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Sidney Lumet (V): Angriffsziel Moskau – Welcher Stadt versetzen wir den Todesstoß?

22 Jul

Fail Safe

Von Tonio Klein

Politthriller // Zunächst bekommt ein Stier diesen Todesstoß, in der Arena. Regisseur Sidney Lumet lässt ganz bewusst Gegensätze aufeinanderprallen und eine Irritation entstehen. „New York, 5.30 a.m.“ heißt es, aber dann das erste Bild: Stierkampf in New York, kann das sein? Nein, kann es nicht, und es ist so irrlichternd gefilmt, mit hereinkopierten Gestalten, dass wir ahnen: Hier ist etwas faul. Das ist es tatsächlich. Es handelt sich um den Albtraum des General Black (Dan O’Herlihy), der sich offenbar in der Rolle des Stieres sieht und meint, irgendwann „seinem Matador“ zu begegnen, und dann sei es aus. Augen der Angst beim Stier, Schnitt, Augen der Angst bei Black, nun schweißgebadet in seinem Bett zu sehen. Nicht nur hier: Harte, kontrastreiche Fotografie, oft unbarmherzige Großaufnahmen von Gesichtern. Räume, die durch bewusste Verwendung bestimmter Brennweiten eng, drückend erscheinen, Schatten und Gegenstände, die sich durch ebendieses bedrohlich groß in den Vordergrund bohren. Hierzu wird später das berühmte rote Telefon (in einem Schwarz-Weiß-Film) gehören. Denn wie der (deutsche) Titel schon andeutet: Der kalte Krieg wird möglicherwiese nicht mehr kalt bleiben, es droht nicht weniger als die atomare Zerstörung des Planeten. Im Zuge der Kubakrise ist die Atomkriegsangst auch an Hollywood nicht vorbeigegangen. Mir ist der vorliegende Film dabei lieber als Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964). Bei Kubrick wird am Ende die Erde in die Luft gejagt und der Mann (frei zitiert nach Lars-Olav Beier in „Stanley Kubrick“) weint ihr keine Träne nach.

Lumet kann noch weinen!

Anders gesagt, ihm ist eine Botschaft jenseits von Zynismus wichtig, aber ohne den gelegentlichen Dozentenzeigefinger eines Stanley Kramer – obwohl dieser mit „Das letzte Ufer“ (1959) einen wirklich guten Post-Atomkriegs-Film gemacht hatte. Lumet ist nicht nur Geschichtenerzähler, sondern Filmemacher. Sein Stil ist oft auffällig, aber er lässt ihn immer im Dienst des Inhalts stehen, und das macht gerade „Angriffsziel Moskau“ zu einem herausragenden und extrem packenden Film.

Kriegsspiele

Man ist von dem Politthriller schlicht gefesselt, möchte den DVD-Genuss keine Sekunde unterbrechen und fiebert mit den Protagonisten mit, wenn Lumet die Spannungsschraube anzieht. Durch eine technische Panne werden Kampfflieger mit Atomraketen in Richtung Moskau geschickt. Die Maschinen haben hier schon genauso viel Macht wie in „War Games – Kriegsspiele“ (1983). Jede Zeit hat ihre Atombedrohungsfilme, die Kubakrise und der Nato-Doppelbeschluss. Wie sich bei 19 Jahren Unterschied die Tücken der Automation gleichen, ist erschreckend, hier ist Lumet visionär. Die Uhr läuft unbarmherzig. Kann die Zerstörung der Weltstadt und der darob befürchtete Gegenschlag, der in einen Atomkrieg der Supermächte münden würde, noch gestoppt werden?

Sind 60 Millionen Tote statt 100 Millionen akzeptabel?

Lumet überzeugt sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Er erzählt unbarmherzig und schnörkellos, zeigt aber auch immer, dass es noch um etwas geht und Menschen mehr als Schachfiguren sind. Ein paar Szenen könnte man zwecks Verständnisses der Handlung schlicht weglassen, sie charakterisieren aber die Haupt- und auch die Nebenfiguren. Jeder ist wichtig, die italoamerikanischen Eltern eines Soldaten, die Ehefrau von General Black, sogar eine lüsterne Frau, die entbehrlich zu sein scheint. An ihr sehen wir aber: Professor Groeteschele (Walter Matthau), der vom Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus mit „60 statt 100 Millionen Toten“ träumt, erscheint uns eiskalt, negativ – ein kühler Rechner selbst mit Toten, aber von einer Frau angeekelt, die solchen Gedankenspielchen mit Geilheit statt mit Rationalität begegnet.

Auch der sowjetische Staatschef muss ringen

Was Lumet stattdessen nicht zeigt: Menschenmassen bei den Beratungen, realistische Flugszenen: Das ist ein Kammerspiel. Bei den Szenen in den Cockpits sieht man keinen Hintergrundhimmel, das sind ersichtlich Studioaufnahmen und sollen es auch sein, hereinkopiert sind Archivaufnahmen von Fliegern, bei denen das Bild im Gegensatz zum übrigen Film die Kratzer aufweist, die an eine Dokumentation denken lassen. Ansonsten: Beklemmung, Eingeschlossensein, der Mensch allein mit seinen Ängsten, Beklemmung teils nur durch Akustik. Den sowjetischen Staatschef sehen wir nie und spüren doch anhand seiner Stimme (und wie des Präsidenten „Interpreter“ sie nicht nur übersetzt), dass er ähnliche Gefühlsregungen durchmacht wie sein US-Pendant, und dass er die gleichen Konflikte mit seinem Stab hat, wie es einmal heißt.

Der Schrecken entsteht im Kopf, zum Beispiel auch, wenn Flugbewegungen und Abschüsse nicht real, sondern nur auf einem Radarschirm zu sehen sind. Kein Action-/Abenteuerfilm, sondern ein Drama. Menschen bleiben Menschen, und sie sind fehlbar; indes gelingt Lumet das große Kunststück, das Versagen der Sicherungen (in jeglicher Hinsicht) nicht monokausal als menschliches Versagen zu erklären: Wir sehen sowohl fehlbare als auch schrecklich unfehlbare Menschen. Menschen, die sich den ausgeklügelten und dutzende Male geprobten Gedankenspielchen für den Fall eines unmittelbar bevorstehenden Atomkriegs widersetzen. Und Menschen, die gerade dies nicht tun, was mindestens genauso schlimm ist. Damit die Sowjets keine Manipulationsmöglichkeiten haben, gibt es nämlich keinen Plan B: Was passiert, wenn die Kampfflieger erst einmal den Befehl erhalten haben, Moskau zu bombardieren? Es gibt kein Zurück. Nicht die Stimme des US-Präsidenten (Henry Fonda), nicht die Stimme der Ehefrau, einfach gar nichts darf sie davon überzeugen, die Aktion doch noch abzublasen. Darauf sind sie ewig und drei Tage gedrillt worden. Tja, warum droht die Welt zerstört zu werden? Weil die Menschen fehlbar sind oder weil sie allzu gut „funktionieren“ (was ja auch eine Form von Fehlbarkeit ist)?

Eine Thema fürs Bundesverfassungsgericht

Am Ende entschließt sich der Präsident zu etwas, das erschaudern lässt und bei aller Kalter-Kriegs-Kubakrise-Zeitgebundenheit eine große Aktualität hat. Darf man Menschen opfern, um etwas noch Schlimmeres zu verhindern? Die Frage, ob man besser ein Flugzeug mit 100 Passagieren abschießt, als es durch Terroristenhand auf Tausende krachen zu lassen, hat bereits das Bundesverfassungsgericht beschäftigt und könnte angesichts der weltweiten terroristischen Bedrohung zum realen Schreckensszenario mutieren. Der vorliegende Film regt insoweit zum Nachdenken an, erschreckt und überrascht auch, gerade weil er sich weitgehend als humanistisch erweist, aber am Ende eine inhumane Tat als nahezu ausweglos darstellt. War das wirklich so in diesen Zeiten? Ist es gar allgemeingültig? Wir wissen es nicht.

Wir wissen nur, dass General Black am Ende seinem Dämon begegnen wird. „Der Matador bin ich!“ Und der Bombenabwurfknopf wird die tödliche Klinge, mit der einer Stadt der Todesstoß versetzt wird. Wie auch beim Stierkampf, der ja nur vorgeblich ein Kampf auf Augenhöhe ist, gilt: Die Stadt konnte nichts dafür und hatte keine Chance. Und damit lässt uns Lumet nun allein: Mit einem schrecklichen Ende, das zwar anscheinend gerechtfertigt wird, das aber auch den Menschen, der die Tat ausführen muss, in seine – und unsere! – Abgründe blicken lässt. „Das ist unvermeidlich!“, aber „Schaut, wozu der Mensch fähig ist!“ Und diese erschreckende Erkenntnis des Widerspruchs bleibt.

Audiokommentar von Regisseur Sidney Lumet

Die DVD hat hervorragendes Zusatzmaterial, darunter einen Lumet-Audiokommentar. Der Mann war bis ins hohe Alter blitzgescheit (geboren: 1924, letzter Film: 2007, gestorben: 2011) und hat den DVD-Markt noch bewusst erlebt und mitgestaltet. Und er hat etwas zu sagen statt nur läppische Anekdoten zu erzählen. Ein sehr bewusst gestaltender, gleichzeitig leidenschaftlicher Filmemacher, wie man auch an seinem Buch „Filme machen“ merkt – und eben an seinen Audiokommentaren. Wer auf deutsche Synchronisation verzichten kann, wird beim Referenz-Label „The Criterion Collection“ fündig, das „Fail Safe“ als Blu-ray und DVD in diesem Fall nicht nur in den USA veröffentlicht hat, sondern auch im Vereinigten Königreich, somit geeignet für Abspielgeräte mit westeuropäischem Regionalcode. HD-Fans werden sich insbesondere an der neuen 4K-Restaurierung erfreuen, die vermutlich hohen Ansprüchen genügt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Henry Fonda und Walter Matthau unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 5. September 2006 als DVD

Länge: 107 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: Fail Safe
USA 1964
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Walter Bernstein, nach einem Roman von Eugene Burdick und Harvey Wheeler
Besetzung: Henry Fonda, Walter Matthau, Fritz Weaver, Dan O’Herlihy, Frank Overton, Edward Binns, Larry Hagman, William Hansen, Russell Hardie, Russell Collins, Sorrel Booke
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Regisseur Sidney Lumet
Label/Vertrieb: Sony Pictures Entertainment

Copyright 2020 by Tonio Klein
Packshot: © 2006 Sony Pictures Entertainment

 
 

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3 Antworten zu “Sidney Lumet (V): Angriffsziel Moskau – Welcher Stadt versetzen wir den Todesstoß?

  1. Tonio Klein

    2020/07/24 at 07:40

    Und ich danke für den Dank. Der Vergleich Kubrick vs. Lumet ist meines Erachtens schwer von persönlichen Vorlieben abzukoppeln. Ich möchte dem Mann die Meisterschaft nicht absprechen, habe es aber nicht so sehr mit seinem Zynismus, wie es z. B. Lars-Olav Beier in seinem Essay „Eine Welt ohne Mitleid“ ausdrückt. Falls noch nicht bekannt, empfehle ich nicht nur diesen aus dem großartigen Kubrick-Buch von Bertz & Fischer.

     
    • Kay Sokolowsky

      2020/07/30 at 20:08

      Lieber Tonio Klein – sowohl Sie als auch Beier irren sich gewaltig, wenn Sie Kubrick Zynismus unterstellen. Kubrick stellt zynische Verhältnisse dar, weil er sie so in der Welt, das heißt, der Gesellschaft vorfindet. Diese realistische, unverkitschte Haltung zu seinen Themen macht ihn freilich noch lange nicht zum Zyniker.

      Es wäre schön, könnten Sie (oder der in allen seinen Texten todöde Schwafler Beier) den Unterschied erkennen zwischen dem fertigen Kunstwerk und dem Autor. Ihnen würden sich ganz neue Dimensionen der Ästhetik erschließen, ischwör!

      Das Bertz&Fischer-Kubrick-Buch kenne ich, und ich halte es mitnichten für „großartig“, sondern für eine endlose Stilblütenrabatte, die leider nicht schön duftet, sondern auf jeder Seite nach Akademiker- und Schmockschweißfüßen mufft.

       
  2. Kay Sokolowsky

    2020/07/23 at 20:31

    Lumets Film ist – wie die meisten seiner Filme – vor allem ein großartiges Schauspielerstück. Larry Hagman war wirklich nie besser denn als Dolmetscher des Präsidenten!
    Aaaber: Kubricks „Dr. Strangelove“ ist und bleibt die erheblich tiefere und (wenn man durch die Witze hinduchguckt) erschreckendere, verzweifeltere Version des „Fail Safe“-Stoffs. Warum, zum Beispiel, singt am Ende der Chor „We’ll meet again“, obwohl wir uns nach dem Atomkrieg bestimmt nicht wiedersehen werden? Eventuell damit es uns das Herz zerbricht?
    Von diesem Einwand abgesehen: eine prima Rezension; danke dafür, lieber Tonio Klein!

     

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