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Zum 70. Geburtstag von Dominik Graf: Die Sieger – Geschmäht und doch verkannt

06 Sept

Die Sieger

Von Lars Johansen

Krimi // Manchmal mag man einen Film sehr gern, der objektiv nicht durchgehend gelungen ist. Ich bitte daher um Verständnis für meine möglicherweise unangebrachte Euphorie, aber ich will versuchen, diese ein wenig zu erklären. „Die Sieger“ (1994) lief im Kino nicht so gut, was ich nie ganz verstanden habe. Eine kluge Auseinandersetzung mit einem Staat, der zum Mittäter bei der RAF geworden ist, auch wenn es vordergründig um die Mafia zu gehen scheint. Die Polizisten sind so fassbar und authentisch und die neue Fassung lässt erahnen, was da von der Produktion herumgepfuscht wurde. Aber selbst wenn nur die Szenen mit Meret Becker blieben, dann reicht es schon für die Ewigkeit. Und wie Dominik Graf Architektur die Menschen dominieren lässt, das sucht seinesgleichen im deutschen Film.

Ein Dank an Dominik Graf

An dieser Stelle muss und möchte ich Dominik Graf, der am 6. September 1952 in München geboren wurde und somit 2022 70 Jahre alt wird, dafür danken, dass er meine Seherfahrung seit nahezu 40 Jahren immer wieder erweitert hat. Ich bin ihm das erste Mal tatsächlich im Kino im Sommer 1984 begegnet. „Treffer“ war eigentlich ein Fernsehfilm, der einen Kinostart spendiert bekam. Den mochte ich, nicht nur, weil ich für Barbara Rudnik auch Motorradfahren gelernt hätte. Die Geschichte war fein erzählt und (nicht nur) die Musik sehr nahe an meinem Geschmack. „1 +1 = 3“ (1979) habe ich erst später gesehen, viel Spaß gehabt und erst danach herausgefunden, dass der Regisseur dort in tragender Rolle mitwirkte. Und er ist ein ein guter Spieler, anders als sein Vater, gewiss, aber wirklich gut, sehr reflektiert. Und „Spieler“ (1990) ist ohnehin einer meiner Lieblingsfilme. Aber ich greife vor.

Der Akt des Sehens

Der Fahnder“ (1984–2005) habe ich von Anfang an verfolgt und als einige der wenigen Vorabendkrimiserien wahrgenommen, deren natürlichen Ton ich mochte. Endlich Menschen, denen man auch im Leben begegnete, deren Sprache natürlich klang. 13 Folgen der Krimiserie inszenierte Dominik Graf zwischen 1985 und 1993. Sein Schimanski-„Tatort: Schwarzes Wochenende“ (1986) gehörte zu den besseren der Reihe, ich begann, eine Handschrift dahinter zu erkennen. Und dann sehe ich, als Überraschungsfilm bei einer Sneak-Preview „Die Katze“ (1988). Wieder ist es das Lied am Anfang, das ich sofort ins Herz schließe: „When I think of all the good times that I’ve wasted having good times.“ Eric Burdon singt und Ralf Richter und Heinz Hoenig röhren mit. George ist endlich mal wieder nicht Schimanski, sondern der Mann, der bei einem narrensicheren Plan im Hintergrund die Fäden zieht. Er kann nur scheitern, so wie er mit all seiner männlichen Virilität letztendlich auch im Bett bei Gudrun Landgrebe versagt. Er ist ihr nicht gewachsen und sie dem Leben nicht. „Tiger, Löwe, Panther“ (1989) setzt da an und zeigt gleich drei Frauen, die sich in den Konventionen gefangen fühlen, mit Männern und Liebhabern jonglieren. Als ich bemerke, dass dieser Film von Graf gedreht wurde, frage ich mich, warum mir das nicht gleich aufgefallen ist – die Handschrift wird deutlicher. Seine Empathie ist stets auch intellektuell und zugleich stellt er sich in den Dienst der Geschichte. Es sind seine Geschichten, die er mir erzählt, und ich mag gern zuhören und -sehen.

Erwähnte ich, dass mich sein Sounddesign begeistert? Ich möchte es ungern Filmmusik nennen, obwohl es sich eindeutig um eine solche handelt. Ich habe immer das Gefühl, Dominik Graf sitze in einem sonnendurchfluteten Raum und begleite live mit dem Klavier. Und wenn ich den Film wiedersehe, klingt die Musik stets ein wenig anders, weil er improvisiert. Auf den Punkt improvisiert und dadurch wirkmächtig, wie gerade eingefallen, so klingt es.

Ein Romantiker von Regisseur

Im Jahr darauf endlich „Spieler“. Anthony Dawson war 20 Jahre zuvor schon in einer anderen deutschen Produktion, „Deadlock“ (1970) aufgetaucht, bei Graf scheint er beinahe ein Geist zu sein oder ein unsterblicher, uralter Spieler für die Ewigkeit. Und Anica Dobra hat er klugerweise synchronisieren lassen, was ihrem Spiel entgegenkommt, denn sie klingt mehr nach ihr als ihre echte Stimme. Dann gibt es noch den allwissenden Erzähler, der irgendwann sagt, er wisse alles, weil er der Erzähler ist. Graf gelingt es immer wieder, Filmtheorie so unauffällig zu integrieren, dass man nicht immer gleich merkt, was er alles über Film, Literatur und Musik weiß. Aber spätestens nach diesem Film wusste ich, dass er ein echter Romantiker sein muss, denn es „Schläft ein Lied in allen Dingen“.

Eine verhängnisvolle Affäre

Natürlich musste er 1993 mit „Die Verflechtung“ eine Folge der vierteiligen Reihe „Morlock“ drehen, die zweite. Die vierte dreht Yves Boisset und da ist Graf in bester Gesellschaft angekommen. Denn er kennt sich sichtbar mit dem französischen Kino aus, speziell mit dem „Polar“, also dem französischen Kriminalfilmgenre, über den er vor ein paar Jahren den äußerst lesenswerten Essay „Tiefes Blau. Eine Hommage an den Polar“ verfasst hat, zu finden im von Ivo Ritzer herausgegebenen „Polar – Französischer Kriminalfilm“. Für mich ist er nicht nur deswegen der legitime Nachfolger von Jean-Pierre Melville. „Tatort: Frau Bu lacht“ (1995) und ich auch, denn neben einem exzellenten Krimi hat er darin sogar Monty Python untergebracht. Mit seinen zwei Folgen von „Sperling“ (1996–2007) – der ersten von 1996 und der fünften von 1998 – gelang es ihm, endlich eine gesamtdeutsche Krimireihe im Fernsehen zu etablieren.

Wie er 1997 mit „Denk ich an Deutschland … Das Wispern im Berg der Dinge“ seinen Vater porträtiert, ist so ehrlich und empathisch, dass es die reine Freude ist. „Der rote Kakadu“ (2005) ist einer der wenigen Filme, der den Osten Deutschlands versteht, denn Grafs Draufsicht zeugt von Hellsichtigkeit und Schärfe. Sein Buch „Kino unter Druck“ aus dem vergangenen Jahr untermauert noch einmal seine große Kompetenz für Kino aus Osteuropa. In den „Polizeiruf 110 – Cassandras Warnung“ (2011) habe ich mich schockverliebt. Ein theoretischer Diskurs über den Giallo als Genre, der trotzdem als Krimi funktioniert und einen Matthias Brandt am Ende tanzen lässt, als würde niemand zusehen. Da ist noch so viel, die Dokus, die Liebe zum Film und natürlich die Kästner-Verfilmung „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ (2021) mit dem wunderbaren Tom Schilling. Dominik Graf ist so jung und frisch, dass man sich wünscht, er möge weiter und weiter drehen, bis irgendwann alles gesagt ist. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.

Nun zu „Die Sieger“

Und die möchte ich nutzen, um ein paar Worte über „Die Sieger“ zu verlieren: Karl Simon (Herbert Knaup) glaubt, bei einem gründlich missratenen Spezialeinsatz gegen ein Mafiasyndikat seinen Kollegen Heinz Schaefer (Hannes Jaenicke) wiedererkannt zu haben, den er tot wähnt. Dieser hatte vor Jahren seinen neugeborenen schwerstbehinderten Sohn getötet und sich anschließend in selbstmörderischer Absicht in den Rhein gestürzt. Eine kopflose Wasserleiche wurde bald darauf als Schaefer identifiziert.

Allein gegen die Mafia

Simon beschäftigt sich intensiver damit und spricht auch mit Schaefers Witwe Sunny (Meret Becker). Diese wird kurz danach von ihrem tatsächlich noch lebenden Mann besucht, was sie in den Grundfesten erschüttert. Simon beginnt derweil eine Affäre mit Melba Dessaul (Katja Flint), der Gattin eines Politikers (Thomas Schütte). Dieser leitet einen Untersuchungsausschuss, welcher die Verwicklungen von Politik und Mafia aufdecken soll. Schaefer arbeitet tatsächlich für korrupte Politiker und wurde von diesen in das Gangstersyndikat eingeschleust. Die Situation eskaliert und Simon und seine Kollegen (unter anderen Heinrich Schafmeister und Hansa Czypionka) gehen nun außerdienstlich gegen Schaefer und seine Auftraggeber vor. Einer entpuppt sich als Verräter und so gerät der Einsatz zum Desaster.

Neue Schnittfassung 2019 bei der Berlinale

„Der Film ist in einem Kern ein Torso, eine Ruine.“ Das hat Graf selbst über „Die Sieger“ gesagt und 2019 bei der Berlinale eine neue Schnittfassung vorgestellt, die versucht, den eigentlichen Film wiederherzustellen, wobei die hinzugefügten Szenen von einem Videoband stammen und daher geringere Qualität aufweisen und Vollbildformat haben. Um es vorwegzunehmen, für mich fügt diese Version dem Original nur wenig Substanzielles zu. Die Probleme liegen schon in der gedrehten Version an sich. Graf fand im Nachhinein, das Drehbuch von Günter Schüttler sei in den zwei Jahren bis zum Drehbeginn verwässert worden. Das angeblich monumentale Budget von zwölf Millionen Mark entpuppte sich als viel zu gering und so mussten Abstriche gemacht werden. Das sieht man vor allem im Finale, in welchem nahezu unmotiviert versucht wird, alle losen Fäden zusammenzufügen. Dabei geht vieles von der eigentlich epischen Erzählstruktur verloren und auf einmal entsteht eine gehetzt wirkende Finalisierung, die den Weg dahin völlig konterkariert. Der Höhepunkt verpufft in Rauch, Feuer und Explosionen, die über Schauwerte verfügen, aber seltsam abgekoppelt wirken – als würden sie nicht zum Film dazugehören. Als hätte irgendjemand von der Produktionsgesellschaft gesagt, man müsse jetzt zum Ende kommen, weil die Zeit abgelaufen sei. Und wie bei einer Klassenarbeit entstehen noch ein paar schnell und hektisch dahingeschriebene Sequenzen, welche die Gesamtnote sicher nicht verbessern.

Aber jetzt gehe ich ja doch böse mit dem Werk ins Gericht. Das meine ich aber nicht so. Der Schluss verstört mich bis heute in seiner offensichtlichen Atemlosigkeit. Gerade weil sich „Die Sieger“ ansonsten Zeit nimmt, uns die Protagonisten vorzustellen. Und diese spielen alle exzellent. Kein Wunder, dass Herbert Knaup und Meret Becker für ihre darstellerischen Leistungen mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurden. Auch das übrige Ensemble knüpft nahtlos daran an.
Doch gerade die erste Szene zwischen Becker und Knaup ist so wunderschön inszeniert, dass sie tatsächlich herausragt. Der Durchschnittstyp Knaup trifft auf eine verlorene Romantikerin, die wie eine unheimliche dunkle Fee in ihrer Behausung sitzt und ihren Mann jede Nacht trifft. Das ist nur geträumt, aber vielleicht ist das Leben ja ein Traum?! Karl Simon und Sunny Schäfer können sich kaum ansehen, weil sie eine Geschichte miteinander verbindet, die auch geradezu verzweifelten, als Trost gedachten Sex dieser beiden verlorenen Seelen einschließt. Das ist so traumhaft auf den Punkt gespielt, dass die hilflosen Gesten und Phrasen uns selbst zu heimlichen Beobachtern einer nicht unbekannten Situation machen.

Die Freiheit des Reihenhauses

Die Reihenhäuser dieser Beamten und ihrer Witwen sind die Reihenhäuser des Mittelstandes, der zeigen wollte, dass er es geschafft hat. Das Haus mit Garten, von dem die Eltern noch geträumt hatten, ist Wirklichkeit geworden. Zugleich schränkt es die scheinbare Freiheit wieder ein, denn all diese Häuser sehen gleich aus und tragen die Halbwertzeit schon in sich, denn sie sind mit den Kinderzimmern geplant, die irgendwann nicht mehr besetzt sein und dann nur noch an heile Familien gemahnen werden, die es nicht geben kann. Sunnys Kinderzimmer sieht aus wie vor dem Tod ihres Mannes und der Geist ihres toten Kindes scheint darin zu hausen. Aber da sind weder Mann noch Kind und wenn der Ehemann irgendwann wieder dort auftaucht, dann ist sie keineswegs überrascht. Denn er ist ja jeden Abend da, wie sie ihm sagt. Aber er hat dabei nie einen Kopf, da die Leiche ja ohne diesen gefunden worden war. Und wenn der Mann jetzt wieder einen habe, dann würde sie wissen, dass sie wahnsinnig ist, denn er sei eigentlich eine kopflose Leiche.

Zwei Frauen

Wenn sie danach zur Schulaufführung von Simons Kind kommt, dann ist sie ein Fremdkörper, die kinderlose Frau, die nicht dazu gehören kann, weil alle Kinder haben. Und so will Simon sie auch schnell loswerden, denn er will diese heile Welt erhalten, von der er weiß, dass es sie nicht gibt, aber geben muss, weil alle anderen so leben, als sei sie real. Nur die beiden scheinen zu wissen, dass alles nur eine Illusion ist. So tief dem Geist der Romantik verbunden ist Grafs Regiearbeit in ihren besten Momenten. Auch wenn die Männer zusammen duschen und mit den Familien grillen, wenn sie sich gegenseitig bestätigen, dass alles gut ist, wie es ist, dann ist der Filmemacher ganz bei sich. Die kleine Affäre mit Melba Dessault ist der erlaubte Schritt vom Wege, denn man hat schnellen, harten Sex und dann ist das erledigt. Beide haben sich bewiesen, dass sie noch attraktiv für andere sind, und beide wissen zugleich um die Austauschbarkeit der Situation. Denn sie müssen sich hier nicht ernst nehmen, sie werden kein Paar, sie kommen aus unterschiedlichen Hemisphären. Er geht zurück in sein Reihenhaus zu Frau und Kindern und sie zurück in die Villa mit dem mächtigen Mann. Dieser wird zum Opfer der Politintrigen werden und auf einmal wird mehr aus der erlaubten Affäre, der lässlichen Sünde. Aus der stillschweigenden Klarheit entsteht eine neue Verwirrtheit, die die Figuren angenehm verletzlich erscheinen lässt.

Dominik Graf und Novalis

All das läuft neben einer spannenden Krimihandlung ab, die durchaus geschickt konstruiert ist, der man die Konstruktion ein paarmal leider deutlich ansieht. Denn dass der vorgetäuschte Tod des Kollegen und die daraus entstehenden Konsequenzen zufällig alle Figuren betreffen, das ist doch tatsächlich zu sehr gedachtes Drehbuch und wirkt daher wie ein etwas steifes Konzept. Die einzelnen Szenen dagegen sind immer wieder brillant inszeniert und geschrieben. Manche bleiben Fragmente und auch das ist romantisch. Hat doch Novalis, vor 250 Jahren geboren und einer der wichtigsten Protagonisten der Romantik, nur Fragmente hinterlassen. Jedes Schloss, dessen Besitzer auf sich hielt, hatte die Ruine einer Klause oder Burg in seinem Garten integriert. Denn nur Ruinen von etwas, das nie war, kamen der romantischen Idee am nächsten. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist der Film perfekt. Wie es Dominik Graf zu „Die Sieger“ selbst formuliert: „Was mich an Kino interessiert, steckt da drin.“ Und so passt es, dass Novalis’ 250. und Grafs 70. Geburtstag ins selbe Jahr fallen, denn mehr Romantik geht nicht.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dominik Graf haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 10. Oktober 2019 als Blu-ray und DVD, 4. September 2002 als DVD

Länge: ca. 147 Min. (Blu-ray, Director’s Cut), 140 Min. (DVD, Director’s Cut), 131 Min. (DVD, Kinofassung)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Audiodeskription für Sehbehinderte
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Die Sieger
D 1994
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Günter Schüttler, Bernd Schwamm, Klaus Maas, Peter Hollweg
Besetzung: Herbert Knaup, Katja Flint, Hannes Jaenicke, Meret Becker, Hansa Czypionka, Heinz Hoenig, Heinrich Schafmeister, Natalia Wörner
Zusatzmaterial 2019: Hörfilmfassung für Sehgeschädigte, Featurette (11:34 Min.), Geschnittene Szenen mit nicht optionalem Audiokommentar von Regisseur Dominik Graf und Hauptdarsteller Herbert Knaup (8:06 Min.), Trailershow, 12-seitiges Booklet
Zusatzmaterial 2002: Audiokommentar von Dominik Graf und Herbert Knaup, Making-of (25:01 Min.), Featurette (11:34 Min.), 6 TV-Clips (8:28 Min.), 7 Statements (15:36 Min.), B-Roll (2:13 Min.), Biografien und Filmografien von Cast & Crew, Trailershow
Label/Vertrieb: Concorde Video

Copyright 2022 by Lars Johansen

Packshots: © 2019 Concorde Video, Szenenfotos: © Bavaria Film (Bildcredit zweites Foto: Kurt Krieger)

 

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