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Nosferatu – Phantom der Nacht: Werner Herzogs beeindruckende Hommage an Murnaus Meisterwerk

01 Apr

Nosferatu – Phantom der Nacht

Von Volker Schönenberger

Horror // Schon die Anfangssequenz zieht die Zuschauer unweigerlich in ihren Bann: Zu den düster-tragenden Klängen von Popol Vuhs „Brothers of Light, Sons of Darkness“ zeigt Werner Herzog Aufnahmen der Mumien von Guanajuato, auf natürliche Weise mumifizierter Leichname von Menschen, die im 19. Jahrhundert meist an Cholera gestorben und später exhumiert worden waren, wenn ihre Angehörigen die Friedhofsgebühren nicht zahlen konnten. Die zentralmexikanische Stadt Guanajuato zählt zum Weltkulturerbe.

Jonathan Harker erlebt im Schloss das Grauen

Eine Fledermaus im Dunkeln. Aus dem Schlaf schreckt Lucy Harker (Isabelle Adjani) schreiend hoch. Kaum kann ihr Ehemann Jonathan (Bruno Ganz) seine junge Frau beruhigen. „Ich sehe etwas Grauenhaftes.“ Wir befinden uns im Wismar des 19. Jahrhunderts. Jonathan Harkers Chef, der Makler Renfield (Roland Topor) beauftragt ihn mit einer Dienstreise. Harker soll nach Transsilvanien reisen, um dort einem gewissen Graf Dracula (Klaus Kinski) ein Haus in Wismar zu verkaufen. Mit schelmischem Gekicher warnt Renfield seinen Angestellten vor: „Sie brauchen viel Zeit dazu, und es wird Sie einigen Schweiß kosten und vielleicht auch – ein wenig Blut.“ Trotz großer Ängste seiner Frau reist Harker ab.

Seine Frau Lucy merkt in Wismar, dass etwas ganz und gar nicht stimmt

Ein paar Widrigkeiten ziehen seine Reise kurz vor Erreichen des Ziels in die Länge – die Einheimischen reagieren verschreckt, als Harker ihnen offenbart, ins Schloss von Graf Dracula zu wollen. Ein Kutscher weigert sich, ihn zu befördern oder ihm auch nur ein Pferd zu überlassen. Wohl oder übel muss Harker zu Fuß weiter und erreicht das Schloss des Nachts. Der Hausherr empfängt ihn mit ausgesuchter Höflichkeit und bewirtet ihn persönlich, da die Dienstboten um diese Zeit nicht mehr tätig seien. Als sich Harker mit einem Messer einen harmlosen Schnitt am Daumen zufügt, löst das in Graf Dracula etwas aus …

Aus Graf Orlok wird Graf Dracula

Ende der 1970er-Jahre waren die Rechte an Bram Stokers Roman bereits ausgelaufen, sodass sich Werner Herzog frei bedienen konnte. Graf Dracula, Jonathan Harker, Lucy, Renfield, Dr. van Helsing – bei den Namen der Figuren blieb er der literarischen Vorlage zwar treu, insgesamt orientierte er sich in seiner Umsetzung der Vampirgeschichte stark an F. W. Murnaus expressionistischem Stummfilm-Meisterwerk „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von 1922. Dem wiederum wäre ein Urheberrechtsstreit mit Stokers Witwe beinahe zum Verhängnis geworden, aber dazu vielleicht dereinst etwas mehr. Klaus Kinski verleiht seinem Dracula mit dämonischer Ruhe eine fast ebenso furchterregende Präsenz wie weiland Max Schreck dem Grafen Orlok bei Murnau. Böse Zungen könnten versucht sein, Kinskis Verkörperung des Vampirs als Kopie zu interpretieren, dabei ist es doch tatsächlich eine große Hommage an Graf Orlok. Die Maske ähnelt stark der des 1922er-Vampirfürsten, und einige Einstellungen mit Kinski sind überdeutlich erkennbar an Szenen des alten Films angelehnt.

Tod auf dem Meer

Herzog findet mit so sparsamer wie pointierter musikalischer Untermalung im Doppelsinne unheimlich stimmungsvolle Bilder für seine vampirische Schauermär. Die Windmühlen und Grachten kommen nicht von ungefähr, einige Außenaufnahmen entstanden in den Niederlanden. Anders als bei Murnau wurde nicht in Wismar gedreht, aber immerhin nutzte Werner Herzog für eine schöne Einstellung auch die Lübecker Salzspeicher, wie es Murnau getan hatte. Etliche Sequenzen bringen wunderbaren Schauder, etwa Draculas Schiffsreise vom Schwarzen Meer in Richtung Ostsee, während der er nach und nach die Besatzung tötet, wie der Kapitän in seinem Logbuch festhält. Als das Schiff mit dem nun toten Skipper, der sich noch selbst ans Steuerrad gefesselt hatte, in Wismar eintrifft, bringt es zahllose Ratten – und die Pest.

Harker hetzt zurück in die Heimat

Sieben Jahre nach „Aguirre, der Zorn Gottes“ (1972) markierte „Nosferatu – Phantom der Nacht“ die zweite Zusammenarbeit von Regisseur Werner Herzog und Hauptdarsteller Klaus Kinski. Angeblich wollte Kinski den Vampir etwas dynamischer spielen, als es Herzog vorschwebte, sodass der Regisseur bei seinem Star vor dem Dreh einer Szene einen Wutausbruch provozierte, was bekanntermaßen nicht schwierig war. Dadurch etwas erschöpft, spielte Kinski nun so ruhig, wie Herzog es sich wünschte. Das Ergebnis gibt ihm recht. Wahrheit oder Legende – egal, eine schöne Geschichte allemal. Im selben Jahr drehten die beiden zusammen „Woyzeck“, später folgten „Fitzcarraldo“ (1982) und „Cobra Verde“ (1987). Insgesamt fünf Kooperationen, die Filmgeschichte schrieben – Herzog verarbeitete sie 1999 in seinem Dokumentarfilm „Mein liebster Feind“.

Murnau oder Herzog? Schreck oder Kinski?

Bleiben die Fragen: Murnau oder Herzog? Schreck oder Kinski? Manche heutigen Filmgucker mögen keine Stummfilme oder Schwarz-Weiß-Bilder mehr schauen, ihnen fällt die Wahl leicht – dafür entgeht ihnen aber auch einiges. Für mich ist „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ nach wie vor das Maß aller Dinge im Vampirsektor und ein unerreichtes Meisterwerk – siehe auch meine Rangliste der besten Vampirfilme. Umso bemerkenswerter, dass es Herzog gelungen ist, den Geist beider Vorlagen – Stokers literarischer und Murnaus filmischer – einzufangen und daraus sein ganz eigenes, sehr romantisches Werk zu machen. Wer „Nosferatu – Phantom der Nacht“ als großes Vampirdrama anpreist, tut das völlig zu Recht. Und wer Herzogs Regiearbeit gegenüber Murnaus Stummfilm den Vorzug gibt, möge das auch gern tun. Grandios sind sie beide. Gespenstisch genial.

Doch Graf Dracula ist bereits eingetroffen

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Werner Herzog sind in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Klaus Kinski in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 24. Januar 2013 als Blu-ray, 12. Oktober 2007 und 30. September 2003 als DVD

Länge: 107 Min. (Blu-ray), 105 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Nosferatu – Phantom der Nacht
BRD/F 1979
Regie: Werner Herzog
Drehbuch: Werner Herzog, nach Bram Stokers Roman „Dracula“
Besetzung: Klaus Kinski, Isabelle Adjani, Bruno Ganz, Roland Topor, Walter Ladengast, Dan van Husen, Martje Grohmann
Zusatzmaterial Blu-ray: Audiokommentar von Werner Herzog und Laurens Straub, englische Fassung, Fotogalerie, Making-of, Soundtrack-Auszüge, Dokumentation „Was ich bin, sind meine Filme“ (90 Min.), Trailer, Wendecover
Label/Vertrieb: Studiocanal Home Entertainment

Copyright 2018 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshot: © 2013 Studiocanal Home Entertainment

 
 

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