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Clint Eastwood (XXXVII): Ein wahres Verbrechen – Dead Journalist Walking

True Crime

Von Tonio Klein

Justizdrama // Beim ersten Sehen war meine Überzeugung, als Antitodesstrafenfilm tauge Clint Eastwoods „Ein wahres Verbrechen“ nur bedingt. Es ist relativ früh zu erahnen, dass der von Isaiah Washington gespielte Frank Beechum unschuldig in der Todeszelle sitzt. Müsste nicht der ultimative Antitodesstrafenfilm seine Aussage am Beispiel eines Schuldigen anzubringen versuchen? Oder zumindest am Beispiel einer Person, deren Schuld nicht geklärt ist und nach der Hinrichtung auch nicht mehr geklärt werden kann? So handhabt es beispielsweise das auf Fakten beruhende Justizdrama „Lasst mich leben“ (1958) von Robert Wise. Von daher ist „Ein wahres Verbrechen“ vielleicht knapp unter einem „Dead Man Walking“ (1995) von Tim Robbins oder auch unter „Lasst mich leben“ einzuordnen.

Gegensätze ziehen sich an

Er ist aber etwas anderes, und darin so gut und so Eastwood, wie es nur geht. Der Film zeigt anhand zweier gegensätzlicher Charaktere und Schicksale paradoxe Tragiken menschlichen Lebens und schafft faszinierende Porträts der beiden von Eastwood und Washington verkörperten Protagonisten. Eastwood spielt Steve Everett, einen Reporter, der eine Rührstory über die letzten Stunden in der Todeszelle schreiben soll und bald Zweifel an der Schuld des Verurteilten hegt.

Formal wählt der Regisseur Eastwood die Parallelmontage beider sich ständig abwechselnder Handlungsstränge, von denen jeder einer Hauptperson zugeordnet ist. Die beiden Stränge laufen aufeinander zu, das einzige direkte Zusammentreffen von Everett und Beechum ist ein dramaturgischer wie emotionaler Höhepunkt. Diese Parallelmontagetechnik ist seit den Neunzigern so etwas wie Eastwoods Markenzeichen, und er ist hier in Hochform. Er treibt sein Prinzip stilistisch in einer frechen Kompromisslosigkeit auf die Spitze, indem er an den unmöglichsten Stellen die Ebenen wechselt und sie derart ständig aufeinander bezieht. Dabei kann er auch schon mal die Zeit anhalten: Everetts Chefredakteur Alan Mann (James Woods) bläst angesichts der Ankündigung seines Reporters, die Unschuld Beechums beweisen zu wollen, mit einem selten dämlichen Gesichtsausdruck den Zigarettenrauch in Großaufnahme aus. Schnitt, ein kleiner Einschub aus der Beechum-Ebene, Schnitt, es geht mit genau derselben Einstellung von Woods weiter, mit der es zuvor aufgehört hatte.

Auch ohne Zigarette die ewiggleichen Scharmützel: Everett (l.) und Mann

Das ist nicht nur witzig, sondern dieses ständige Hin und Her unterstreicht auch die absurde Gegensätzlichkeit der beiden Figuren, in allem. Beechum soll nicht mehr lange leben, Everett ist insoweit überhaupt nicht bedroht. Aber Everett ist eigentlich schon scheintot und Beechum mitten im Leben, denn er hat all das, was Everett nicht hat: Festigkeit im Glauben, Familie, allgemein: einen Halt, ein Ziel, einen Sinn. Everetts Familie hingegen zerbröselt gerade, er ist der kaputte Zyniker, der zu viel trinkt, zu viel mit jüngeren Frauen fremdgeht und eine vage Ahnung von Freundschaft höchstens mit einem zotenreißenden Penner schließen kann. Keine Frage: Everett will Beechum retten, und damit kann Beechum Everett retten.

Der eine hat seine Frau …

Wieder einmal gibt Eastwood diesen wandelnden Anachronismus wunderbar. Trotz einiger der typischen, abgebrühten Sprüche erkennt man dahinter die Tragik der Figur und ein paar nette Verweise auf andere Eastwoodcharaktere.

… der andere seine junge Geliebte

Sogar der letzte, etwas blödsinnige Satz des Films („Der Weihnachtsmann reitet allein“) verweist darauf, dass Eastwoods Karriere einmal im Sattel begonnen hatte und dass sein Charakter auch in „Ein wahres Verbrechen“ irgendwie in der falschen Zeit lebt. So ist Eastwood fast immer, auf sympathische Weise altmodisch. Im Grunde ist dieser Reporter Everett nicht einmal weit von Dirty Harry entfernt, seine 44er-Magnum ist der Bleistift. „Auf ihre Nase können Sie sich nicht mehr verlassen“, sagt schon ein Chef zu Harry im vierten Dirty-Harry-Film, „Dirty Harry kommt zurück“ (1983). Hier nun meint Everett, seine Nase sei sein ganzes Kapital, und die sage ihm, Beechum sei unschuldig. Nicht mit Hightech, sondern mit einem lächerlich kleinen, zerknitterten Notizblock geht er zu Werke. Und angesichts dieser Anachronismen dürfen auch die Verweise auf Eastwoods fortgeschrittenes Alter nicht fehlen. Spätestens, wenn er dem Vater einer verstorbenen Geliebten gegenübersteht und feststellen muss, älter als dieser Mann zu sein, fasst er sich an die Reporternase und muss sich über sein bisheriges Leben ganz schön wundern.

Die Exekution als Justizverwaltungsvorgang

Auch als Antitodesstrafenfilm ist „Ein wahres Verbrechen“ bei näherem Hinsehen gar nicht schlecht (zumal es ja ebenso ein flammendes Fanal gegen die Todesstrafe darstellt, dass ihr eben auch Unschuldige zum Opfer fallen). Schuldig oder nicht – man muss einfach gesehen haben, wie beknackt es ist, wenn eine geifernde Menge nach Beechums Tod lechzt. Man muss gesehen haben, wie die Hinrichtungsdetails minutiös beschrieben werden. Das war zwar 1999 nicht mehr neu und erinnert stark an „Lasst mich leben“, dem 1958 damit etwas Unerhörtes und Ungesehenes gelang. Aber wichtig ist in „Ein wahres Verbrechen“, dass nicht einmal das ultimative Detail der Feigheit ausgelassen wird: Zwei Beamte leiten einen Stoff in den Körper, aber nur bei einem handelt es sich um das tödliche Gift. Keiner muss sich sagen, er sei es mit Sicherheit gewesen … Durch solche Details wird die Todesstrafe indirekt (und vielleicht sogar gegen den Willen des Befürworters Eastwood) und deshalb besondern wirkungsvoll kritisiert. Auch durch groteske Paradoxien wie diejenige, dass viele Justizbeamte gerade besonders freundlich und zuvorkommend sind. Wenn beispielsweise das halbe Wachpersonal sogar noch mit, ähem, Mordsaufwand einen grünen Buntstift (Farbe des Lebens!) der Tochter sucht, damit Papi ein bisschen schöner sterben kann: Dann zeigt sich, wie der Widerspruch zwischen Haltung und bevorstehender Tat bodenlose Scham offenbart, die mit Überkorrektheit kompensiert werden soll. Eastwood muss gar nicht mit dem Finger zeigen, die Absurdität der Realität spricht schon für sich, und das heißt nichts Gutes für das legale Töten im US-Strafvollzug. Somit ein rundum gelungener Film, wie ihn nur Eastwood machen konnte.

„Ja, ich glaube Ihnen!“ – die entscheidende Begegnung

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von oder mit Clint Eastwood haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Lucy Liu und Mary McCormack unter Schauspielerinnen, Filme mit Michael Jeter und James Woods in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 4. Mai 2016 als Blu-ray im Steelbook und Blu-ray, 14. September 2000 als DVD in der „Clint Eastwood Collection“ (mit „Absolute Power“ und „Die Brücken am Fluss“), 29. Oktober 1999 als DVD

Länge: 127 Min. (Blu-ray), 122 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: True Crime
USA 1999
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: Larry Gross, Paul Brickman, Stephen Schiff
Besetzung: Clint Eastwood, Isaiah Washington, LisaGay Hamilton, James Woods, Denis Leary, Bernard Hill, Diane Venora, Michael McKean, Michael Jeter, Mary McCormack, Hattie Winston, Lucy Liu
Zusatzmaterial: Dokumentation: „The Scene of the Crime“ (9:30 Min.), Interview-Clips „True Crime – True Story“ (22:04 Min.), Musikvideo Diana Krall: „Why Should I Care?“ (3:43 Min.), Original-Kinotrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2023 by Tonio Klein
Szenenfotos & Packshots: © Warner Home Video

 

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