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The Hitch-Hiker – Per Anhalter durch die Psychogalaxis

08 Feb

The Hitch-Hiker

Von Tonio Klein

Der folgende Text enthält ein paar Spoiler.

Thriller // Als titelgebender Hitch-Hiker (zu deutsch: Anhalter) ermordet Emmett Myers (William Talman) bereits in den ersten paar Minuten des Films in Südkalifornien vier Menschen. Kurz darauf bringt er auf der zu Mexiko gehörigen Halbinsel Niederkalifornien die beiden Freunde Roy Collins (Edmond O’Brien) und Gilbert Bowen (Frank Lovejoy) in seine Gewalt. Auf diese drei wird sich „The Hitch-Hiker“ im Folgenden konzentrieren.

Ausbruch aus Land und Eheroutine

Die Enge des Autos kontrastiert mit der Weite Mexikos – und mit der Fremde. Unsere drei sind nämlich US-Amerikaner, die alle eigentlich gar nicht sein sollten, wo sie sind. Killer Emmett Myers gehört hinter Schloss und Riegel, während Gil und Roy ihren Frauen das Ziel ihres Wochenendausflugs verschwiegen haben. Es entspinnt sich ein spannender, harter, direkter, reduzierter Thriller, in dem es zur Sache geht: Gewalt, Psychoduelle, Versuche, auf sich aufmerksam zu machen und zu fliehen, Standardsituationen wie eine Reifenpanne, parallel dazu die sich wie ein Spinnennetz zusammenziehende Fahndung. Kaum einmal Abwechslung, keine Ablenkung, keine Szenen mit anderen Hauptpersonen, und nicht mal Frauen kommen in diesem Film vor, kein love interest, keine Femme fatale. Wir haben keine andere Möglichkeit, als uns auf das Kidnapping zu konzentrieren, und tauchen dadurch umso tiefer ein, sind mit dabei, wenngleich der Thriller weder den Täter vermenschlicht noch einseitig zur Opferidentifikation nötigt.

Zu dieser auf die Extremsituation reduzierten Perspektive trägt beispielsweise auch die Filmmusik von Leith Stevens bei, die den rauen Charme eines B-Pictures ausstrahlt: immer wuchtig, immer bedrohlich, immer volles Orchester, ein besonders bedrohliches Thema wird oft wiederholt, filigran ist anders. Nur einmal scheint es eine Idylle zu geben, aber sie ist falsch. Ein klassisches Adagio ertönt aus dem Radio, doch das Picknick unserer drei könnte für zwei von ihnen das letzte sein. Vögel kreisen bereits, das wirkt zusammen mit der Musik zunächst fast idyllisch, aber halt: Sind das schon die Geier? „The Hitch-Hiker“ lässt das im Unklaren.

Dekonstruktion von Männlichkeit

Und der Film hat auch sonst einen beunruhigenden Subtext. Dieser kleine, harte Männerthriller, man mag es kaum glauben, wurde von einer Frau inszeniert, von Ida Lupino. Nun mag es etwas ungerecht sein, nur deswegen Ansatzpunkte von Feminismus zu suchen, aber einen Touch von Männlichkeits-Dekonstruktion kann man hier durchaus finden. 1953 entstanden, atmet „The Hitch-Hiker“ das Nachkriegstrauma des Mannes, der seinen selbigen stehen sollte und damit nicht immer gut zurechtkam – nicht umsonst sind Gil und Roy Kriegsveteranen. So furchtbar der Krieg war, aus ihrem Ehealltag wollen sie nun zaghaft ausbrechen. Gil betont einmal, dass er außer im Krieg noch nie so lange von seiner Frau getrennt war – gerade einmal ein vielleicht verlängertes Wochenende! Roy sehnt die Junggesellenzeit noch stärker herbei, will auf der Amüsiermeile einer kleinen Stadt am liebsten gleich mal in eine Bar mit Tänzerinnen gehen, aber Gil ist da zurückhaltender, also wird das nichts. Der Wert der Familie, der wurde beim Wiederzusammenführen der Familien und der moralischen Rekonstruktion nach dem Kriege großgeschrieben, aber er kann auch erdrückend sein.

Gil und Roy wollen sich ein bisschen Freiheit gönnen, sind aber im Grunde zaghaft und unfähig zur Revolte. Emmett hat das andere Extrem gewählt, er ist ein Outlaw, der nie etwas geschenkt bekommen und sich alles selbst genommen hat. Ein bisschen klischeehaft, aber letztlich doch stimmig erklärt er, dass er nicht das Glück hatte, in einer intakten Familie aufzuwachsen. Also wollte er erst gar nicht ein Leben führen, in dem man auf andere Rücksicht nehmen muss und sich bindet. Wie man es auch hat, mit Bilderbuchfamilie wie Gil und Roy oder mit Familienhölle wie Emmett – alle sind unzufrieden und versuchen völlig verschiedene Wege des Aufbegehrens zu gehen. Lupino lässt diese Wege brutal aufeinanderprallen wie die Film-noir-Ästhetik auf die Weiten des Roadmovies und die gleißende mexikanische Sonne.

„The Hitch-Hiker“ verfällt nicht dem Fehler, die Welten von Täter und Opfern zu sehr zu parallelisieren, schon allein, weil Gil und Roy sich deutlich unterscheiden. Gegen Ende ist es Roy, der Mühe hat, seine Aggressionen im Zaum zu halten. Eine klassische Situation des Geiselfilms bekommt so eine Metabedeutung: Emmett zwingt Roy zum Kleidertausch, und als schließlich die Polizei den dreien auflauert und die ersten Schüsse fallen, ruft Roy immer wieder: „I’m not Myers!“ Ja, da ruft er nicht nur die Polizisten, sondern auch sich selbst an, erschrocken über die Vorstellung, durch die Extremsituation sich zu Dingen hinreißen zu lassen, die die Grenzen zwischen Gut und Böse infrage stellen. Genau dies – Achtung, Spoiler – geschieht dann auch: Der scheinbar sauharte Emmett wird festgenommen, ist ohne Knarre auf einmal ein jammerndes Würstchen, und Roy schlägt blindwütig auf den Wehrlosen ein. Den letzten Satz – Gil sagt zu Roy: „It’s all right now.“ – versieht Lupinos Inszenierung deutlich mit einem Fragezeichen.

Ida Lupinos kleine Schwestern der A-Filme

Die US-Amerikaner in der Fremde waren auch in einer inneren Fremde, in einer Ausnahmesituation, und wir können einmal rätseln, wie sie künftig damit zurechtkommen werden. Lupino gibt indes einen hübschen Tipp, der für die Parallelisierung zwischen geografischer und emotionaler Fremde bezeichnend ist: Der besonnenere Gil ist der Einzige, der sich in der Landessprache Spanisch verständigen kann. Übrigens haben zwei Lupino-Regiearbeiten einen Vergleichsfilm aus ausgerechnet jeweils demselben Jahr: John Sturges inszenierte mit der berühmten Barbara Stanwyck 1953 „Sekunden der Angst“, der ähnlich „The Hitch-Hiker“ fragt, ob nicht auch die Angst vor dem Fremden und der Fremde so manche Kalamität auslöst. In diesem in Setting und Reduktion ähnlichen Roadmovie-Thriller hätte die Stanwyck-Figur eine Lebensgefahr für ihren Mann und ihren Sohn viel schneller abwenden könnten, wenn sie sich doch nur minimal auf Spanisch verständigen könnte. „Die Männer“ von 1950 wiederum ist der A-Film-Bruder von Lupinos „Lügende Lippen“. Beide Filme thematisieren den Umgang mit körperlichen Behinderungen, nur hatte „Die Männer“ mit Fred Zinnemann einen bekannten Regisseur, mit Teresa Wright einen Star und mit Marlon Brando einen kommenden Superstar, der hier seinen fulminanten Einstand gab. Alle vier Filme sind hervorragend, und die Lupinos sind die dreckigen kleinen, aber dabei doch so großen Schwestern.

„The Hitch-Hiker“ ist besetzt mit wenig bekannten Darstellern und in der Rolle des Roy dem mittelbekannten Edmond O’Brien („Die barfüßige Gräfin“). Interessant ist, dass William Talman, der hier den Schurken gibt, wieder als (diesmal tragischer und sympathischer) Schurke in „No. 5 Checked Out“ (1956) auftaucht; dies ist ein grandioser TV-Kurzfilm Lupinos. Und ausgerechnet die wunderbare Teresa Wright, in „Die Männer“ an der Seite eines Kriegsversehrten (Marlon Brando), spielt ihrerseits eine Versehrte. Ob das alles Zufall ist? Fest steht jedenfalls dies: „The Hitch-Hiker“ basiert lose auf dem seinerzeit aufsehenerregenden Fall des 1952 in San Quentin hingerichteten Serienmörders Billy Cook. Es ist nachweisbar, dass Lupino zum Beispiel durch gleiche Ortsnamen die Parallelen soweit verdeutlichte, dass jeder sie damals verstand, wiewohl das in der Handlung nur ein loser Anknüpfungspunkt ist.

Style Queen of the Bs

Die Regisseurin erweist sich im Übrigen nicht nur als wacher Geist eines sehr interpretationsfähigen Filmes, sondern sie vergisst dabei auch nicht das Unterhaltungshandwerk. Die ersten paar Minuten sind von einer meisterhaften Noir-Archetypik, die den Atem anhalten lässt. Kein Dialog, keine Gesichter, nur die bedrohliche Musik und die Taten des Hitch-Hikers. Man sieht Beine, hört einen Schrei, einen Schuss, sieht eine Tasche herunterfallen, einen Arm einer Toten aus der Autotür baumeln … Schnell, ökonomisch, nie hektisch, aber ohne Umschweife, mit hartem Noir-Punktlicht, sogar die rotierende Zeitung darf nicht fehlen. Und Lupino ist so gemein, das erste wirkliche Gesicht nicht als bewegtes Bild der Filmhandlung zu zeigen, sondern als Steckbrieffoto Emmetts auf einer Zeitung. Bevor der eigentliche Film losgeht, hat eine Montage bereits die Stimmung und die Gefahr etabliert und ihr ein Gesicht gegeben, das damit schon als eines definiert ist, das sich in die Erzählung (und in die Gesellschaft) nicht integrieren lassen will.

Lupino schildert später auch immer wieder in kurzen Einsprengseln die Polizeiarbeit in solchen Montagesequenzen, wie das gutes, effizientes Warner-Bros.-Handwerk seit den Dreißigern war. Aufschlussreich mag sein, dass sie als eines von mehreren Regievorbildern Raoul Walsh genannt hat. Dieser war ebenfalls versiert im harten, direkten, ökonomischen Erzählen, dennoch oft mit Mehrwert. Montagen einer groß angelegten Verbrecherjagd gibt es beispielsweise in Walshs „Entscheidung in der Sierra“ (1941), starring Ida Lupino. Zwischen den Montagesequenzen von „The Hitch-Hiker“ findet sich wie erwähnt diese irritierende Abwechslung von Enge und Weite, Schatten und sengender Sonne, aber es gibt auch fein durchkomponierte Gesichtsstudien. In einem markanten Psychoduell am Anfang haben wir genau einmal je eine Großaufnahme von allen dreien – was fühlt jeder jetzt wohl? – und gehen dann wieder zu Zwei- oder Drei-Personen-Einstellungen über. Diese lassen uns aber nicht unbedingt in wohlige Distanz zurückfallen, sondern verschaffen uns einen Gesamtüberblick, der die Beunruhigung noch steigert: Wir können einschätzen, was die Protagonisten vielleicht noch nicht einschätzen können. Ganz klassischer und guter Hitchcockscher Suspense durch Informationsvorsprung.

In der Arte-Mediathek verfügbar

„The Hitch-Hiker“ ist also, wie fast alles von Ida Lupino, ein Juwel unter den B-Pictures, das endlich einmal in einer vernünftigen deutschen Edition erscheinen sollte. Immerhin hat der deutsch-französische Kultursender Arte unter dem Titel „Die Filme von Ida Lupino“ vier ihrer Regiearbeiten und ein 2022 entstandenes 24-minütiges Porträt der Filmemacherin in seiner Mediathek platziert, darunter auch „The Hitch-Hiker“, der eigens für die Arte-Ausstrahlung den korrekt ins Deutsche übersetzten Titel „Der Anhalter“ verpasst bekam. Alle Filme, zu denen auch der erwähnte „Lügende Lippen“ zählt, können bis zum 7. Juli 2023 dort abgerufen werden.

Abschließend bin ich als Autor für 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin so frei, auf die Ausgabe 27 der Zeitschrift hinzuweisen. Darin gab ich, zunächst noch als Gastautor, meinen Einstand für das Magazin, und das ausgerechnet mit einem ausführlichen Text über – genau! – Ida Lupino. Wer daran oder an den anderen Themen der Ausgabe Interesse hat: Noch ist sie im Online-Shop verfügbar. Zudem wird im Februar das bereits hier vorbestellbare Sonderheft „Melodram“ erscheinen, zu dem ich vier Texte beisteuern durfte. Einer davon behandelt Lupinos „Der Mann mit zwei Frauen“ (1953), der ebenfalls an angegebener Stelle in der Arte-Mediathek verfügbar ist.

Veröffentlichung (USA): 20. Oktober 2022 und 24. September 2019 als DVD, 15. Oktober 2013 als Blu-ray

Länge: 70 Min. (Blu-ray), 71 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Englisch
Originaltitel: The Hitch-Hiker
USA 1953
Regie: Ida Lupino
Drehbuch: Collier Young, Ida Lupino
Besetzung: Edmond O’Brien, Frank Lovejoy, William Talman, José Torvay, Sam Hayes, Wendell Niles, Jean Del Val, Clark Howat, Natividad Vacío
Zusatzmaterial: Audiokommentar der Filmhistorikerin Imogen Sara Smith
Label/Vertrieb: Kino Lorber Films (Blu-ray), Alpha Video (DVD 2022), KL Studio Classics (DVD 2019)

Copyright 2023 by Tonio Klein

Filmplakat & Packshots: Fair Use, Packshots auch: © Kino Lorber Films (Blu-ray),
Alpha Video (linke DVD), KL Studio Classics (rechte DVD)

 

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