Greta Gerwig an. Die hier nun vorliegende erste Tonverfilmung des Stoffes hat sich erstaunlich gut gehalten, und sie fällt – auch wenn man manches für kreuzbrav halten mag – tatsächlich aus dem Rahmen. Das ist nämlich ein A-Film mit allem, was dazugehört. 1933, das war noch ein Jahr des Pre-Code, als die Hollywood-Selbstzensurbestimmungen, um der staatlichen Zensur zuvorzukommen, nur auf dem Papier existierten. Da wagten sich nicht nur, aber vor allem die Warner Bros. mit kurzen, schnellen Low-Budget-Filmen weit aus dem Fenster. Barbara Stanwyck („Baby Face“, 1933) und Jean Harlow („Feuerkopf“, MGM, 1932) schliefen sich nach oben, Warren William bekam seine Angestellte Loretta Young mit Alkohol und Chefposten-Ausnutzung in die Kiste („Employee’s Entrance“, 1933), Glenda Farrell fragte einen Reporterkollegen mal eben zur Begrüßung, wie sein Sexleben sei („Das Geheimnis des Wachsfigurenkabinetts“, 1933) – die Liste ließe sich verlängern. Das hier am Start stehende Studio RKO hat das auch gemacht, daneben aber triefende „Confession Tale“-Melodramen sowie Gigantisches wie „King Kong und die weiße Frau“ (1933). Edelproduzent David O. Selznick brachte nicht nur den Riesenaffen auf die Leinwand, sondern auch die „kleinen Frauen“, als er noch nicht sein eigenes Studio hatte, sondern gerade von RKO zu MGM gegangen war, aber dieses eine Projekt noch für den Ex-Arbeitgeber realisierte.

Immer ein kostbarer Schatz: Briefe des Vaters/Ehemannes

Und da kam alles von Rang und Namen zusammen, wobei Regisseur George Cukor und Hauptdarstellerin Katharine Hepburn noch relativ neu im Geschäft, aber fulminant gestartet waren. Cukor ist ein etwas schwer zu fassender Mann, da etwas wie eine Handschrift oder ein dominierendes Thema nicht auffällt, aber seine Filme häufig eine große Eleganz mit glaubwürdigen Charakteren verbindet – das sollte man nicht geringschätzen. Die noch häufig als blonder Vamp verheizte Jean Harlow durfte sich 1933 freuen, dass Cukor ihren mittelgroßen Part im Ensemblefilm „Dinner um acht“ sehr viel aufmerksamer gestaltete, als sie dies von anderen Regisseuren gewohnt war. Bei „There’s first class or no class“-Selznick gab’s sowieso nichts zu rütteln, da musste alles vom Feinsten sein. Herausgekommen ist ein mit 110 Minuten für damalige Verhältnisse langer, aufwendiger und bis in die allerkleinsten Kleinigkeiten wie die reichhaltigen Kostüme ausgefeilt gestalteter Film. Das größte Wunder: Und dennoch lebt er!

Im Übergangsstadium zwischen Mädchen und Frau

An die Ästhetik muss man sich aber erst einmal gewöhnen; da gibt es Postkartencredits, und die im Gegensatz zu vielen Pre-Code-Filmen völlige Abwesenheit von Härte äußert sich auch in der kontrastarmen High-Key-Beleuchtung, in der es nie richtig dunkel ist und die Gesichter nie so ganz gestochen scharf sind. Leise rieselt der (damals übliche) Cornflakes-Schnee, und man kann einen Moment zweifeln, ob die vier Töchter altersangemessen besetzt sind. Laut Wikipedia, was sich offenbar an der Vorlage orientiert, ist Meg 16, Jo 15, Beth 13 und Amy 12. In dieser Reihenfolge: Frances Dee (* 1909), Katharine Hepburn (* 1907), Jean Parker (* 1915, immerhin) und Joan Bennett (* 1910). Das Lebensalter wird im Film aber nie genannt, und damals war frau eben etwas eher aus der Schule raus und in einer Anstellung oder bei einem Mann; das passt schon. Wirklich verwunderlich ist nur das Küken Amy in der Anfangsszene, als sie, noch zur Schule gehend, wegen einer Karikatur des Lehrers von diesem geschurigelt wird. Dem Körper nimmt man das in Kleidung und Gesichtsausdruck durchaus gut dargestellte Kindliche nicht ganz ab. Dann aber – und ab da verzeihe ich dem Film fast alles – tritt sie aus dem Raum zu den anderen Schülerinnen. Sie legt die kindliche Kittelschürze ab, setzt einen modischen Hut auf, legt Mantel und Schal an und hat auch vom weinerlich Unterwürfigen auf selbstbewusste Gestik, Mimik und Diktion umgestellt. Vorher war sie um einiges kleiner als der Lehrer (der Unterschied ist deutlich größer, als das bei Erwachsenen verschiedenen Geschlechts meist ist; ein Podest o. ä. mag auch geholfen haben). Nun ist sie unter gleich Großen, die sich vorher das Maul zerrissen haben – und sagt sinngemäß, die Größte zu sein. So ist sie eben, die Pubertät: noch etwas Mädchen, aber schon ganz schön viel Frau, und in dieser Zerrissenheit kann Amy in Sekundenschnelle zur Frau werden – aber man merkt, dass weder das eine noch das andere noch/schon ganz echt ist. Das ist Selznick/Cukor: Keine auffälligen Mätzchen, aber unbedingter Gestaltungswille noch in scheinbar beiläufigen Szenen, immer der Geschichte und den Figuren dienend, sich nie aufdrängend (wenn Selznick nicht die Gäule durchgingen wie 1939 bei „Vom Winde verweht“ – das ist ein an sich selbst besoffenes Ausstellungsstück, wenngleich nicht ohne Qualitäten).

Paraderolle für Katharine Hepburn!

Emanzipation? Die gibt es ja nun gezwungenermaßen; die Frauen/Mädchen müssen sich allein durchschlagen. Etwas schade ist, dass drei der vier Schwestern ein eigenes kreatives Talent haben, welches gleichzeitig Passion ist, nur die Älteste nicht – nicht mehr? Sie kommt auch als Erste unter die Haube … Die burschikose Jo hingegen möchte Schriftstellerin werden, Beth liebt das Klavierspiel und Amy das Zeichnen. Von Katharine Hepburn mag man denken, was man will; in ihren reichlichen autobiografischen Zeugnissen wirkt sie mitunter wie eine enervierende, egozentrische Angeberin. Das ist das eine – aber die Rollen! Die so sportliche wie willensstarke Frau ist oft, und gerade auch hier, ein Energiebündel, deren Spielfreude einfach ansteckend ist. Ein „Wildfang“, ein „halber Junge“ sei diese Jo, vom Verehrer Laurie (Douglass Montgomery) lässt sie sich erst mal nicht einfangen. Wo einer wie Clark Gable einfach zugegriffen und ihr einen in #metoo-Zeiten inakzeptablen Kuss aufgenötigt hätte, bis die sich pseudo-wehrenden Händchen in eine Umarmung übergegangen wären, schwingt sich Miss Hepburn an einem Ast von dannen. Man müsste eine Schauspielerin wie sie für so einen Part erfinden, wenn es sie nicht gäbe! Ein Energiebündel, welches sogar für eine Laientheateraufführung das zweifache Cross-Dressing nicht nur nicht scheut, sondern lustvoll auskostet.

Diese ansteckende Spielfreude der „kleinen“ Jo

Letztlich erwischt man sich immer bei der Frage, ob das nun Kitsch sei, um sich dem dann doch voller Leidenschaft hinzugeben. Gefühle, Träume, der schmale Grat zwischen (extrem deutlich gelebter und dem Publikum vorgelebter) Familienliebe und Selbstlosigkeit einerseits sowie Selbstbehauptung andererseits – das alles führt zu kleinen und weniger kleinen Schicksalsmomenten, gelegentlich -schlägen, die jedermann treffen können. Dass wir mit voller Empathie dabei sind, gelingt dem Film auch dadurch, dass er das, was man vordergründig Normalität nennt, zum Beachtenswerten macht. Trotz des ersten Eindrucks des Episodenhaften gibt es einen stimmigen Gesamtbogen, in dem das anfangs noch oft Heiter-Anekdotische peu à peu und scheinbar unmerklich ins Dramatische übergeht, ganz fließend. So wird Jo das Frech-Selbstbewusste ablegen und sagt in der zweiten Hälfte nicht mehr „Christoph Columbus“ als Ausdruck des freudig Überraschten; zuvor ein Running Gag. Aber das ist, und das zeichnet den Film sehr aus, keine zähmende Wandlung, sondern es ist schon alles von Anfang an in Jo angelegt, das Forsche wie das Gefühlvolle. Ihre Power zeigt immer auch die Träumerin. Sie kämpft für ihre Träume, was notwendigerweise heißt, dass sie überhaupt welche hat. Also kann sie auf überzeugende Weise so stur wie sensibel im allerbesten Sinne sein. Wenn sie auch mal weinen darf, ist das keine ausgewechselte Jo.

Tränen lügen nicht

Spätestens die Tatsache, dass der Scharlach einmal zuschlagen wird, lässt sich nicht mehr als Klein-Klein abtun; auch die Sorgen um den Vater und die finanzielle Not (anderer und der eigenen Familie, in dieser Reihenfolge) sind immer da. Des Weiteren kommen die meisten der Mädels ins männerbedingte Gefühlschaos – aber alles entwickelt der Film aus Alltagsgefühlen und kann so auch zeigen, wie selbst außergewöhnliche Sorgen uns alle treffen und angehen können (zudem kann man die Scharlach-Sache heute gern durch Corona ersetzen). Der Film kommt völlig ohne einen Bösen oder eine Böse aus; da kann die scheinbar giftige Tante (Edna May Oliver) noch so sehr durch die markante Stimme Katharina Braurens daran erinnern, dass Brauren auch „Mamma“ in „Loriots Ödipussi“ (1988) war. Auch ein von Henry Stephenson gespielter älterer Nachbar entpuppt sich als herzensgut statt griesgrämig.

Pott und Deckel? – Achtung, ein Spoiler-Absatz

Am Ende bekommt sogar Jo einen Mann ab, aber immerhin ist es der, der ihren Ambitionen nicht nur freien Lauf lassen wird, sondern Jo nicht nur deswegen, sondern als Ganzes so sehr wertschätzt wie liebt. Während auch die bildlichen Personenarrangements gelegentlich verdeutlichen, dass Jo kaum eine ist, die zu Männern mal aufblickt (es ist eher andersherum, wie es auch die Kamera in Filmen der feministischen Dorothy Arzner seinerzeit betont hat), kann sie dies vielleicht jetzt tun. Und es erscheint nicht als Selbstaufgabe, hat doch auch der Künftige, ein wesentlich älterer Professor, gewisse Unsicherheiten, bei denen er umgekehrt noch von Jo lernen kann. Ein Intellektueller, aber auch Gefühlvoller, das gefällt Jo naturgemäß; alles im Tschaikowski-Lied „Nur, wer die Sehnsucht kennt, weiß, wie ich leide“ verdichtet, welches er ihr vorträgt (der gebürtige Ungar Paul Lukas spielt einen Deutschen und singt auch auf Deutsch). Beim dann überraschend schnellen Ende zeigt sich die Eleganz und Dezenz des Filmes, der zwar scharf beobachtet, aber nicht mehr zeigt, als er muss. So wie Cukors „Dinner um acht“ enden kann, als das titelgebende Dinner endlich beginnen kann, endet der vorliegende Film mit einem Familientreffen, zu dem sich schließlich auch Jo und ihr Künftiger gesellen. Sie gehen ins Haus, aber die Kamera bleibt draußen; es ist alles gesagt und gezeigt, was gesagt und gezeigt werden musste.

Weit weniger ausgefeilt als der Film: die DVD

Der nach einer Eingewöhnung so sentimentale, aber eben auch im positiven Sinne sensible und sowieso in allen künstlerischen Aspekten aufmerksame und kluge Film war sehr erfolgreich. Es verwundert, dass die aufwendige A-Produktion im nicht minder aufwendigen Selznick-Prachtband von Ronald Haver und Thomas Ingalls („David O. Selznick’s Hollywood“, 1981) kaum erwähnt wird – dito, dass Cukor im langen Interview mit Peter Bogdanovich zu „Little Women“ nichts zu sagen hat. Und nun, dass er keine bessere Veröffentlichung in Deutschland bekommen hat, denn die hätte er verdient. Das Bild verfügt über alle Krissel und Kratzer, die nicht restauriertes Filmmaterial von 1933 halt so hat; da geht heutzutage selbst bei einem Film dieses Alters mehr. Wikipedia schreibt: „Die deutsche Synchronfassung entstand angesichts einer ARD-Fernsehausstrahlung im Jahr 1978 bei der Studio Hamburg Synchron.“ Diese wurde nun auch hier verwendet, mit ausdrucksstarken Stimmen, aber damals hatte offenbar niemand den phonetischen Unterschied zwischen „Jo“ (etwa „scho“) und „Joe“ (etwa „dscho“) auf dem Schirm. Dass die Dialoge damals phasenweise heftig asynchron daherkamen, lässt sich kaum vorstellen, aber auf der DVD ist es so, warum auch immer. Für etwas anderes, das im deutschen Synchronwesen lange verbreitet war, kann das Label allerdings nichts. Der auf der deutschen Tonspur eigentlich sehr schöne, an klassische Musik angelehnte Soundtrack ist für USA 1933 so untypisch, dass das Wechseln der Tonspur zeigt: Er ist nicht echt, von dem auch in die Handlung eingebundenen („diegetischen“) „Nur, wer die Sehnsucht kennt“ einmal abgesehen. „Musik: Max Steiner“ steht dort, aber wer den deutschen Ton hört, hat davon fast nichts. Generell eine Unsitte, und hier besonders schade: RKO und Steiner waren Pioniere der dramatisch eingesetzten, weil punktgenau aufs Bild abgestimmten Film-Programmmusik, während die Konkurrenz oft nur unvariierte Hintergrundstücke oder zwischen den Credits gar nichts einsetzte. Wer aber etwas wie „Graf Zaroff – Genie des Bösen“ (1932) sieht und hört, weiß, was gemeint ist – übrigens in einer schönen Edition mit reichhaltigen Extras und einem umfangreichen Booklettext meines Kollegen und Chefredakteurs Clemens G. Williges bei 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin erschienen. Eine solche Edition, die Blog-Betreiber Volker Schönenberger vor einiger Zeit vorgestellt hat, hätte auch „Vier Schwestern“ verdient. Freunde der authentischen Filmmusik können natürlich den Originalton wählen, müssen sich aber auf ein deutliches Rauschen einstellen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Frances Dee und Katharine Hepburn haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet.

Manchmal ist die deutsche Tonspur besser, wenn die Lippen sich nicht bewegen

Veröffentlichung: 5. November 2021 als DVD
Länge: 110 Min.
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Little Women
USA 1933
Regie: George Cukor
Drehbuch: Sarah Y. Mason, Victor Heerman, nach dem Roman von Louisa May Alcott
Besetzung: Katharine Hepburn, Joan Bennett, Frances Dee, Jean Parker, Spring Byington, Edna May Oliver, Douglass Montgomery, Paul Lukas, Henry Stephenson, John Lodge, Samuel S. Hinds, Harry Beresford, Olin Howland
Zusatzmaterial: Trailershow, Nachdruck „Film-Kurier Nr. 1007“ als Booklet, Wendecover
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2021 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Pidax Film

 

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