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Lasst mich leben – Meisterhaftes Plädoyer gegen die Todesstrafe

04 Jan

I Want to Live!

Von Tonio Klein

Justizdrama // Nein, Barbara Graham war keine Heilige. Die 1923 im kalifornischen Oakland Geborene lebte das Leben eines Halbweltflittchens, drehte krumme Dinger und ließ sich mit den falschen Leuten ein und für diese einspannen. Doch ob sie tatsächlich die Mörderin Mabel Monohans war, konnte nie zweifelsfrei geklärt werden. Nichtsdestoweniger erfolgte am 3. Juni 1955 ihre Hinrichtung in der Gaskammer des kalifornischen Staatsgefängnisses San Quentin.

Oscar und Golden Globe für Susan Hayward

Robert Wise nahm diese Geschichte zum Anlass, basierend auf den Reportagen des 1951 mit dem Pulitzerpreis prämierten Journalisten Edward S. Montgomery (1910–1992) einen Film über Graham, ihr Vorleben, ihren Prozess und schließlich ihre Hinrichtung zu drehen, der 1958 in die US-Kinos kam (Montgomery taucht im Film auch als wichtige Nebenfigur auf, gespielt von Simon Oakland). Es handelt sich um einen in kargem, trostlosem Schwarz-Weiß gedrehten Antitiodesstrafenfilm. „I Want to Live!“, so der Originaltitel von „Lasst mich leben“, ist vielleicht der erste Hollywoodfilm, zu dem man das so kompromisslos sagen kann und der die tödliche US-Justizmaschinerie nicht nur am Rande streift, sondern ins Zentrum rückt. Gleichzeitig kommt noch viel mehr darin vor. Wise und seiner phänomenalen, unter anderem mit Golden Globe und Oscar belohnten Hauptdarstellerin Susan Hayward gelingt das Porträt eines bewegten und bewegenden Frauenlebens als Gesamtkunstwerk. Hier spielt alles mit: Schauspielkunst, Regie, Schnitt, Kamera, Musik, Settings, Tonschnitt, Ästhetik, Kadrierung.

Robert Wise und sein Blick fürs Nebensächliche

Bei einem Film, der eine solch geballte formelle Meisterschaft aufweist, kann man schon mal kritisch fragen, ob das nicht alles zur selbstzweckhaften Spielerei degradiert. Tut es nicht! Robert Wise war ein sehr formell-technischer Regisseur, sein Einstieg ins Filmgeschäft erfolgte über technische Kategorien wie Schnitt und Tonschnitt bei illustren Meistern wie zum Beispiel dem jungen Orson Welles (für dessen „Citizen Kane“ Wise 1942 erstmals oscarnominiert wurde – für den Schnitt). Wise achtet auf alles (scheinbar) Nebensächliche, aber ohne die Hauptsache aus dem Blick zu verlieren. All seine Mätzchen dienen der Geschichte, statt ihr im Weg zu stehen. Das macht diesen Regisseur so gut. Konkret im Falle von „Lasst mich leben“: Der Film zeigt in flirrenden, nervösen, hektischen Bildern, unterlegt von pulsierender Jazzmusik, dieses „Leben auf der Überholspur“, das Graham geführt hat. Dunkle Bars, schräge Typen, Glücksspiel, und Robert Wise hat Hayward angenehm schnodderig agieren lassen und der Versuchung widerstanden, Barbara Graham zu sehr zum Unschuldslamm emporzuheben. Alles an ihr wirkt etwas ordinär, laut, aggressiv.

Susan Hayward Hayward spielt diese herausfordernde, aber gelegentlich doch naive Entschlossenheit voll aus, ihre mal verkniffenen, mal dreckig lachenden Lippen helfen ihr dabei. Zu dieser schroffen Hektik passt – auch das ein Markenzeichen von Wise – ein elliptisches Schneiden sehr gut, hier findet man es einmal in der brutalsten und schroffsten Form. Graham kündigt einem Kumpel an, dass sie heiraten wird. Dieser wirft ein gerade gebautes Kartenhaus um. Die Kamera verharrt viel länger auf den Karten als nötig, und gerade wenn wir uns fragen, was den Regisseur da wohl getrieben hat, kommt der Schnitt: Graham wird von einem besoffenen Ehemann (Wesley Lau) dauerangeschrieen, Zoff ohne Ende, offensichtlich nicht das erste Mal, und im Hintergrund das vielleicht knapp einjährige Baby im Laufstall, das natürlich auch schreit, weil es den Stress kaum aushalten kann. Es ist mal eben mehr als ein Jahr vergangen (vor dem Schnitt war Graham noch nicht schwanger) und die Ehe hatte nie eine Chance. Wer Ohren hat zu hören, der kann feststellen, dass dieses Scheitern der Ehe schon bei den fast zu lange fotografierten Spielkarten durch besonders düstere Jazzklänge angekündigt wurde. Es ist überliefert, dass dies genau die Absicht von Wise und seinem Komponisten war. Genial!

Bis zur Hinrichtung

Als Graham dann eines Mordes verdächtigt und angeklagt wird, verlangsamt sich und vereinsamt ihr Leben, und als sie in der Todeszelle sitzt, verschärft sich das natürlich. Wise findet dafür ästhetische Entsprechungen. Während Graham im ersten Drittel oft inmitten vieler Leute gezeigt wird und in etwa 30 Minuten Filmzeit schon mal zwei Jahre vergehen, nähert sich gegen Ende die Filmzeit der erzählten Zeit immer mehr an. Die letzten Minuten der Hinrichtungsvorbereitung und -durchführung erreichen dokumentarische Strenge und beinahe Echtzeit. Barbara Graham ist immer seltener mit anderen Personen zu sehen, immer häufiger allein in Großaufnahme. Das sind Aspekte, die ich meine, wenn die Behauptung lautet, Wise stelle seine beträchtliche formelle Könnerschaft in den Dienst der Geschichte.

Die verruchte Rothaarige

Ihre herausfordernde Entschlossenheit wird Barbara Graham nie verlieren. Selbst wenn der Film ihr Momente der Ruhe, Einkehr, auch Verzweiflung gönnt, wird sie doch nie klein beigeben. Dass es hier eher eine Entwicklung als ein Umkippen gibt, ist „Lasst mich leben“ ebenfalls hoch anzurechnen. Genau wie seine Haltung zu Graham und der Todesstrafe selbst. Obwohl Wise entgegen dem Rat des Produzenten Joseph L. Mankiewicz auf eine lange Rede gegen die Todesstrafe verzichtet hat, braucht man nun wirklich nicht an seiner Haltung zu zweifeln. Sie wird auch dadurch deutlich, dass er einerseits die Unschuld der Graham nicht klar behauptet, aber andererseits eindrücklich die Vorverurteilung der Öffentlichkeit und eines Großteils der Medien zeigt . Und wieder hilft ihm Susan Hayward dabei enorm. Sie war rothaarig, jeder wusste das, oft hatten ihre Rollen einen Bezug dazu, und klar, rothaarig wurde von Lieschen Müller erst einmal mit „verrucht“ assoziiert. Auch in „Lasst mich leben“ wird diese Haarfarbe thematisiert, wenn auch nur im Dialog, da wie erwähnt in Schwarz-Weiß gedreht. Merke: Das Böse liegt immer im Auge des Betrachters.

Barbara Graham hat das nichts genützt. Sie musste ihren Gang gehen, von der Überholspur in die Todeszelle. Der vorliegende Film zeigt kongenial diese beklemmende Entschleunigung bis zum Dead End.

Meine 2004er-DVD von MGM ist dem Vernehmen nach um drei Minuten gekürzt. 2021 erfolgte eine anscheinend ungeschnittene Neuauflage als DVD im Mediabook und Blu-ray im Softcase durch das weithin unbekannte Label UCM.ONE (Soulfood). Über Aufmachung und Qualität dieser Neuveröffentlichung vermag ich keine Angaben zu machen. Abschließend ein Tipp: Wer mehr wissen will, dem sei das Buch „Der unbestechliche Blick – Robert Wise und seine Filme“ von Lars-Olav Beier empfohlen. Sagen wir es ehrlich, auch diese Rezension hat ihm einiges zu verdanken. Es ist 1996 erschienen und antiquarisch zu finden.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Wise haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Susan Hayward unter Schauspielerinnen.

Veröffentlichung: 28. Mai 2021 als DVD im Mediabook und Blu-ray, 24. Mai 2004 als DVD

Länge: 121 Min. (Blu-ray), 117 Min. (DVD), 114 Min. (DVD, gekürzt)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: I Want to Live!
USA 1958
Regie: Robert Wise
Drehbuch: Nelson Gidding, Don Mankiewicz, nach Reportagen von Edward S. Montgomery und Briefen Barbara Grahams
Besetzung: Susan Hayward, Simon Oakland, Virginia Vincent, Theodore Bikel, Wesley Lau, Philip Coolidge, Lou Krugman, James Philbrook, Bartlett Robinson, Gage Clarke, Joe De Santis, John Marley, Raymond Bailey, Alice Backes, Gertrude Flynn, Russell Thorson, Dabbs Greer
Zusatzmaterial 2021: Originaltrailer, Bildergalerie, nur Mediabook: 16-seitiges Booklet
Zusatzmaterial 2004: keins
Label/Vertrieb 2021: UCM.ONE (Soulfood)
Label/Vertrieb 2004: MGM

Copyright 2023 by Tonio Klein
Packshot DVD: © 2004 MGM, Packshot Blu-ray & Mediabook: © 2021 UCM.ONE (Soulfood)

 

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