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Kanonenboot am Yangtse-Kiang – In diesem Krieg findet niemand seinen Frieden

31 Aug

The Sand Pebbles

Von Tonio Klein

Kriegsdrama // Ein kleines weißes Kanonenboot vor einem großen chinesischen Schiff, dessen fast schwarzes Segel am Ende der Credits zur anschwellenden Musik von Jerry Goldsmith bedrohlich das Bild füllt. Dies gibt die Tonlage vor, wir befinden uns im orientierungslosen China des Jahres 1926. Warum auf Chinas längstem Fluss Yangtse-Kiang ausländische Mächte und vor allem die US-Amerikaner mit Kanonenbooten patrouillieren, weiß niemand mehr so genau. Glücklich ist damit ebenfalls niemand, nicht einmal Collins (Richard Crenna), der auf der „San Pablo“ Kapitän ist, aber seinerseits den Befehl hat, US-Amerikaner zu schützen und sich aus allem anderen herauszuhalten.

Weiter weg geht nicht, um zu sich zu kommen

Ziemlich egal scheint die politische Auseinandersetzung dem Maschinisten Holman (Steve McQueen) zu sein. Er ist der Loner, der Heimatlose, der zur Marine kam, weil es Ärger mit dem Gesetz gegeben hatte und vielleicht auch, um die größtmögliche Veränderung zu erreichen, denn in seiner Heimat Utah „gibt’s kaum Wasser“, wie er einmal lakonisch sagt. Interessanterweise eine Spiegelung von und gleichzeitig Bindeglied zu Wises „Durch die gelbe Hölle“ (1953), in der die Militärs in der Wüste eigentlich Seeleute sind. Immer die Suche nach Heimat in der Fremde. Holmans neue Heimat sei das Schiff, auf dem er sich gerade befinde. Wir können schon zu Beginn ein bisschen zweifeln: Ein Mann sagt über Holman, solche Männer stellten keine besonderen Ansprüche, wenn sie sich nur an gegebenen Befehlen festhalten könnten und die Marine im Gegenzug für sie sorge. Unmittelbar danach sehen wir Holman einen kleinen, aber für mich entscheidenden Moment grübeln, bevor er geschäftig mit seinem Seesack in die Stadt geht, um sich dienstbereit zu melden. So ganz scheint er seine Heimat doch nicht gefunden zu haben! Dennoch: Wenn er, neu auf der „San Pablo“, erstmals den Maschinenraum betritt und allein sein Reich betrachtet und seine Maschine „begrüßt“, ist das wie eine Liebesszene inszeniert, wie eine ganz intime Beziehung Holmans zu dem, wovon er etwas versteht, was er mag und was ihn mehr interessiert als menschlich-politische Ränke (vgl. Lars-Olav Beier: „Der unbestechliche Blick. Robert Wise und seine Filme“, 1996). Regisseur Robert Wise wird noch so manches Mal die Breitwand mit Kolben und Rohren füllen, die teils tiefenscharf an den vorderen Ecken ins Weitwinkelbild hineinragen, majestätisch oder auch bedrohlich. Und wenn wir das ebenfalls je nach Lage majestätische oder bedrohliche Stampfen des Geräts als nahezu einziges Geräusch hören werden, lässt sich daran erinnern, dass Wise unter anderem als Toncutter das Filmhandwerk erlernt hatte und immer im gezielten Einsatz der Akustik besonders stark war.

Das Persönliche wird politisch

Holman wird es natürlich unmöglich sein, sich ganz zu seiner Maschine zurückzuziehen, so wie Collins sich nicht wird auf die Anweisungen von oben zurückziehen können. Die Besatzung der „San Pablo“ wird unaufhaltsam in die politischen Wirren hineingezogen, die immer auch mit persönlichen Wirren, vor allem mit Heimat- und Orientierungslosigkeit, zu tun haben. In einem von den Soldaten frequentierten Bordell (Zeit, Ort, die kargen Tische in dem großen niedrigen Raum und der geheimnisvoll-fiese „Eigner“ der Mädchen erinnern übrigens an den „Limehouse Blues“, eine getanzte Musicalfantasie aus Wises nächstem Film „Star!“) verliebt sich Holmans Kumpel Frenchy (Richard Attenborough) in Maily (Marayat Andriane). Maily ist ebenfalls eine Heimatlose, eine gebürtige Chinesin, die lange in den USA gelebt hatte. Weil sie eine Schuld abtragen muss, kostet ihre Entjungferung den damals astronomischen Preis von 200 Dollar, das Geschacher um sie sowie eine spätere demütigende „Versteigerung“ sind ihr offensichtlich ein Graus. Hier können und wollen Frenchy und Holman nicht mehr teilnahmslos zusehen.

Verbotene Liebe, weit über dem Niveau der gleichnamigen Soap

Durch ein paar dramatisch-missverständliche Ereignisse wird aus dem persönlichen Konflikt die Eskalation des politischen, wird aus Liebe beziehungsweise unmöglicher Liebe Krieg. Es ist so absurd-tragisch, dass man sich an Operettenstaaten erinnert fühlt, bei denen Diplomat A Diplomat B im übertragenen oder wörtlichen Sinne nur einmal auf den Schlips zu treten braucht, um ein „Das bedeutet Kriiieg“ zu evozieren. Hier nun ist Holman der Mann, der eigentlich nur gern seine Ruhe hätte, der aber erkennbar das Herz auf dem rechten Fleck und ein Gewissen hat. Durch Handlungsweisen, die absolut nachvollziehbar sind und gerade zu Anfang gar nicht einmal sonderlich aufrührerisch anmuten, löst er katastrophale Zufälle aus, sodass es auf einmal Todesfälle auf und im Umfeld der „San Pablo“ gibt. Holman ist nie für sie verantwortlich, steht aber jedes Mal mit diesen Fällen in Verbindung. Er ist der unschuldige Teil jener Kraft, die stets das Gute (oder auch mal gar nichts) will und stets das Böse schafft. Diese Kraft, so kritisch scheint es Wise zu sehen, ist Amerika. Oder zumindest das Militär als solches. Im Werkstattgespräch mit Lars-Olav Beier und Robby Müller im genannten Buch hatte sich Wise (von dem bekannt ist, dass er akribisch Hintergründe recherchierte) sehr kritisch über das Militär und seine Präsenz im damaligen China geäußert. Einen entscheidenden Hinweis gibt es im Film selbst. Collins lässt einmal mit Holman Gnade walten: „Nicht wegen ihrer schönen Augen, sondern weil Sie sozusagen ein Symbol unseres Landes geworden sind.“

Heimatlosigkeit und die Sehnsucht nach dem Irgendwo

Tragische, mitunter tödliche Heimat- und Orientierungslosigkeit allerorten: Ein von Holman unter seine Fittiche genommener chinesischer Kuli namens Po-han (Mako) wird von Revolutionären abgeschlachtet, weil er sich mit dem „Feind“ eingelassen habe (dabei dachte Holman noch, er tue ihm gerade etwas Gutes, wenn er ihn eng an das Schiff binde, welches für Po-han anscheinend eine Heimat geworden war und was Holman ein Stück weit ausnutzt, indem er den Mann in einem Boxkampf antreten lässt, um Maily auslösen zu können). Der Traum von Frenchy und Maily, an einen Ort zu gehen, an dem sie sich nicht fragen muss, ob sie Chinesin oder Amerikanerin sei, wird ein Traum bleiben. Zuvor hatten sich beide in einer zärtlichen Szene nach einem (eventuell chinesischen, eventuell Crossover-)Ritus selbst getraut. Das erinnert fast an die traurige Schönheit der heimlichen Trauung der Outcasts Romeo und Julia. Mit „Make of Our Hearts One Heart“ hatte Wise als Co-Regisseur der „West Side Story“ (1961) ja Erfahrung, und eigentlich schreit der ganze Film noch eine andere Sehnsucht des großen Musicals heraus: „Somewhere“ müsse es doch einen Platz für die beiden Liebenden geben. Bloß fehlt hier der Geistliche, der die Trauung vollzieht. Sicherlich, Frenchy und Maily sind in einem Gotteshaus und haben Holman und Shirley (Candice Bergen), eine Lehrerin einer Mission, als Trauzeugen. Aber auf eine Art offiziellen Segen und damit auch auf offizielle Billigung, Respektierung, Akzeptanz, gar positive Anerkennung und Unterstützung werden sie verzichten müssen. Übrigens auch Holman und Shirley, zwischen denen sich eine Beziehung anbahnt. Sie scheint ihr „Somewhere“ gefunden zu haben, in der Mission, in der alle eine Familie seien, in der niemand den anderen frage, woher er komme. Frenchy und Maily könnten dort leben, Shirley und Holman ebenfalls – tja, wenn Fahnenflucht nicht eben ein schweres Delikt wäre.

Am Ende, so viel sei verraten, wollen sie es dennoch versuchen. Indes: Die Kampfhandlungen zwischen diversen chinesischen Gruppen haben sich mittlerweile zugespitzt. Ist die Mission noch sicher? Collins glaubt es nicht, und er kann es nicht ertragen, dass seine Männer nur herumsitzen, belagert und gedemütigt werden. Man kann ihm kaum einen persönlichen Vorwurf machen, dass er für sie, das Schiff und sich selbst einen Sinn sucht und stiften möchte. So soll die „San Pablo“ zur ersten und letzten Bewährungsprobe auslaufen, sollen auch die Männer eine Chance erhalten und die Mission evakuieren, da sie sicherlich bald überfallen werde. Allein, dorthin zu gelangen, ist mit blutigen Auseinandersetzungen verbunden. Nachdem die blütenweißen Uniformen der Marinesoldaten zuvor demütigend mit faulem Obst besudelt wurden, sind sie nun auch noch im wahrsten Sinne des Wortes blutbefleckt.

Vom Weiß der Unschuld wird nicht viel bleiben

Und die Missionsbewohner werden zwangsbeschützt! (Kennt man das nicht von zahlreichen US-Abenteuern in der ganzen Welt?) Der Gipfel des Themas „Heimatlosigkeit“ ist, dass sich alle Missionsbewohner als staatenlos erklärt haben, damit die USA keine Macht mehr über sie haben. Wer ist schon gern staatenlos? Weltweit und bekräftigt durch völkerrechtliche Abkommen gilt Staatenlosigkeit als möglichst zu vermeidender Zustand! Aber Staaten und insbesondere Flaggen, die immer wieder (einmal unheilvoll rauchgeschwängert) ins Bild gerückt werden, dienen hier offenbar als Symbol von Konflikten und mindestens potenziellen Katastrophen, persönlichen wie politischen. Staatenlosigkeit nicht als Übel, sondern als Attribut eines Utopia, eines „Somewhere, somewhen, we’ll find a new way of living, we’ll find a way of forgiving.“ Sogar Holman will nun hier seine Heimat sehen, der doch sein Leben der Marine gewidmet hatte und nicht einfach desertieren wollte. Aber vielleicht hatte die Lehrerin Shirley ja recht mit der Bemerkung, er sei (wegen der fast väterlichen Beziehung zu Po-han) als Lehrer besser denn als Soldat.

Spoilerwarnung für den folgenden Absatz

Werden Collins und die angreifenden Chinesen den Menschen ihren Wunsch lassen, ihr Leben nicht nur jenseits von, sondern gegen die Zugehörigkeit zu Staat und Flagge zu definieren? Nein! Es kommt zu einem ausgefeilt inszenierten nächtlichen Kampf in der Mission, bei dem die Chinesen fast immer verdeckt arbeiten und vor allem über Geräusche bemerkbar sind. Ob dies unvermeidbar oder erst durch die vorherige Präsenz und das Eingreifen der Amerikaner provoziert war, lässt „Kanonenboot am Yangtse-Kiang“ angenehmerweise offen. Das Werk ist eine Tragödie und kein Thesenfilm mit Schuldzuweisungen. Am Ende redet Holman sterbend, sodass er nur noch Brocken sagen kann, davon, dass er doch zu Hause sei (endlich!) und das alles nicht verstehe. Wo doch der Soldatentod angeblich immer einen höheren Sinn habe! Shirley flüchtet über die Berge, es könnte so schön sein wie das Schlussbild aus Wises „Meine Lieder, meine Träume“ (1965), nur weiß sie noch nicht, dass sie die einzige Überlebende ist und dass sie Holman, den sie liebt, verloren hat. Somit haben sie gemeinsam, dass sie etwas nicht wissen und nicht verstehen. Wises Film zeigt mit Wucht und Konsequenz eine unausweichliche Tragik als Gegenteil dessen, was nach klassischem soldatischen Verständnis Krieg und (Helden?-)Tod eigentlich sein sollten.

Trügerisches Idyll

Was ist zur filmischen Umsetzung zu sagen? Die Erörterung diverser stilistischer Mittel ist bereits oben eingeflossen. Was die Darsteller betrifft, muss insbesondere eine Lanze für Steve McQueen gebrochen werden, über den Til Schweiger gesagt hat, dass er immer noch zwei Gesichtszüge mehr als McQueen drauf habe, wenn es bei Schweiger nur drei seien. Unsinn! Holman ist eben der Loner, der versucht, sich zu seinen Maschinen zurückzuziehen und der eher in sich gekehrt als extrovertiert ist. Wise hat im erwähnten Werkstattgespräch gesagt, McQueen sei wirklich so jemand gewesen, „der es liebte, mit seinen Maschinen, mit seinen Autos, Motorrädern und Gewehren allein zu sein. Er hatte ein tiefes Verständnis für Jack Holman.“ Auch dafür, dass das Holman eigentlich schon von Anfang an nicht mehr genügt. Wir sehen McQueen oft als aufmerksamen Minimalisten, bei dem winzige Regungen und ein kleines Zögern im Gesicht mehr ausdrücken können als jedes Handwedeln eines Robert De Niro. In früheren Jahren wäre vielleicht Robert Mitchum ein perfekter Jack Holman gewesen.

Lang und gerade darum tiefschürfend

Insgesamt ist „The Sand Pebbles“, so der Originaltitel, ein sehr zu empfehlendes Kriegsdrama, das hierzulande in guter Qualität und Ausstattung vorliegt. Wer nicht weiß, worauf er sich einlässt, wird sich vielleicht ein bisschen an den ca. drei Stunden langen Film gewöhnen müssen, der ja zunächst von dem Versuch der Kriegsverhinderung handelt und bei dem es lange dauert, bis „etwas passiert“. Aber insbesondere von der zweiten Hälfte her erschließt sich „Kanonenboot am Yangtse-Kiang“ als konsequentes Drama mit tragischer Wucht, das sowohl intellektuell als auch emotional tief berührt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Wise haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Candice Bergen unter Schauspielerinnen, Filme mit James Hong und Steve McQueen in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 12. Dezember 2008 als Blu-ray, 6. März 2006 und 27. März 2003 als DVD

Länge: 182 Min. (Blu-ray), 175 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: The Sand Pebbles
USA 1966
Regie: Robert Wise
Drehbuch: Robert Anderson, nach einem Roman von Richard McKenna
Besetzung: Steve McQueen, Richard Attenborough, Richard Crenna, Candice Bergen, Emmanuelle Arsan, James Hong, Mako, Larry Gates, Charles Robinson, Simon Oakland, Ford Rainey, Joe Turkel
Zusatzmaterial Blu-ray: Audiokommentar von Robert Wise, Candice Bergen, Mako und Richard Crenna, Trivia Track, Making-of, 3 Informationsbalken („Erinnerungen an Steve McQueen“, „Rob Wise hat das Kommando“, „China 1926“), 2 Radiodokumentationen, 3 Radio-Spots, 13 Road-Show-Szenen, 2 1966er-Featurettes („Ein Schiff namens San Pablo“, „Das Geheimnis der San Pablo“), Trailer
Label/Vertrieb 2003: Twentieth Century Fox Home Entertainment

Copyright 2022 by Tonio Klein

Szenenfotos, DVD-Packshots und unterer Blu-ray-Packshot: © Twentieth Century Fox Home Entertainment

 

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