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The Sphinx – Das perfekte Alibi

21 Nov

The Sphinx

Von Ansgar Skulme

Mysterythriller // Ein Gehörloser (Lionel Atwill) wird des Mordes beschuldigt. Er wurde sogar von einem Zeugen gesehen, als er den Raum verließ, in dem man wenig später die Leiche vorfinden würde. Der Haken: Der Zeuge wurde von dem Mann auch angesprochen. Von einem Gehörlosen ohne Stimme? Aha! Na dann ist ja alles klar. Die Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen gerät somit schnell ins Wanken. Das Journalisten-Pärchen Jack Burton (Theodore Newton) und Jerry Crane (Sheila Terry) ist geteilter Meinung über den wohlhabenden Tatverdächtigen. Während die junge Frau auf ein Interview mit dem mysteriösen Gehörlosen hofft, hält Burton ihn weiterhin für so verdächtig, dass man sich besser nicht allein zu ihm in die Höhle des Löwen begeben sollte. So versucht das Paar, gemeinsam mit der Polizei die Hintergründe der Tat aufzudecken. Die Spur führt ins Milieu der Broker, die viel Geld zu gewinnen, aber auch zu verlieren haben und stetig von Korruption und Bankrott bedroht sind. Ein weiterer Mord naht und wieder spricht der Mann in der Nähe des Tatortes; er fragt nach der Uhrzeit, doch es ist nun einmal erwiesen, dass der Verdächtigte und Angeklagte gehörlos ist. Bald gerät auch der Polizei-Inspektor Riley (Robert Ellis) in Gefahr, doch sein Kollege Hogan (Paul Hurst) und der unermüdliche Journalist Burton lassen nicht locker, den Täter weiter in die Enge zu treiben.

„The Sphinx“ ist einer dieser Filme, die einen gewissen Teil ihrer großen Spannung verlieren, wenn man die Lösung einmal kennt, die nichtsdestotrotz aber zumindest das einmalige Schauen absolut lohnen. Ein Ruf, der in jüngerer Vergangenheit beispielsweise „The Sixth Sense“ (1999) zugefallen ist. Gekonnt baut der Film schon in den ersten Momenten Grusel auf, indem man während des Vorspanns im Hintergrund eine schaurige Zeichnung sieht, die das Gesicht von Lionel Atwill mit dem Körper einer ägyptischen Sphinx verbindet. Damit greift der Film schon vorab das verschlagene Mienenspiel Atwills auf, das den Film später immer wieder in hoch spannende Momente versetzt. Ist er der Täter? Was führt er im Schilde? Wozu ist er fähig? War er vielleicht nur zufällig am Tatort, aber hat die Leiche nicht gesehen oder ist zumindest nicht der Mörder? Warum kann er einmal sprechen und dann wieder nicht? Eine interessante, weitgehend stumme Rolle – so kurz nach Ende der Stummfilmzeit. Für einen Pre-Code-Film ist das Werk zwar nicht sonderlich brutal, psychologisch aber trotzdem ein durchaus intensiver Thriller, der eine Stunde kurze und bündige, aber handfeste Spannung garantiert. Wer die ganz harte Pre-Code-Gangart bevorzugt, findet mit „Murders in the Zoo“ die ideale Atwill-Alternative aus demselben Jahr. Die beiden Filme kamen binnen ungefähr zwei Monaten in die US-Kinos, folgen in Lionel Atwills Filmografie hinsichtlich des Kinostart-Datums unmittelbar aufeinander.

Die Kunst der Vertuschung des Nichts

Was macht diesen Film so genial? Rückwirkend erscheint die letztendliche Auflösung recht platt. Man kommt allerdings ins Schmunzeln, wenn man sich vor Augen führt, wie hervorragend es dem Film gelingt, auf dieser Basis eine gute Stunde fesselndes Spannungskino zu entwickeln. „The Sphinx“ ist ein Film wie eine Partie am Pokertisch, wenn eigentlich nur geblufft wird und genau dadurch alle spannenden Spielsituationen entstehen. Aufgrund dieser Tatsache eignet sich der Film geradezu ideal, um zu demonstrieren, wie es dem Kino gelingen kann, aus einer im Grunde simplen Story-Idee einen Stoff zu machen, der nach wesentlich mehr aussieht als er ist und von Anfang an wirkt, als hätte man etwas so Mysteriöses schon lange nicht mehr gesehen. Heutzutage passiert das Phänomen, dass ein Film nach wesentlich mehr aussieht als er ist, häufig durch Action und Lautstärke, „The Sphinx“ allerdings zeigt, dass so etwas auch im bloßen, ja sogar ganz klassischen Spannungskino möglich ist. Ob man sich am Ende des Films dann an den Kopf fasst und sagt: „Nein, oder?! Eigentlich lag es irgendwie auf der Hand.“, ändert letztlich nichts daran, dass man eine Stunde lang gut unterhalten worden ist und bei der Tätersuche und der Jagd nach den Motiven und Tathergängen heiter mit ermittelt hat. Genauso wie auch die Erkenntnis am Ende eines Blockbusters, dass es eigentlich nur viel Getöse und Gepose war, nichts daran ändert, dass der Film unterhaltsam und kurzweilig gewesen sein mag. Man könnte auch sagen, dass hier gewissermaßen Stroh zu Gold gesponnen und mit nichts in der Hand eine ganze Menge gewonnen wird.

Die pure Spannung durch zwei Gesichter

Letzten Endes bezieht der Film seine Spannung neben der bewusst auf ständige Unsicherheit abzielenden Story-Konstruktion und Narration vor allem aus der Darstellung von Lionel Atwill in Zusammenwirkung mit seinem einzigen engen Vertrauten im Film, dem Butler und Gebärdensprachen-Übersetzer Jenks (Lucien Prival). Die Gesichter von Atwill und Prival lassen die Verschlagenheit ihrer Figuren nur so übersprudeln, stetig provozieren beide das Misstrauen im Zuschauer wie auch das der Polizei und des Journalisten Burton, dennoch scheint ihnen einfach nicht beizukommen zu sein. Die Provokationen gehen sogar so weit, dass man manchmal nicht genau weiß, ob Atwill die Handgesten bei der Gebärdensprache absichtlich oberflächlich spielt oder ob es einfach schlecht gespielt oder nur für das ungeübte Auge unverständlich ist, da die anderen Anwesenden die flapsig dahingefegten Handzeichen sowieso nicht verstehen können und sein filmischer Diener wahrscheinlich ohnehin genau instruiert ist, was er als Übersetzer sagen soll. Ob der Gehörlose also tatsächlich Gebärdensprache spricht oder nur mit den Händen wackelt, ist daher praktisch egal und gewissermaßen eine zusätzliche Verhöhnung der Reporter, der Ermittler und somit letztlich auch des ermittelnden Publikums. Das alles wiederum aber nur unter der Voraussetzung geltend, dass Atwill wirklich den Täter spielt – und ist er das überhaupt oder werden hier falsche Fährten gelegt? Der Film führt munter in die Irre. Es scheint so, als würde man als Zuschauer wie auch Ermittler permanent an der Nase herumgeführt.

Man hat zudem stetig das Gefühl, dass eigentlich nur noch ein winziges Puzzleteil zur Lösung fehlt, doch genau dann lassen der Taubstumme und sein Diener die Ermittler und Reporter immer wieder am langen Arm verhungern und scheinen sich noch einen Spaß daraus zu machen, dass ihnen nichts nachzuweisen ist. Privals Spiel ist mimisch noch sehr stark an Stummfilmdarstellungen angelehnt, was die Provokation der Ermittler mit seinen plakativ aufgetragenen hinterhältigen Gesichtsausdrücken umso perfider macht. Atwills Darstellung des Gehörlosen wiederum kommt dem Stummfilmschauspiel selbstredend sowieso recht nahe. Diese beiden Personen, denen man alles zutraut und die die absolute Ausgeburt des Hinterhältigen, Süffisanten und Provokanten zu sein scheinen und dabei auch noch verdammt selbstherrlich auftreten, inmitten des Prunks des von ihnen bewohnten Anwesens, reichen allein schon aus, um das Werk vom bloßen Krimi sogar in Richtung eines Psychothrillers zu erheben – verstärkt noch durch die Möglichkeit, dass man sich die Schuld der beiden anhand aller Oberflächlichkeiten vielleicht sogar nur einbildet. Die Gesichter von Atwill und Prival können einem buchstäblich in der Nacht einkommen, obwohl die beiden im Film im Prinzip nur reden – sei es mittels Gebärdensprache oder verbal – oder einfach schweigen und in sich hineinzulachen scheinen, aber so gut wie keine körperliche Gewalt zur Schau stellen.

Der Gehörlose als mysteriöse Horrorfigur

Interessant ist nicht zuletzt, dass der Film es spielend und schnell schafft, die Stummheit seiner titelgebenden Hauptfigur zu etwas Bedrohlichem zu stilisieren. Normalerweise würde man mit einem Gehörlosen aufgrund seiner Behinderung zunächst einmal Mitleid haben, Atwill jedoch macht die Figur binnen kurzer Zeit verdammt unsympathisch, widerlich und abstoßend, ja sogar beängstigend. Beispielsweise durch überhebliche Kommentare im Gerichtssaal, die von seinem Diener verbal übersetzt und von beiden mit höhnischem Grinsen und nach Beifall heischenden Blicken seitens Atwill bedacht werden. Allerdings verstören vor allem die ständigen intensiven Blicke, die etwas zu verbergen scheinen … nur was? Daher auch der Beiname Sphinx, den ihm im Film Beobachter des Gerichtsprozesses verleihen.

Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie es einem guten Schauspieler gelingen kann, etwas Harmloses und Bemitleidenswertes so umzukehren, dass es in seiner Fremdartigkeit plötzlich beängstigend wird. Diese Figur versteckt sich gewissermaßen hinter der Behinderung und benutzt selbige als Alibi, um allem Anschein nach Untaten zu vertuschen – dies hat etwas sehr Verabscheuungswürdiges an sich, da der Gehörlose sich das Mitgefühl der anderen oder zumindest die Tatsache, dass „der es doch nicht gewesen sein kann“ gnadenlos zunutze zu machen scheint. Das Bild vom vermeintlich hilflosen, armen Mann ohne Gehör wird durch diesen offenbar doch ziemlich selbstgerechten Bonzen absolut konterkariert und dass man nicht einmal mehr den scheinbar Hilflosen trauen kann, erschüttert gewissermaßen den Glauben des Zuschauers an das Gute im Menschen in seinen Grundfesten. Wenn ein Buckliger traurig schaut, hat man Mitleid, fletscht er jedoch die Zähne, ist er plötzlich ein Monster und der Gehörlose, wenn er verschlagen dreinblickt, ist hier plötzlich sehr undurchsichtig, abgründig, berechnend und umso bedrohlicher, weil man kein Wort herausbekommt, was in diesem Kopf vorgeht, obwohl sich offen zu zeigen scheint, dass er Schreckliches im Schilde führt. Man möchte es aus ihm herausprügeln und ihm wie auch seinem Diener das süffisante Grinsen austreiben. Aber er macht einfach damit weiter und provoziert offenbar die, die ihn jagen.

Der Gehörlose und die „Freaks“

Wer einige Tage nach Sichtung dieses Films zufällig einem Gehörlosen begegnet, der auch noch zufällig finster dreinschaut, wird sicherlich kurz ins Grübeln kommen, ähnlich wie „Freaks“ uns den Spiegel vorhält, welche düsteren Abgründe wir in körperlich Behinderten zu sehen vermögen, und Albträume filmische Realität werden lässt – was auch immer man von derartiger Zurschaustellung halten mag. „The Sphinx“ ist gegenüber dem holzhammerartigen „Freaks“ zweifelsohne die weitaus elegantere und schauspielerisch versiertere Variante, uns den verborgen liegenden Horror im Andersartigen und die Angst vor dem Fremdartigen vorzuführen. Wie einfach die Fremdartigkeit allein durch verfälschte Mimik und Gestik zu etwas Bedrohlichem stilisiert werden kann, sollte sich zudem schon wenig später auch als beliebtes Propaganda-Mittel zeigen.

Zu einer deutschen Synchronfassung hat es der Film bisher zwar leider nicht gebracht, damit ist er aber nicht die einzige hervorragende Spannungskino-Errungenschaft mit Lionel Atwill in der Hauptrolle. Im Ausland gibt es annehmbare Bild- und Ton-Transfers zu relativ günstigen Preisen auf DVD – wer klassische Horrorfilme und Psychothriller mag, sollte zugreifen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Lionel Atwill sind in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung (USA): 18. März 2003 als DVD, 17. Juli 2008 als DVD, 19. Oktober 2015 als DVD

Länge: 64 Min.
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Originaltitel: The Sphinx
USA 1933
Regie: Phil Rosen
Drehbuch: Albert DeMond
Besetzung: Lionel Atwill, Sheila Terry, Theodore Newton, Paul Hurst, Luis Alberni, Robert Ellis, Lucien Prival, Lillian Leighton, Paul Fix, Wilfred Lucas
Verleih: Monogram Pictures

Copyright 2017 by Ansgar Skulme
Filmplakat: Fair Use

 

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