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Stalingrad (1993) – Vom Untergang der 6. Armee

18 Feb

Stalingrad

Von Volker Schönenberger

Kriegsdrama // Ist Stalingrad das Trauma der deutschen Wehrmacht? Oder gar ein Trauma des deutschen Volkes? Sicherlich ein Trauma für diejenigen Deutschen, die dort den Vater, Sohn oder Ehemann verloren haben. Die vom 23. August 1942 bis zum 2. Februar 1943 ausgetragene Schlacht von Stalingrad hat sich tief ins kollektive Bewusstsein der Deutschen eingefräst. Die Eroberung der Stadt durch die von General Friedrich Paulus kommandierte 6. Armee der Wehrmacht war Teil einer Fall Blau genannten Offensive mit dem Ziel, die kaukasischen Ölfelder zu erobern. Aber nachdem die Rote Armee die deutschen Streitkräfte in Stalingrad eingekesselt hatte, scheiterte auch der Unternehmen Wintergewitter genannte Versuch, den Kessel von außen zu sprengen und die 6. Armee zu befreien.

Im Häuserkampf von Stalingrad

Die Opferzahlen schwanken, daher an dieser Stelle keine Gewähr für Exaktheit: In Stalingrad wurden etwa 200.000 Soldaten der 6. Armee eingekesselt, 60.000 von ihnen starben an Ort und Stelle. Eine große Zahl Verletzter konnte vor der Aufgabe noch ausgeflogen werden, etwa 110.000 Wehrmachtssoldaten gingen nach Ende der Schlacht in russische Kriegsgefangenschaft. Von ihnen kehrten nur rund 5.000 Männer in den Jahren nach Kriegsende in ihre Heimat zurück. (Zahlen nach Rolf-Dieter Müller: „Der letzte deutsche Krieg – 1939–1945“, 2005). Auf sowjetrussischer Seite waren allerdings ungleich mehr Opfer zu beklagen: Schätzungen gehen von einer Million gefallener Soldaten der Roten Armee aus, während die Zahl der toten Zivilpersonen nicht zu ermitteln sei (Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär [Hrsg.]: „Stalingrad – Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht“, erweiterte Neuausgabe 2012). So habe die Einwohnerzahl der Stadt bei Kriegsausbruch etwa eine halbe Million Menschen betragen, nach Ende der Schlacht lag sie bei 8.000 (nach Jochen Hellbeck: „Die Stalingrad-Protokolle – Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht“, 2012). Die 1961 im Zuge der Entstalinierung wieder in Wolgograd umbenannte Wolga-Metropole zählt heute etwas über eine Million Einwohnerinnen und Einwohner.

Tipp: „Hunde, wollt ihr ewig leben?“

Spielfilm-Umsetzungen der Schlacht von Stalingrad gibt es einige. Genannt sei für bundesdeutsche Produktionen beispielhaft die beeindruckende 1959er-Produktion „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ von Frank Wisbar. 2001 entstand die US-europäische Koproduktion „Duell – Enemy at the Gates“ unter der Regie von Jean-Jacques Annaud. Die Geschichte über das Duell zweier Scharfschützen (Jude Law, Ed Harris) wird dem entsetzlichen Geschehen allerdings nicht gerecht. Die von Fedor Bondarchuk („Attraction“) inszenierte russische Produktion „Stalingrad“ (2013) habe ich noch nicht gesehen.

Das Lazarett quillt über

Joseph Vilsmaiers „Stalingrad“ von 1993 gehört zu den bekanntesten Spielfilmen über die Schlacht. Vor Beginn der Handlung erläutern Texttafeln den aktuellen Kriegsverlauf: Spätsommer 1942. Der Zweite Weltkrieg geht in sein viertes Jahr. Hitlers Armeen halten fast ganz Europa und Teile Nordafrikas besetzt. In Russland läuft die zweite große Sommeroffensive. Ihr Ziel: das Kaspische Meer und die kaukasischen Ölfelder. Die 6. Armee unter Generaloberst Paulus nähert sich in schnellem Vormarsch jener Stadt an der Wolga, in der die grausamste Schlacht des Jahrhunderts stattfinden wird. Stalingrad.

Von Afrika über Italien nach Stalingrad

Die Handlung folgt einer Wehrmachtseinheit von Sturmpionieren, darunter Unteroffizier Manfred „Rollo“ Rohleder (Jochen Nickel) und Obergefreiter Fritz Reiser (Dominique Horwitz). Gerade noch nach ihrem Einsatz im Afrikafeldzug auf Fronturlaub in Italien, finden sich die Soldaten kurz darauf im Zug wieder – sie sind an die Ostfront versetzt worden. Während der Fahrt klärt ihr kommandierender Offizier Leutnant Hans von Witzland (Thomas Kretschmann) sie auch über das Ziel Stalingrad auf. Reaktion eines der Soldaten: Na schön, dann hauen wir dem Iwan eine aufs Fell. Diese lumpige Stadt, die nehmen wir doch in drei Tagen. Der „Landser“ wird bald erfahren, wie falsch er mit dieser Prognose liegt.

Sowjetische Panzer nähern sich …

Zwischen Oktober 1991 und April 1992 unter anderem in Finnland und Tschechien gedreht, stand Regisseur Joseph Vilsmaier („Comedian Harmonists“) ein Budget von 20 Millionen Mark zur Verfügung. Das setzte er für aufwendige Szenenbilder voller schonungsloser Schlachtensequenzen ein. Das Sterben fällt so blutig wie schmutzig aus, für Pathos oder gar Heldentum bleibt kein Platz. Ein Soldat schießt versehentlich einen Kameraden nieder, ein anderer stammelt: Ich hab’ mir in die Hose geschissen, ich hab’ mir in die Hose geschissen. Blutige Einschusslöcher, abgetrennte Gliedmaßen, gar ein vom Rumpf gefetzter Unterleib – derart drastische Bilder vom Grauen des Krieges hatte es im deutschen Film bis dato noch nicht gegeben. Der Wahnwitz steht den Männern ins Gesicht geschrieben. Die Soldaten sind obendrein nicht schablonenhaft gezeichnet, keine Abziehbilder, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, denen wir ihr Handeln und ihre Gefühle jederzeit abnehmen. Auch Sylvester Groth als abgestumpfter Soldat Otto im Strafbataillon sei hier genannt. Die Szenerien wechseln vom Häuserkampf in die Kanalisation bis hin zum bitterkalten Geländeeinsatz im russischen Winter. Etliche Szenen brennen sich ins Gedächtnis ein, etwa, wenn die in Erdlöchern verborgenen Protagonisten sowjetische Panzer heran- und über sich hinwegrollen lassen, um diese mit panzerknackenden Haftminen auszuschalten. Wer angesichts solcher Bilder noch in den Krieg ziehen will, dem ist auch nicht mehr zu helfen. „Stalingrad“ ist intensives Kriegskino von hoher Qualität. Lohn des Aufwands: drei bayerische Filmpreise 1992 in den Kategorien Produktion, Kamera und Schnitt sowie 1994 ein Jupiter als bester nationaler Film.

Kriegsverbrechen an der Ostfront

Kriegsverbrechen kommen in Vilsmaiers „Stalingrad“ lediglich punktuell vor. Der mit dem Unternehmen Barbarossa genannten Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begonnene Deutsch-Sowjetische Krieg war seitens des Deutschen Reichs unter Adolf Hitler als Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug angelegt, Kriegsverbrechen inklusive. Sie gehörten von Anfang an zum Gesamtkonzept. Man denke nur an den sogenannten Kommissarbefehl – die Order, unter sowjetrussischen Kriegsgefangenen identifizierte Politkommissare umgehend und ohne Verhandlung zu erschießen. Für Kriegsverbrechen an der Ostfront waren keineswegs nur die Einsatzgruppen des Reichsführers SS Heinrich Himmler verantwortlich. Auch die Wehrmacht beteiligte sich, was in der Nachkriegs-Bundesrepublik lange Zeit nicht ausgesprochen wurde, heute aber nicht zuletzt dank der Wehrmachtsausstellung als bekannte Tatsache vorausgesetzt werden kann (Leugnern von rechtsaußen zum Trotz). Zu Beginn von „Stalingrad“ werden die gerade dort eingetroffenen Kampfpioniere Zeuge der brutalen Behandlung von Kriegsgefangenen durch Wehrmachtssoldaten. Leutnant von Witzland will dies melden, wird aber nur ausgelacht. Später werden die Soldaten gezwungen, einige Russen zu erschießen, denen Sabotage vorgeworfen wird, darunter einen Minderjährigen. Vilsmaier macht auf diese Weise immerhin deutlich, dass er die Kriegsverbrechen der Wehrmacht nicht leugnet. Dass er ihnen nur wenig Raum gibt, mag daran liegen, dass er sein Augenmerk mehr auf das sinnlose Sterben der Soldaten legen wollte als auf Fragen von Kriegsschuld und Verantwortung, die sich beim von den Deutschen entfesselten Zweiten Weltkrieg ohnehin nicht stellen.

… und überrollen die Deutschen

Eine um knapp acht Minuten längere, vor Jahren bei Arte ausgestrahlte Fassung des Films hat es bis heute leider nicht auf Blu-ray oder DVD geschafft. Wie der Sender an sie gelangte, entzieht sich meiner Kenntnis. Über die Unterschiede zwischen der Langfassung und der auf Blu-ray und DVD veröffentlichten Kinofassung informiert der Schnittbericht. Die im Dezember 2020 veröffentlichte 4K UHD Blu-ray von „Stalingrad“ stellt laut dem geschätzten Kollegen Timo Wolters von Blu-ray-Rezensionen.net eine enorme Verbesserung gegenüber der seiner Ansicht nach kaputt-gefilterten Blu-ray von 2012 dar. Wer auf UHD umgestiegen ist, informiere sich gern bei Timo im Detail über die Qualität. Mir selbst lag die nach der UHD produzierte 2021er-Neuauflage der Blu-ray vor, welche das Label EuroVideo quasi als Nebenprodukt der UHD veröffentlicht hat – und das ist auf jeden Fall positiv gemeint. Die bei der alten Blu-ray offenbar fehlenden Bilddetails und die Filmkörnung scheinen mir bei der neuen vorhanden zu sein. Ich bin mit Bild und Ton jedenfalls sehr zufrieden. Bedauernswert nur, dass es die sehenswerte Doku-Trilogie mit den drei jeweils knapp dreiviertelstündigen Teilen „Der Angriff“, „Der Kessel“ und „Der Untergang“ von der 2003 erschienenen Special Edition Doppel-DVD weder auf Blu-ray noch auf UHD geschafft hat.

Von Theodor Plivier literarisch festgehalten

Ein Literaturtipp: Wer sich das Grauen von Stalingrad auch in Romanform zu Gemüte führen will, greife zu Theodor PliviersStalingrad“ (1945), mit „Moskau“ (1952) und „Berlin“ (1954) Teil seiner Trilogie über den Krieg an der Ostfront.

Auch den Rotarmisten ergeht es übel

Regisseur Joseph Vilsmaier lässt sein „Stalingrad“ denkbar eindringlich mit zwei im Schnee kauernden Wehrmachtssoldaten enden. 2.000 Kilometer von der Heimat entfernt sind sie jämmerlich erfroren, Zigtausenden ihrer Kameraden in den Tod gefolgt. Ein Bild, das nachhaltig wirkt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Dominique Horwitz, Thomas Kretschmann und Jochen Nickel haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Hunde, wollt ihr ewig leben?

Veröffentlichung: 11. Februar 2021 als Blu-ray, 3. Dezember 2020 als 4K UHD Blu-ray, 13. September 2012 als Blu-ray, 8. November 2007 als DVD im Steelbook, 12. Oktober 2006 als DVD, 6. November 2003 als Special Edition Doppel-DVD

Länge: 138 Min. (Blu-ray), 133 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: keine
Originaltitel: Stalingrad
D 1993
Regie: Joseph Vilsmaier
Drehbuch: Jürgen Büscher, Christoph Fromm, Johannes Heide, Joseph Vilsmaier
Besetzung: Dominique Horwitz, Thomas Kretschmann, Jochen Nickel, Sebastian Rudolph, Dana Vávrová, Martin Benrath, Sylvester Groth, Karel Hermánek, Heinz Emigholz, Ferdinand Schuster, Oliver Broumis
Zusatzmaterial: Hinter den Kulissen (6:35 Min.), Joseph Vilsmaier (5:34 Min.), Die Besetzung (6:54 Min.), Kinotrailer, Teaser, Trailer „So weit die Füße tragen“, nur Special Edition Doppel-DVD: Doku-Fernsehserie „Stalingrad“ (Teil 1: „Der Angriff, 44:28 Min., Teil 2: „Der Kessel“, 44:24 Min., Teil 3: „Der Untergang“, 43:18 Min.), Zeitzeugen berichten: Ideologie – „Auf nach Stalingrad“ (2:30 Min.), Häuserkämpfe – „Bitteres Erwachen“ (5:01 Min.), Zivilisten – „Namenloses Elend“ (2:50 Min.), Wintereinbruch – „Kampf ums Überleben“ (2:53 Min.), Untergang – „Ende aller Illusionen“ (1:46 Min.), Todesroulette – „Letzte Hoffnung Luftbrücke“ (2:16 Min.), Interview mit Professor Dr. Guido Knopp, Historiker und Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte (10:43 Min.), Stalingrad heute – Ansichten der Stadt Wolgograd (2:52 Min.)
Label/Vertrieb: EuroVideo Medien GmbH

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 EuroVideo Medien GmbH

 
 

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3 Antworten zu “Stalingrad (1993) – Vom Untergang der 6. Armee

  1. Stepnwolf

    2021/02/25 at 15:42

    Ein beeindruckend nahegehender Film. Fürwahr.

     
  2. belmonte

    2021/02/18 at 17:28

    Der Vorläuferroman von Wassili Grossman, der dann auch einfach „Stalingrad“ heißt, erscheint in neuer Übersetzung im November 2021. Bin gespannt. Es ist ein großartiger, epischer Autor.

    Anscheinend auch sehr gut, aber noch auf meiner Leseliste: Viktor Nekrassow: Stalingrad.

     
  3. belmonte

    2021/02/18 at 13:18

    Der Roman „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossman schildert die Stalingrad-Schlacht von sowjetischer Seite aus. Es ist ein großartiger Roman, breit angelegt in der Tradition großer russischer Romane, der keinen Vergleich mit Tolstois „Krieg und Frieden“ zu scheuen braucht.

    „Leben und Schicksal“ enthält außerdem aus meiner Sicht eine der eindringlichsten Schilderungen der Vernichtung in Auschwitz. Weil der Roman auch den Irrwitz der sowjetischen Gesellschaft beschreibt, wurde Wassili Grossman in der Sowjetunion zur Persona non grata. Der Roman wurde erst 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht.

     

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