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Brevet – Faszination Radsport (und einige Strapazen)

18 Jan

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Brevet

Von Volker Schönenberger

Radsport-Doku // 1.230 Kilometer in 90 Stunden – von Paris an die Atlantikküste nach Brest in der Bretagne und zurück. Ein ganz schöner Stiefel, den die Teilnehmer des Fahrradmarathons Paris-Brest-Paris da wegradeln müssen. Der Hamburger Filmemacher Michael Reis-Müller hat die Veranstaltung dokumentarisch festgehalten und vermittelt ihre Faszination in sehr schönen Bildern. Sein besonderes Augenmerk gilt einer Teilnehmerin und zwei Teilnehmern, deren Motivation, aber auch Strapazen er veranschaulicht.

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Es geht voran

Zum Titel des Films: Im Radsport bezeichnet ein Brevet (französisch für Prüfung) eine Langstreckenfahrt auf einer festgelegten Route, bei der ein Zeitlimit einzuhalten ist. Ihre Teilnehmer nennen sich Randonneure (französisch für Wanderer). Glaubt man der Wikipedia-Seite des Ausdrucks, ist Paris-Brest-Paris die Königsveranstaltung der Brevets, zum ersten Mal 1931 und heute alle vier Jahre im August veranstaltet vom Audax Club Parisien. 6.000 Teilnehmer – das spricht eine deutliche Sprache. Dieser Brevet hat seine Wurzeln im Radrennen Paris-Brest-Paris, das von 1891 bis 1951 ausgetragen wurde.

Claus Czycholl – seit 25 Jahren dabei

Man verzeihe mir den kleinen Spoiler: Alle drei Protagonisten halten sich wacker und erreichen in der vorgegebenen Zeit das Ziel, das auch der Start war: das Vélodrome National an der Peripherie von Paris. Der heute 72-jährige Hamburger Claus Czycholl nahm erstmals 1991 an Paris-Brest-Paris teil. „Da war es völlig unbekannt in Deutschland“, wie er im Interview im Bonusmaterial der DVD verrät. 2015 markiert seine siebte Teilnahme.

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Sina strampelt sich ab …

Obwohl ihn in der Zeit seit dem 2011er-Brevet eine schwere Erkrankung zurückgeworfen hatte, macht Claus im Film einen hervorragenden Eindruck, kann – wie auch die anderen beiden – dem Kamerateam vom Rad aus immer wieder seinen Zustand kommentieren. Gegen Ende äußert sich Claus erleichtert darüber, dass es mal eine Weile über flaches Land geht. Ein Engländer, der eine Weile zuvor kurz befragt worden war, hatte sich ganz anders angehört: Ihm habe niemand gesagt, dass Frankreich so hügelig sei.

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… und hält sich wacker

Der Hamburger Ingenieur Michael Kopmann (36) hat Erfahrung als Extrem-Ausdauersportler, unter anderem drei Ultra-Triathlons absolviert. Er hat sich seit 2013 aufs Langstrecken-Radfahren verlegt und bekennt während des Films, dass Paris-Brest-Paris für ihn die härteste Herausforderung ist, an der er bislang teilgenommen hat. Dritte im Bunde der Porträtierten ist die 38-jährige Sina Witte. Als Deutsche in Paris lebend, nimmt sie zum zweiten Mal teil. Sie tritt mit ihrem Pariser Freund Victor an, auch wenn die beiden nicht gemeinsam fahren – ihre Zeitziele unterscheiden sich zu sehr. Vier Jahre zuvor war Sina mit einer Zeit von 68,5 Stunden fünftschnellste Frau.

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Nachts wird es kälter, aber nicht leichter

Apropos Zeit: Ein Brevet ist kein Radrennen, der Wettkampf unter den Teilnehmern spielt keine Rolle. Es geht nicht darum, den soundsovielten Platz zu erreichen, sondern um die Bewältigung der Strecke in der Zeit, die man sich selbst gesetzt hat – sofern sie unter der Vorgabe liegt, versteht sich. Große Strapazen auf sich zu nehmen und sie zu überwinden, die eigenen Grenzen auszuloten – das sind Faktoren, die die Motivation beeinflussen. Claus äußert zudem, ihm gefalle auch die geradezu buddhistische Leere, die sich irgendwann im Kopf einstelle, verursacht nicht zuletzt durch das permanente und eintönige Treten in die Pedale. Der Radkranz als Gebetsmühle des Radfahrers – das passt.

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Ein Nickerchen in Ehren kann keiner verwehren

Das Kamerateam fängt auf der Strecke andere Fahrer und Menschen am Wegesrand im Bild ein. Da ist der Teilnehmer, der mit einem uralten und vermutlich sehr schweren Rad der englischen Marke Raleigh antritt – er hatte es bei einer Entrümpelung entdeckt und vor dem Müll gerettet. Da ist das Ehepaar, das Teilnehmern an seinem Stand gratis Crepes und Kaffee anbietet und dafür im Gegenzug eine Postkarte vom Heimatort des bewirteten Radfahrers erbittet – schön. Ein Teilnehmer hatte einen technischen Defekt und konnte eine sehr lange Distanz ausschließlich im höchsten Gang zurücklegen – er ist trotzdem guter Dinge und freut sich des Daseins.

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Halbzeit: Michael (l.) hat Brest erreicht

Drehbuchautor und Regisseur Michael Reis-Müller arbeitet seit 15 Jahren als Filmemacher und TV-Journalist. Er hat zahlreiche Reportagen und Magazinbeiträge erstellt. „Brevet“ ist sein zweiter langer Film nach „Wir waren Absteiger Nr. 1“ (2001), einer Doku über den FC St. Pauli und seine Fans. Die Idee zu „Brevet“ kam ihm vor einigen Jahren, als er für ein Fernsehmagazin ein fünfminütiges Porträt über Claus Czycholl produzierte.

Musik vom Hamburger Singer-Songwriter Digger Barnes

Ein Wort zum Soundtrack: Für die musikalische Untermalung haben sich Michael Reis-Müller und Produzent Ole Hellwig für den Hamburger Singer-Songwriter Digger Barnes entschieden, der auf seiner Facebook-Seite als „ramblin‘ troubadour“ bezeichnet wird. Seine Songs seien dunkle Porträts Gesetzloser und von Suizidkandidaten. Beeinflusst von früher Roots-Musik, Mordballaden und Gospelklängen habe er sich sein eigenes geisterhaftes Universum geschaffen, dass man „Gothic Americana“ oder „Country noir“ nennen könne. Das mag inhaltlich nicht unbedingt auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Paris-Brest-Paris zutreffen, die melancholische Gitarrenmusik untermalt Michael Reis-Müllers Bilder des Brevets aber vorzüglich. Ein absoluter Pluspunkt der ohnehin sorgsam durchkomponierten Doku.

Premiere im Abaton vor ausverkauftem Haus

„Brevet“ ist am selben Tag auf DVD erschienen, an dem im traditionsreichen Hamburger Abaton-Kino die Weltpremiere des Films stattfand. Es war eine angenehme und ausverkaufte Veranstaltung in Anwesenheit des nahezu vollständigen Filmteams inklusive Sina, Claus und Michael. Die Reaktionen des Publikums, die ich mitbekommen habe, waren durchweg positiv. Oft wurde während der Vorführung geschmunzelt, wenn wieder mal ein Teilnehmer selbstironisch seinen erschöpften Zustand kommentierte oder Claus wiederholt sein an Pausenstationen abgestelltes Rennrad suchte, weil er nicht mehr sicher war, wo er es abgestellt hatte (die Suche hat ihn zum Glück nicht entscheidend Zeit gekostet). Mit Sina, Claus und Michael hat Regisseur Michael ohnehin drei Glücksgriffe getan – alle drei äußern sich sympathisch und unterhaltsam, geben bereitwillig Einblick in ihr Inneres während des Brevets.

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Erfahrener Teilnehmer: Claus fährt am liebsten allein

„Brevet“ vermittelt die Faszination des Radsports für leistungswillige Ausdauersportler jenseits des dopingverseuchten Spitzensports. Die Doku macht die Strapazen nachvollziehbar, ebenso aber den Reiz, diese Herausforderung anzunehmen. Sie ist angetan, manchen sportlichen Filmgucker oder manche Filmguckerin zu motivieren, sich selbst einmal am Langstrecken-Radfahren zu versuchen. Mich vielleicht auch? So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.

Zwei weitere Vorführungen in Hamburg

Zwei weitere Vorführungen im Abaton sind für Dienstag, 19., und Montag, 25. Januar angesetzt – Beginn jeweils 18 Uhr. Für den Rest des Jahres hat Produzent Ole Hellwig weitere Vorstellungen in ausgewählten Kinos bundesweit angekündigt. Es lohnt sich!

Veröffentlichung: 16. Januar 2016 als DVD und Video on Demand

Länge: 79 Min.
Altersfreigabe: FSK freigegeben ohne Altersbeschränkung
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Englisch, Französisch
Originaltitel: Brevet
D 2016
Regie: Michael Reis-Müller
Drehbuch: Michael Reis-Müller
Produktion: Ole Hellwig
Musik: Digger Barnes
Mitwirkende: Claus Czycholl, Michael Kopmann, Sina Witte
Zusatzmaterial: Interviews, Outtakes (18 Min.)
Vertrieb: Curly Pictures GmbH & Co. KG

Copyright 2016 by Volker Schönenberger
Fotos & Packshot: © 2016 Curly Pictures GmbH & Co. KG

 

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