RSS

Zelle R17 – Nobody Ever Really Escapes

30 Mai

Brute Force

Von Tonio Klein

Gefängnisdrama // Jules Dassin, der ab 1941 Filme drehte und mit Sachen wie dem etwas zu glamourös geratenen MGM-Widerstandsfilm „Reunion in France“ (1942) noch nicht so ganz glücklich war, begann vielleicht mit diesem Film seine eigentliche Karriere. Von 1947 bis 1950 drehte er vier Film noirs im weitesten Sinne, die kompromisslose Härte mit einem neuen Realismus verbanden. Im ersten von ihnen, eben „Zelle R17“, verband er dies mit dem Gefängnisdrama. Das war eigentlich ein Genre, das in den 1930er-Jahren in den USA populärer war, und schon damals suggerierte Hollywood den Zuschauern nicht, dass es dort beiderseits mustergültig zuginge. „Hölle hinter Gittern“ (1930) brachte die Knast-Klaustrophobie im frühen Tonfilm auch akustisch zum Ausdruck; „20.000 Jahre in Sing-Sing“ (1932) lieferte schon noir-artige Gitterschatten. Und „Ich bin ein entflohener Kettensträfling“ alias „Jagd auf James A.“ (1932) ist vielleicht der härteste von ihnen, der über die Bedingungen der Zwangsarbeit in einigen Bundesstaaten eine rege Diskussion und zaghafte Reförmchen auslöste.

Noch härter, noch fatalistischer als die Gefängnisfilme der 1930er

„Zelle R17“ ist einer der seinerzeit wohl brutalsten Hollywoodfilme, dabei gleichzeitig ein echter und teils auch stilisierter Film noir. Und das bedeutet nicht nur stimmungsvolle, schattenhafte Ausleuchtungen, peitschenden Regen und ellenlange Fluchtperspektiven, sondern oft auch eine Geschichte des Scheiterns. Hier nicht nur des Gestraucheltseins. Die Insassen sind Gescheiterte, die Aufsichtsführenden sind es auch. Aber nicht jeder weiß es. Auch beim Ausbruchsplan ist von vornherein klar, dass er scheitern wird. Vielleicht wissen dies einige der Beteiligten. Belügen sich aber selbst. Das kann verraten werden, denn dem Film geht es erkennbar nicht darum, dass der Zuschauer mitfiebert, ob es gelingt, sondern höchstens, wie es nicht gelingt. Während in Dassins „Rififi“ (1955) der Einbruch superpräzise und ausgeklügelt ist, ist hier der Ausbruch eine unter zahlreichen Unwägbarkeiten und ohne ausreichende Vorbereitungszeit unternommene Angelegenheit. Vor allem, was auch angesprochen, aber bewusst ungelöst übergangen wird: Was macht man, falls es klappt?

Don’t ask for the moon – we have the bars

Die Welt draußen, durch kurze Rückblenden über das Vorleben vierer Zellengenossen präsentiert, ist diejenige der Insassen nicht mehr. Diese Rückblenden, die „Zelle R17“ auch Gelegenheit geben, einmal die Weiblichkeit zu präsentieren, finden manche vielleicht aus der Zeit gefallen, und auch Regisseur Dassin hatte sie ursprünglich gegen Produzent Mark Hellinger abgelehnt. Mindestens eine von ihnen unterstreicht aber die Sinnlosigkeit der Sache: Hauptfigur Joe Collins (Burt Lancaster) hat die noch recht junge Ruth (Ann Blyth) vom Fleck weg geheiratet, ohne dass beide viel voneinander wissen. Sie benötigt eine Krebs-OP, möchte diese aber nur vornehmen lassen, wenn Joe dabei ist, der ihr aber gar nicht erzählt hat, warum er sich lange nicht mehr hat blicken lassen. Davon wissen wir schon eine Menge ohne Rückblende, aber mit ihr wird die so rührend-naive Unschuld wie wirklich große Liebe, aber eben auch Vergeblichkeit stärker fühlbar. Ruth, die zudem im Rollstuhl sitzt (was erst die Rückblende zeigt – die Behinderte bekommt wirklich Liebe statt Mitleid), würde eine Beichte Joes vielleicht sogar verstehen, ist sie doch ebenso eine Gefangene. Aber wie es weitergehen soll mit einem, der doch untertauchen muss, lässt sich wirklich nicht vorstellen.

Athlet, Segelohr, Brillenschlange – egal, Hauptsache kein Verräter

Dabei erliegt der Film nicht der Versuchung, die Gefangenen zu Helden emporzuheben. Abgesehen von einem sanftmütigen Mann, der absurd hart für einen Griff in die Firmenkasse, um seiner Frau „was bieten zu können“, bestraft wird, sind das Verbrecher, Punkt. Anders als etwa im späteren „Flucht von Alcatraz“ (1979) werden die verschiedenen Taten nicht genannt, die Rückblenden geben nur Andeutungen, wenn überhaupt. Entscheidend ist, dass es natürlich eine eigene Soziologie der Knastgesellschaft gibt und wie gut die Männer in diese integriert sind. Man lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, hält zusammen, und vor allem ist man mit Verrätern nicht zimperlich. Dies bekommen zwei Männer auf so drastisch gezeigte wie tödliche Weise zu spüren, einer schon relativ früh – dann ist klar, dass die Protagonisten um Joe nicht zur rückhaltlosen Identifikation taugen. An dieser Stelle ist der Film auch härter und fatalistischer als die Vorgänger, zwei Beispiele: In „Ich bin ein entflohener Kettensträfling“ wird die von Paul Muni gespielte Hauptfigur unschuldig verknackt. In „20.000 Jahre in Sing-Sing“ hat der Protagonist (Spencer Tracy) zwar etwas auf dem Kerbholz, wird sich aber des Vertrauens eines reformaffinen Gefängnisdirektors würdig erweisen und sogar nach dem Freigang zurückkehren – damals ungeheuerlich, so etwas zu gestatten. In beiden Fällen liegt die Lösung auf dem Tisch: Probleme wären zu verkleinern, wenn Polizei und Gerichtsbarkeit beim Einbuchten genauer hinschauten oder wenn verantwortungsvolle Anstaltsleiter denjenigen eine Chance gäben, die es verdienten. Lösungen in „Zelle R17“? Keine!

Besoffen von Macht

Hume Cronyn ist Aufseher Captain Munsey, formell der zweite Mann hinter dem schwächlichen Gefängnisdirektor (Roman Bohnen). Zunächst können wir nicht vollständig sicher sein, ob Munsey einer von der ganz harten Sorte ist, da Cronyn ihn mit durchaus nuanciertem Charisma spielt, statt beispielsweise nur den Brüllaffen wie ein typischer Drill Instructor zu geben. Aber schnell erweist er sich als gleichermaßen gewiefter wie brutaler Sadist, dem Manipulation und psychische Folter der physischen in nichts nachstehen. Während später der von Lee van Cleef gespielte Sentenza in „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) den Gefangenenchor anschwellen lässt, um die Folterung zu übertönen, dreht Munsey ein Motiv aus Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ (immerhin mal nicht der „Walkürenritt“) lauter. Das eine wie das andere atmet die Atmosphäre von NS-Verbrechen, speziell im KZ, wobei der etwas klischeehafte Wagner-Trick gar nicht nötig gewesen wäre. Munseys Vorliebe fürs Uniformierte mit einer recht breitkrempigen Mütze, vor allem aber sein gelegentlich aus leichter Froschperspektive gefilmtes Posieren, spricht ebenfalls diese Sprache, ohne dass die Kostümabteilung die schwarzen, knielangen SS-Mäntel imitieren muss.

Auf der Handlungsebene gelingt dem Gefängnisdrama gegen Ende das hochspannende Zusammenführen zweier paralleler Entwicklungen. Während der Ausbruchsversuch kurz bevorsteht (der nicht etwa heimlich, sondern mittels offenen Kampfes geschehen soll), sind Munseys Intrigen soweit gediehen, dass ein Vorgesetzter dem Direktor den Rücktritt abnötigen kann und die Einsetzung Munseys anordnet – was auch gleich per Mikro auf dem prall gefüllten Gefängnishof bekanntgegeben werden muss. Der Protest der Gefangenen verbindet sich mit der Gewalt der Ausbrecher …

Ganz schön kleiner Mann, aber mit Uniform und Macht: Captain Munsey

… und zuvor schon hatten Zwiegespräche Munseys mit dem humanen älteren Gefängnisarzt Dr. Walters (Art Smith) verdeutlicht, worum es Ersterem geht: Er will Direktor werden anstelle des Direktors. Walters, der wegen seines Alkoholkonsums keine andere Anstellung in seinem Beruf mehr finden würde und ebenso ein Gefangener ist wie die Insassen, gibt den Hobbyphilosophen. Er sei, so sagt er zu Munsey, ein gewöhnlicher Mann, denn ein solcher würde sich wenigstens nur an Alkohol berauschen statt wie Munsey an Macht und der titelgebenden rohen Gewalt (brute force). Nicht nur diese vielleicht minimal zu explizite Stelle verdeutlicht eindringlich: Munsey ist nicht einfach nur ein Typ, den es zufällig an den „richtigen“ Posten gespült hat. Sein mehrfach wiederholtes „Ich mache hier nur meine Arbeit“ ist Täuschung, vielleicht sogar gegenüber sich selbst. Er ist das Schwein. Aber die Kritik des Filmes ist zum Glück umfassender und systemisch, denn es gibt verdammt viele, die das Schwein gewähren beziehungsweise erst haben groß werden lassen.

Wer hat hier die Schlüsselgewalt?

Am Ende gibt’s Blut, Schweiß und jede Menge Feuer, auch Mündungsfeuer. Was danach noch kommt, hätte gewaltig danebengehen können: Der Doc wendet sich, metaphorisch hinter kontrastreichen Gittern zu sehen, direkt an den Zuschauer, und sein „Nobody ever really escapes“ werden die letzten Worte des Filmes. Das geht schon deutlich über einen Zeigefinger à la „Seid brav und kommt gar nicht erst rein“ hinaus: Viele, auch unter den Nicht-Insassen, sind gefangen. Ohne Ausweg.

Die Uhr läuft ab

„Zelle R17“ gelingt die Kombination aus eiskalt präziser und empathischer Inszenierung. Allein die Bedeutung von Uhren: Sie sind omnipräsent, optisch wie inhaltlich. Was sich bei Dassins späterem Einbruchsfilm „Rififi“ noch stärker aufdrängt, dient hier nicht nur der Planung und Durchführung des Ausbruchs, sondern auch anderen Aktionen wie der Ermordung eines Verräters und Alibiverschaffung Collins’, der als Mann im Hintergrund zeitgleich beim Doc ist. Schon diese frühe Kaltschnäuzigkeit trägt dazu bei, keine Identifikationsfigur anzubieten. Zudem sind die immer wieder prominent ins Bild gerückten Uhren halt ein Sinnbild für die Isolation im Knast, in dem naturgemäß Uhrzeiten statt Dinge wie der Stand der Sonne den Tag strukturieren. Davon abgesehen findet die Kamera von William H. Daniels (Oscar für die Kamera von Dassins „Stadt ohne Maske“, 1948) adäquate Bilder für alles Mögliche: die endlos langen Gänge und Mauern, das Tor mit herunterzulassender Brücke als Weg in die Freiheit, das Wasser, das dabei zu überwinden ist, das aber oft auch schon als peitschender Regen omnipräsent und also unüberwindlich scheint. Ein Hof, trotz seiner Weite mit Menschen bis zum Bersten gefüllt. Ein Wachtturm als das Oben, das es zu erobern gilt. Das Unten als Arbeit in einem Schacht voller Schweiß, Dreck, Schlamm und Enge, das gleichwohl angeblich den Weg zum Oben, zum Ausbruch weist. Bilder, ganz verschieden, und doch aus einem Guss. Teile einer schwarzen Welt in etwas, das sich als veritabler Film noir erweist. Trotz des dafür scheinbar ungewöhnlichen Sujets, welches aber genau genommen zu den oft wenig aussichtsreichen Welten des Noir perfekt passt. Jedenfalls wenn man es so gut und hart präsentiert wie hier.

Alter, aber guter DVD-Wein in neuen Schläuchen

Die DVD von Pidax bietet eine gute Bild- und Tonqualität und endlich auch einmal optionale deutsche Untertitel. Der Eigenwert gegenüber der DVD von Concorde besteht indes nur darin, dass Letztere längst vergriffen ist und zu Mondpreisen gehandelt wird. In der Qualität überzeugen sie beide.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Jules Dassin haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Charles Bickford und Burt Lancaster unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 29. April 2022 und 18. Juni 2013 als DVD

Länge: 94 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Brute Force
USA 1947
Regie: Jules Dassin
Drehbuch: Richard Brooks, nach einer Geschichte von Robert Patterson
Besetzung: Burt Lancaster, Hume Cronyn, Charles Bickford, Art Smith, Roman Bohnen, Yvonne De Carlo, Ann Blyth, Ella Raines, Anita Colby, Sam Levene, Jeff Corey, John Hoyt, Jack Overman
Zusatzmaterial 2022: deutscher Trailer, Originaltrailer, Bildergalerie, Werbematerial (PDF), Nachdruck der „Illustrierten Film-Bühne“
Zusatzmaterial 2013: Trailershow
Label 2022: Pidax Film
Vertrieb 2022: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2013: Concorde Home Video

Copyright 2022 by Tonio Klein

Szenenfotos & oberer Packshot: © 2022 Pidax Film,
unterer Packshot: © 2013 Concorde Home Video

 
 

Schlagwörter: , , , , , , , , , ,

Eine Antwort zu “Zelle R17 – Nobody Ever Really Escapes

  1. Christoph Wolf

    2022/05/31 at 07:38

    Klingt nach einem Film, den ich sehen muss.

     

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..