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Heilstätten – Von der Auferstehung des deutschen Genre-Kinos

06 Sept

Heilstätten

Von Ansgar Skulme

Horror // Die Macher von zwei erfolgreichen, konkurrierenden YouTube-Kanälen treffen sich zu einer Mutprobe. Sieger soll sein, wer es am längsten – natürlich über Nacht – in den schaurigen Beelitz-Heilstätten aushält. Die auf respektlose und waghalsige Streiche spezialisierten Finn (Timmi Trinks) und Charly (Emilio Sakraya) sind sich ihrer Sache recht sicher, da ihre Gegnerin Betty (Nilam Farooq) ihren YouTube-Ruhm vor allem ihrem Aussehen und ihren Fashion-Tipps zu verdanken hat. Zudem haben sie den Experten Theo (Tim Oliver Schultz) dabei, der mit der Geschichte des Ortes und dessen Tücken bestens vertraut ist und dank eines Nebenjobs auch den Schlüssel für das Tor am Außengelände hat. Was soll da schiefgehen? Als Theos Ex-Freundin Marnie (Sonja Gerhardt) Wind von der Sache bekommt, schwant ihr jedoch Böses. Sie erinnert sich an einen früheren Besuch des Geländes, bei dem sie den Geist einer Frau gesehen zu haben glaubt, der in dem Gebäude einstmals schreckliche Dinge angetan wurden.

Lebendig sein macht Spaß!

Kartoffelsalat“ (2015) war zwar nicht der erste abendfüllende Film von Michael David Pate, ist allerdings der Film, dessen mieser Ruf dem Regisseur seither vorauseilt. In der Internet Movie Database zählt der Streifen bis heute zu den ganz großen Flops, zumindest was die User-Bewertungen anbelangt. Da kommt es schon überraschend, dass Pate als Nachfolgeprojekt mit „Heilstätten“ einen waschechten Horrorfilm vorgelegt hat, der klassische Haunted house-Motive aufgreift und diese – passend zu Pates vorherigem Projekt – mit der heutigen YouTube-Generation konfrontiert.

Horror im bewährten Stil

Gedreht wurde in der Heilstätte Grabowsee, da sich diese für das Ansinnen besser eignete als die als Schauplatz ausgegebenen Beelitz-Heilstätten. Wer schon einmal so eine verfallene Heilstätte besichtigen durfte oder Innenaufnahmen davon gesehen hat, dem wird auffallen, dass sich diese Gebäude mit ihrer schaurig-morbiden Aura – zwischen Dunkelheit, herunterhängenden und umherliegenden spitzen Gegenständen, Lichtern am Ende von düsteren Gängen sowie zwischen großen, architektonisch doch recht pompös ausgelegten Sälen, dreckverschmierten Fliesen und fiesen Stolper- wie auch Sturzfallen –, von innen teils so signifikant ähneln, dass man glaubt, der Film sei direkt um die Ecke in genau dem Gebäude gedreht worden, das man besichtigt hat. Auch darüber hinaus weiß „Heilstätten“ mit bewährten, gut dosierten Gruseleffekten zu überzeugen, und die Tatsache, dass sich die YouTube-affinen Figuren die ganze Zeit selbst filmen, ist ästhetisch angenehm gelöst, ohne ständige übertriebene Wackelkamera- und Bildstörungseffekte, die man aus anderen Found-Footage-Produktionen kennt. Zudem ist „Heilstätten“ alles andere als ein Teenager hofierender Werbefilm für Mainstream-Videoblogger, sondern geht vielmehr mit einigen gelungenen medien- und konsumgesellschaftskritischen Ansätzen zu Werke.

Sehr gute Schauspieler

Tückisch werden Produktionen dieser Art, wenn man mit wenig überzeugenden Laiendarstellern oder schlechten Jungschauspielern arbeitet, denn gerade wenn die Figuren sich selbst filmen – oder visuell zumindest dieser Eindruck erzeugt wird –, ist die Kamera natürlich immer besonders nah dran, schauspielerische Unzulänglichkeiten fallen folglich besonders auf. Dies hätte auch „Heilstätten“ passieren können – vor allem beim Rückgriff auf tatsächliche YouTuber als Protagonisten. Ganz im Gegenteil überrascht der Film aber sehr positiv mit einem ziemlich guten Ensemble, darunter einige in ihrer Generation schon jetzt gestandene Jungschauspieler. Insbesondere Sonja Gerhardt, Nilam Farooq, Timmi Trinks und Tim Oliver Schultz stechen mit sehr guten Leistungen hervor. Trinks ist als gewissenlos-blöder YouTuber mit provokant gelebter Naivität, der irgendwann den Ernst der Lage erkennt, verdammt überzeugend und erinnert fast schon erschreckend gut an diverse tatsächlich im Internet auf Video-Plattformen umhergeisternde Selbstdarsteller; dank Nilam Farooq gelingt zudem die Kritik an all den vor allem mit Äußerlichkeiten und ikonischem Getue arbeitenden Videobloggern.

Mit Herzen kann man lieben, kann sie brechen oder auf sie schießen

Sonja Gerhardt lässt eine sehr menschliche, empathische Note in den Film einfließen und Tim Oliver Schultz vollbringt mit seinen hervorragend präzise vorgetragenen Texten das Kunststück, etliche Szenen – trotz des Genres und der Kulisse – wie gutes, manchmal sogar großes Theater wirken zu lassen. Abgesehen davon, dass Schultz einfach über die notwendige, interessante Stimme verfügt und genau weiß, in welcher Tonlage, welchem Tempo und mit welchen Sprechpausen er sie klangvoll einsetzen kann, beeindruckt die Präzision beim Umgang mit allen Dialogen. Man hat schon nach kurzer Zeit das Gefühl, der mit der Serie „Club der roten Bänder“ populär gewordene Schauspieler hätte sich bei jedem Satz des Drehbuchs vorher sehr genaue Gedanken über jedes einzelne Wort und deren Zusammenwirkung innerhalb des Satzverbundes gemacht. Eine Darbietung mit nachhaltigem Effekt, die allein schon reicht, um zu bewirken, dass man sich den Film gern ein zweites Mal ansieht. Ein Horrorfilm – und dann auch noch aus Deutschland –, den man regelrecht als Vorzeigebeispiel ins Seminar für junge Nachwuchsschauspieler mitnehmen und dort präsentieren möchte, da er in einer gewissen Form von Dreifaltigkeit YouTube-Performances mit Filmschauspiel und theaterhaftem Schauspiel verbindet, also drei bedeutsame Ebenen der heutigen Darstell-, Selbstdarstell- und Schauspielkultur. Das ist alles wesentlich komplexer als man erahnen mag; auf einem Niveau angesiedelt, das man einer derartigen Produktion auf den ersten Blick gewissermaßen niemals zutrauen würde.

Aber schon allein des Genre-Kinos wegen …

Völlig unabhängig davon, was ich bisher zu diesem Film geschrieben habe, ist da auch noch der Aspekt, dass man beim Aufschlagen des Kinoprogramms, angesichts eines deutschen Genre-Films aus dem Sektor Spannungskino – erst recht eines Horrorfilms – und dann noch auf der großen Leinwand und nicht nur als TV-Produktion, kaum seinen Augen traute. Wenn man sich bewusst macht, welch beeindruckende Genre-Zeiten das bundesdeutsche Kino allein schon in den 60er-Jahren – und natürlich weit darüber hinaus –, vom Karl-May-Western bis hin zu Edgar Wallace, von Jerry-Cotton-Agentenabenteuern bis zu Doktor-Mabuse-Gruslern und exotischen Abenteuerkrimis, durchlaufen hat, und dann sieht, wie sehr das deutsche Kino in den vergangenen 20 Jahren von historisch ambitionierten, thematisch aber zunehmend einfallslosen Aufarbeitungen der DDR und der Nazizeit gekennzeichnet war, ist ein Film wie „Heilstätten“ selbst dann noch eine Wohltat, wenn er bei Weitem nicht so gut gelungen wäre wie er ist, schon allein weil es sich um einen Kino-Horrorfilm aus Deutschland handelt. Selbst im Fernsehen bei uns auch heute noch mit Eigenproduktionen recht erfolgreiche Genres, wie der Krimi und der Thriller, schaffen es in der Bundesrepublik aktuell, bei Licht betrachtet, kaum noch auf die Leinwand. Das bundesdeutsche Kino braucht heute dringender denn je wieder mehr Mut zu Spannungsfilmen – vom Actionfilm bis zum Politthriller und vom Horrorfilm bis hin zum klassischen Krimi, mehr Abenteuer, mehr Grusel, mehr Fantasy und so weiter und so fort. Es muss nicht immer alles allzu artifiziell sein und es ist auch nicht die alleinige Aufgabe des Kinos, die DDR und die NS-Zeit aufzuarbeiten – betrachtet man die letzten 20 Jahre BRD-Lichtspielhistorie, konnte aber zuweilen durchaus der Eindruck entstehen. Zu allem Überfluss muss man gerade den DDR-kritischen Filmen auch des Öfteren eine allzu eindimensionale Ausrichtung vorwerfen.

Wie viel Licht wird in das Dunkel kommen?

Filme wie beispielsweise „Tattoo“ (2002) haben demgegenüber erheblich zu wenige Nachfolger gefunden. Ehe wir uns darüber beschweren, dass die Amerikaner den Markt mit Kommerzkino überschwemmen, müssen wir uns zunächst an die eigene Nase fassen, weil wir genauso extrem das ebenso einseitige Gegenteil tun. Der Markt wurde überambitioniert, aber gleichsam eintönig mit DDR- und NS-Kritik-Einheitsbrei überflutet – mal als Komödie, mal als historisches Drama –, ohne dass es bis jetzt gelungen wäre, angemessene Verhältnismäßigkeiten bei der Stoffauswahl zurückzuerlangen. Der historisch tuende Standardbrei wird ergänzt von ein paar Großstadtfilmchen, Produktionen mit Matthias Schweighöfer und solchen, die es gern wären, dazu gelegentlich Komödien mit aus dem Fernsehen bekannten Komikern, zudem noch eine Reihe an ins Arthaus-Kino verliebten Streifen, die es in diverse Kinos aber nicht einmal schaffen – ob nun zu Recht oder auch nicht.

So ein harmloser Filmdreh juckt doch keinen

Natürlich gab es auch immer wieder andere Ansätze, um neue Wege oder gute Genre-Traditionen bemühte Filme, aber seit mindestens der Jahrtausendwende vergleichsweise selten. Ausnahmen bestätigen immer die Regel. Ein Film wie „Heilstätten“ hat das Potenzial, an den manchmal doch arg selbstverliebten Negativtrends des deutschen Kinos etwas zu ändern, während etwa gleichzeitig aber bereits Neues aus der mittlerweile nur noch muffigen DDR-Aufarbeitungskiste in den Kinosälen lauert. Auch Produktionen wie „Who Am I – Kein System ist sicher“, „Nur Gott kann mich richten“ und „Spielmacher“ machen Hoffnung darauf, dass deutsches Kino nach bald einem Vierteljahrhundert zunehmender Eintönigkeit so langsam wieder abwechslungsreicher wird. Natürlich streift auch „Heilstätten“ am Rande die deutsche Historie, aber eben nicht mit der klassischen „Wir müssen unbedingt, so wie letzte Woche und die Woche davor, auch heute mal wieder über die Vergangenheit und all das viele Unrecht reden!“-Keule, die man sonst aus dem „modernen“ BRD-Kino gewohnt ist. Damit meine ich nicht, dass Kritik an der DDR per se oder an der Nazizeit überhaupt falsch ist oder irgendwann gänzlich zum Erliegen kommen sollte, jedoch ist es wichtig so etwas wie Relation zu bewahren und nicht alles andere, was Kino sonst noch kann, nebenher fast völlig zu vergessen. Und selbst wenn man über deutsche Geschichte spricht und Filme darüber dreht, ist es ja nun auch nicht so, dass diese erst in den 1930er-Jahren begonnen hätte.

Man nimmt sich oft zu wenig Zeit für nachdenkliche Momente

Bedauerlicherweise erscheint „Heilstätten“ – sagen wir einmal „vorerst“ – nur auf DVD mit magerem Bonusmaterial, nicht als Blu-ray. Es mutet ein wenig an, als hätte man den Film seitens des Vertriebs schon vor seiner Heimkino-Veröffentlichung abgeschrieben. Das hat er nicht verdient. Nun hat es allerdings ja durchaus auch schon Filme gegeben, die erst auf DVD oder Blu-ray zu gebührendem Ruhm gelangt sind. Ob das in diesem Fall auch so sein wird, muss sich zeigen. Als Versatzstück für den nächsten Horror-Filmabend in der WG ist „Heilstätten“ in jedem Fall bestens geeignet – auch wenn man sich für all die filmwissenschaftlichen und filmgeschichtlichen Hintergründe, die man hierzu erörtern kann, herzlich wenig interessiert. Und dass ein Film sowohl bei aufgedrehten Teenies funktioniert, die ihn nur ihrer Stars wegen schauen, als auch aus akademischer Sicht beachtet werden sollte, ist beileibe nicht gerade der Regelfall. Die Zielgruppe, für die „Heilstätten“ Sinn macht, ist ungewöhnlich breit gefächert, ein Zugang auf sehr vielfältige Weise möglich – nun muss er nur noch die entsprechende Aufmerksamkeit finden.

Hier liegt einiges im Argen!

Veröffentlichung: 13. September 2018 als DVD

Länge: 85 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: keine
Originaltitel: Heilstätten
D 2018
Regie: Michael David Pate
Drehbuch: Michael David Pate, Ecki Ziedrich
Besetzung: Sonja Gerhardt, Tim Oliver Schultz, Nilam Farooq, Timmi Trinks, Emilio Sakraya, Lisa-Marie Koroll, Maxine Kazis, Davis Schulz, Farina Flebbe
Zusatzmaterial: Kinotrailer
Label/Vertrieb: Twentieth Century Fox Home Entertainment

Copyright 2018 by Ansgar Skulme

Leben und sterben lassen

Szenenfotos: © 2017 Twentieth Century Fox, Packshot: © 2018 Twentieth Century Fox Home Entertainment

 

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