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Horror für Halloween (XXXIV) / Lucio Fulci (X): Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz: Moral statt Exploitation – Fulcis Meisterstück

29 Okt

Non si sevizia un paperino

Von Tonio Klein

Horrorthriller // Ein rätselhafter Beginn, bestehend aus verschiedenen Einzelszenen, die zunächst schwer zueinander in Beziehung zu setzen sind. Und in denen – dem Rezensionstitel zum Trotz – an Exploitation so ziemlich alles geboten wird, was vorstellbar ist: Sex, Tod – und die unsägliche Lust des Schauens, des Blicks zu etwas offenbar Verbotenem.

Wahnsinn, aber mit Methode

Eine Frau gräbt ein Kinderskelett aus. Die drei Jungs Michele (Marcello Tamborra), Bruno und Tonino (beide Darsteller unbekannt) schauen zwei Männern zu, die sich in einer abgelegenen Hütte mit Prostituierten vergnügen; dito „Dorftrottel“ Giuseppe (Vito Passeri), der aber von den Jungs (die doch nicht besser sind als er) gehänselt wird. Überhaupt, die Grausamkeit eigentlich unschuldiger Kinder: Eines von ihnen hat aus Langeweile vor der „spannenden“ Aktion mit einer Zwille auf eine Schlange geschossen, einfach so. Eine junge schöne Frau, die von außerhalb kommende und sich im Kaff langweilende Patrizia (Barbara Bouchet) wird kaum verhohlen einen der Jungs (die alle um die zwölf Jahre alt sind) verführen, sich nackt vor ihm räkeln und ihre Überlegenheit weidlich auskosten angesichts des natürlich erkennbar verunsicherten Steppkes. Zum Sex kommt es glücklicherweise nicht. Stattdessen gibt es den Tod (der allerdings schon durch die Methode des Strangulierens sexuell konnotiert ist). Die Jungs werden ermordet, einer nach dem anderen. Hinzu kommen ein paar Hinweise auf Voodoo.

Und nach diesem ziemlich geballten Anfang voller Hinweise und Motive scheint die Auflösung schnell vorhanden, schon nach dem ersten Drittel von „Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz“ (der deutsche Titelzusatz tauschte das Entlein aus dem italienischen und dem englischen Titel durch ein Kind aus – wenn es denn sein muss). Da ahnen wir, dass die Überfülle an Informationen mindestens ein paar Fährten enthält, die falsch sind. Der Film wird die klassische dreiaktige Struktur einhalten; der zweite Akt endet mit der „Überführung“ einer zur Hexe abgestempelten Frau (Florinda Bolkan) als Täterin, die es wohl nicht gewesen sein wird. Was steckt hinter dem Ganzen?

Und wo kommt sie nun, die Moral?

Der Film erweist sich als beißende Anklage gegen Bigotterie, die verdrängten Lüste und Obsessionen einer rückständigen süditalienischen Gemeinschaft, in der Aberglaube, Blutrache und ein scheinheiliger Katholizismus die Geschicke bestimmen. Das Gesellschaftsbild braucht den Vergleich mit dem schweizerischen Pendant aus Friedrich Dürrenmatts „Es geschah am hellichten Tag“ nicht zu scheuen. Manchmal auf recht drastische Weise zeigt Lucio Fulci, wohin das führt, und in dem (spezialeffekttechnisch beeindruckenden) Schlussbild übertreibt der Mann vielleicht ein bisschen. Auch in einer Selbstjustiz-Szene kann man einmal fragen, ob die diversen eingeschnittenen Großaufnahmen von grausam zugefügten Verletzungen wirklich sein müssen. Indes vermag diese Szene gleichsam zu verstören und zu berühren, ist sie doch nicht um die selbstzweckhafte Erweiterung der Grenzen des Zeigbaren bemüht (was man dem späteren Fulci bisweilen durchaus vorwerfen kann). Stattdessen steht die Szene voll und ganz auf Seiten des Opfers. Um die Totfolterung zu übertönen, lassen die Peiniger ein Radio auf voller Lautstärke laufen, und insbesondere beim zweiten, sehr zärtlichen Lied wird die Qual genauso schmerzhaft spürbar wie in einer Folterszene in „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) von Fulcis Landsmann Sergio Leone. Während damals der große Ennio Morricone für die Musik sorgte, tut dies nun Riz Ortolani, der ähnlich souverän zwischen elegisch und verstörend hin- und herpendelt oder beides mischt.

Wer nun aber denkt, Fulci blicke von außen auf ein rückständiges Wespennest und setze dem italienischen Süden den fortschrittlichen Norden gegenüber, der irrt. Gerade in der Selbstjustiz-Szene kommt wunderbar zum Ausdruck, dass er es sich so einfach nicht macht. In einer (nicht der einzigen) kunstvollen Einstellung, in der die Breitwand optimal ausgenutzt wird und beide Bildhälften mit verschiedenen Brennweiten fotografiert werden, sodass der Eindruck von Tiefenschärfe entsteht, sehen wir: Das Opfer, eine Frau, kann sich blutend einen Berg hinaufschleppen, links im Vordergrund sehen wir sie, rechts im Hintergrund scharf ein Bild, welches sowieso leitmotivischen Charakter hat: eine imposante, riesige Autobahnbrücke, die wie ein moderner Fremdkörper durch die archaische Bergwelt führt. Und nun sehen wir erstmals, was dort passiert: Fröhliche Menschen mit Kindern fahren in den Urlaub. Sie könn(t)en die blutende Frau deutlich sehen, sie kümmern sich aber einen Dreck darum. Man kennt das von Touristen in der Würstl-con-Krauti-„Fremde“, auf „Malle“ oder wo auch immer. So wie die Straße nichts von der Bergwelt weiß, durch die sie führt, so sind auch die Menschen, die sie benutzen, ein nur scheinbar moderner Fremdkörper. Sie lassen ihre Umwelt einfach links liegen, sie nehmen sie nicht einmal wahr. Der Blick der Sterbenden zu einem Kind (bemerken sie einander oder ist das nur Schuss-Gegenschuss?) deutet an, dass sie auf ein Kind wie dasjenige sieht, welches ihr früher gewaltsam genommen worden war und das sie auch nun nicht erreichen kann. Sie hat etwas für immer verloren, und so wird sie Sekunden später ihr Leben verlieren. Die Autos fahren weiter. Sie hatte ihr Kind übrigens verloren, weil es „nicht gesund“ war – ein Schelm, wer Arges oder gar „lebensunwertes Leben“ dabei denkt. Später wird ein geistig zurückgebliebenes Kind eine entscheidende Rolle spielen und die moralisch-anklagende Kraft der ganzen Geschichte noch verstärken.

Keine Guten, nirgends?

Auch die „fortschrittlichen“ Menschen, die nicht nur als Zaungäste vorbeifahren, sondern tragende Rollen haben, sind kaum besser. Die ermittelnden Carabinieri scheinen zwar aufgeklärt, und nicht zufällig sagt einer einmal, um diejenigen festzunehmen, die die Selbstjustiz begangen hätten, müsse man das ganze Dorf festnehmen. Andererseits: Warum verlegen sie den zunächst Festgenommenen nicht des Nachts heimlich, still und leise, sondern unter den Augen und Protesten der geifernden, rachedurstigen Menge? Warum entlassen sie die danach Festgenommene einfach so und beschützen sie nicht, angesichts der doch offenkundigen Gefahr durch den Mob? Wirklich „gut“ ist hier eigentlich niemand, auch die Kinder nicht. Am ehesten ist es noch der von Tomás Milián gespielte römische Reporter Andrea Martelli, dessen Berichte gleichwohl deutlich reißerische Züge tragen. Und ausgerechnet die schöne Patrizia, die wie erwähnt ein reichlich seltsames und latent grausames Verhältnis gegenüber Kindern an den Tag legt, wird zu seiner wichtigsten Helferin.

Auf diese Weise gelingt Fulci ein großes Kunststück: Jeder hat Dreck am Stecken, keiner – auch der Film nicht – erhebt sich über die anderen; und doch ist „Don’t Torture a Duckling“ nicht komplett fatalistisch-misanthropisch, sondern einige der Handelnden haben positive Funktionen. Ihnen sind zwar menschliche Schwächen eigen, aber sie haben sich von diesen noch nicht besiegen lassen. Dies könnten im Grunde also auch die Dörfler schaffen. Dass die einen zum Sumpf und die anderen zu den Guten gehören, entscheidet sich an einem sehr schmalen Grat, ist im Grunde Zufall. Der moralische Impetus ist klar: Wir alle müssen zusehen, uns nicht unterkriegen zu lassen. Wir müssen mal nach rechts und links schauen, anders als die achtlosen Autofahrer, wir müssen hinter die (Vorurteils-)Kulissen schauen, im Gegensatz zu den Dorfbewohnern, die alle wissen, dass einige von ihnen an abgelegenem Orte käuflichen Sex haben – aber denen am wichtigsten ist, dass die Kinder das bloß nicht sehen! Für den Pfarrer Don Alberto Avallone (Marc Porel) scheint es schon die größte Sünde zu sein (hübsches Detail), einmal eine Zigarette zu rauchen. Welche Leiche wird er im Keller haben, welche alle anderen? Neben eindeutigen Verfehlungen finden sich viele kleine und mittelgroße Nachlässigkeiten. Beispielsweise hätten die Eltern eines Jungen ja mal verhindern können, dass ein Stockwerk weiter oben Patrizia ihre Spielchen mit ihm treibt, statt ihren Sohnemann noch zu ihr hinaufzuschicken, damit er ihr Orangensaft bringe. Da können wir nicht mehr mit leichter Hand sagen, dass uns das nicht hätte passieren können, wie auch bei den genannten Fehlern der Polizei.

Die Kirche, die Nackten und die Toten

Recht konkret wird Fulcis Geschichte dann noch bei einer Kritik an der katholischen Kirche, die im Grunde schon später aufgedeckte schreckliche, reale Ereignisse vorwegnimmt – mit der unüberwindbaren Qual begründet, dass die menschliche Natur sich eben gegen gewisse (Denk-)Verbote auflehnt und es zum Schlimmsten kommen kann, wenn diese einfach oktroyiert werden. Das „verbotene Sehen“ des Kindes kommt am Anfang des Filmes ausgerechnet in einem Gottesdienst vor. Es wird sich bezüglich einer anderen Person zeigen, dass das von der Kirche diktierte „Sehverbot“ zu schrecklichen Folgen führen kann. An dieser Stelle ließe sich noch so manche Interpretation entfalten, worauf ich zwecks Spoilervermeidung verzichte. Dass der erzkatholisch geprägte italienische Staat den Film genau an der falschen Stelle angriff, mag zeigen, dass er und dass die Kirche nur zu genau verstanden hatten. Nicht wegen zweier schrecklicher Gewaltszenen musste sich Fulci vor Gericht verantworten – sondern er musste erklären, wie er die Szene mit Patrizia und dem Jungen gedreht hatte. Nun denn …

Fazit: Fulci ist ein Mann der Extreme; ein paar seiner früheren Filme sind bestenfalls routiniert, ein paar seiner späteren Filme erschöpfen sich in drastischer Gewalt – und dann kommt so ein Meisterwerk daher! Fulci kann was. Er kann verstören, aber es steckt wesentlich mehr dahinter als Oberflächenreize. Er kann auch berühren. Hier jedenfalls. Und er hat etwas zu sagen, womit er es sich und uns nicht zu einfach macht. Hier jedenfalls. Wer „Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz“ als ersten Fulci sieht und danach alles von ihm sehen möchte, wird mehr als einmal, wenngleich nicht immer, enttäuscht bis entsetzt sein. Aber dieser Film wird bleiben. Übrigens: Wegen des Titels bitte keine Sorge, dass (womöglich noch reale) Entenqualen vorkommen. Das Enten-Motiv wird sich in einer geköpften Donald-Duck-Puppe des erwähnten, geistig zurückgebliebenen Kindes finden. Wie gesagt, Fulci ist auf der Seite der Hilflosen und gerade auch dieses Kindes. Die Welt um sie herum scheint aber kopflos – wenn auch nicht völlig verdammenswert. In Fulcis ultrahartem Slasher „Der New York Ripper“ (1982) wird sich die Ente dann rächen – der titelgebende Killer sendet Sprachbotschaften mit Donald-Duck-Stimme. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Non si sevizia un paperino“, so der Originaltitel wurde 2015 vom in Brandenburg ansässigen LEFilms Film Restoration & Preservation Services in 2K-Auflösung aufwendig restauriert. Anschließend veröffentlichte ’84 Entertainment den nun offenbar in neuem Glanz erstrahlenden Horrorthriller in diversen schicken und nicht ganz billigen Editionen auf dem deutschen Markt. Da mir keine davon vorliegt, kann ich über die Qualität der Restauration und die Aufmachung der einzelnen Editionen inklusive des teils exklusiv dafür produzierten Bonusmaterials keine Auskunft geben (Auflistung siehe unten). „Die Nacht der lebenden Texte“-Betreiber Volker teilte mir aber mit, das in seinem Regal stehende wattierte Mediabook sei ein echtes Schmuckstück. Wermutstropfen: Alle Editionen sind im Handel vergriffen, einige davon auf dem Sammlermarkt nur sehr teuer zu finden.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Lucio Fulci haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Thomas Milian unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 1. März 2017 als Blu-ray in kleiner Hartbox (auf 250 Exemplare limitiert, Motiv des Mediabook-Covers C), 31. August 2016 als 2-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (Blu-ray & Bonus-DVD, 3 Covermotive à 333 Exemplare), 4. Juli 2016 als 3-Disc Edition große Hartbox (Blu-ray, DVD & Soundtrack-CD, auf 111 Exemplare limitiert, Motiv des Mediabook-Covers B) und 3-Disc Edition Retro Cinema Collection Hartbox (Blu-ray & 2 DVDs), 29. April 2016 als 3-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (Blu-ray & 2 DVDs, wattiert und auf 999 Exemplare limitiert), 20. November 2015 als 4-Disc Limited Edition Leatherbook (Blu-ray, 2 DVDs & Soundtrack-CD, auf 1.250 Exemplare limitiert)

Länge: 108 Min. (Blu-ray), 104 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Non si sevizia un paperino
IT 1972
Regie: Lucio Fulci
Drehbuch: Lucio Fulci, Roberto Gianviti, Gianfranco Clerici
Besetzung: Florinda Bolkan, Barbara Bouchet, Thomas Milian, Irene Papas, Marc Porel, Georges Wilson, Antonello Campodifiori, Ugo D’Alessio, Virgilio Gazzolo, Vito Passeri, Rosalia Maggio, Andrea Aureli, Linda Sini, Franco Balducci, Fausta Avelli, Marcello Tamborra
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Audiokommentar von Prof. Dr. Marcus Stiglegger, Texttafel zur Restauration vor Filmbeginn (26 Sek.), deutscher Trailer, Originaltrailer, italienischer Vor- & Abspann (3:17 Min. und 2:00 Min.), Restaurationsvergleich als Bildergalerie mit Texttafeln (4:42 Min.), Bildergalerie (2:48 Min.), „From the Cutting Table“ – Interview mit Bruno Micheli, (25:39 Min.), „The DP’s Eye“ – d Sergio D’Offizi erinnert sich (46:20 Min.), 20-seitiges Booklet mit einem Text von Kai Naumann, nur Leatherbook: 84-seitiges Buch mit Texten von René Krzok, Prof. Dr. Marcus Stiglegger, Dominik Graf, Torsten Kaiser und Martin Beine, 3 Postkarten, 1 Poster, Zertifikat, Überraschung
Label: ’84 Entertainment
Vertrieb: ELEA-Media

Copyright 2023 by Tonio Klein

Packshots 3, 4 & 5: © 2016 ’84 Entertainment

 
 

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Eine Antwort zu “Horror für Halloween (XXXIV) / Lucio Fulci (X): Don’t Torture a Duckling – Quäle nie ein Kind zum Scherz: Moral statt Exploitation – Fulcis Meisterstück

  1. Martin

    2023/10/29 at 20:35

    Ich wollte den Film kürzlich schauen, aber der Beginn war mir zu rätselhaft, wie du auch schreibst. Ich muss es wohl nochmal versuchen 🙂

     

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