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Sidney Lumet (XI): Prince of the City – Die Herren der Stadt: Die Bestechlichen

01 Apr

Prince of the City

Von Tonio Klein

Krimidrama // 2015 kam mit J. C. Chandors „A Most Violent Year“ ein Film in die Kinos, der das verbrechergeschwängerte New York City des Jahres 1981 noch einmal aufleben lässt. „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ hingegen entstammt jenem Jahr und brauchte nur in die zeitgenössische Wirklichkeit zu gehen. Die Stadt, in der das Drogengeschäft nie schläft, ist ein Sumpf, die Gangster unterscheiden sich kaum von den Cops, und die „Helden“ der Drogenfahndung sind die „Prinzen“ der Stadt. Vor allem Danny Ciello (Treat Williams), schon in jungen Jahren Gruppenleiter, der seine fixenden Informanten mit Stoff und die etwas höherrangigen Tippgeber mit Geld versorgt. Von dem einen oder anderen Drogen-/Geldfund zwackt er etwas für seine Partner und sich ab. Das Schweigegelübde der Omertà gibt es nicht nur bei den Mafiosi, zu denen sein Cousin Nick Napoli (Ronald Maccone) zählt. Das gibt es auch bei den Cops mit Co(r)p(s)geist, bei denen die Verbundenheit zum Partner über alles geht.

Ideale und Wirklichkeit

Schon früh in diesem sehr langen Krimidrama merkt Ciello indes, dass er seine Ideale verraten hat (der fixende Bruder klagt das Kartell zu Recht an, der Vater stimmt zu und das Elend der Fixer wird Ciello wie uns eindringlich vor Augen geführt). Diese Ideale hatte er nämlich mal, als er Polizist geworden war. Nun wird er eine „Ratte“, ein Spitzel. Dabei versucht er eine Gratwanderung, die von Anfang an nahezu aussichtslos erscheint. Erstens: Seine neuen Chefs stellen die Bedingung, dass er zunächst ausnahmslos all seine Vergehen der vergangenen elf Jahre Drogenfahndung beichtet; wenn er etwas verschwiege, würde dies in Gerichtsverfahren enorm schaden und er könne keine Rückendeckung mehr bekommen. Wir ahnen, dass er diese Bedingung zunächst nicht erfüllt. Zweitens: Ciello fordert, seine (Ex-)Partner nicht belasten zu müssen, denen auch anderweitig nicht an den Kragen gegangen werde. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Wir ahnen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit werden wird. Ciello wird lernen müssen, die gesamten Konsequenzen seines Handelns auszuhalten.

Aussagen oder aussteigen?

Dies wird ein schmerzhafter Prozess werden. Fritz Göttler bezeichnet „Prince of the City“ als „einen Krankenbericht …, das Protokoll eines langsamen Heilungsprozesses, mühsam und quälend, zweidreiviertel Stunden lang.“ Dieser ist auch religiös. Mehrfach betont der Film, dass Ciello und eigentlich alle Spitzel das Bedürfnis hätten, „sich zu erleichtern“ und „sich zu reinigen“. Was Ciello zweidreiviertel Stunden widerfährt, ist im Grunde das Fegefeuer, welches schmerzhaft ist, nichts und niemanden verschont, aber Absolution in Aussicht stellt. Angelehnt an eine wahre Geschichte, macht Lumet es sich nicht einfach und ist fernab von einem Gut-gegen-böse-Kampf. Polizisten, denen man als Kleinganove oder unbescholtener Bürger mit der „falschen“ Hautfarbe lieber nicht begegnen möchte, werden alles andere als ausschließlich negativ dargestellt; die eiserne Partner-Loyalität hat durchaus ihr Gutes. Und auf der Seite der Staatsanwälte gibt es ein paar veritable Ekelpakete, die ihren neuen und sehr wertvollen Spitzel fallen lassen würden wie eine heiße Kartoffel, wenn es gerade opportun erscheint. Oder eine FBI-Rückendeckung, die ihren Job mehr schlecht als recht macht, sodass keiner dieser Beamten, sondern ausgerechnet Ciellos Mafia-Cousin ihm das Leben rettet, als es einmal brenzlig wird.

Allein mit der Mafia

Lumet übertreibt es sogar ein bisschen in diese Richtung, wenn er in einer Parallelmontage am Ende (Entscheidung, ob gegen Ciello Anklage erhoben wird / Berufungsverfahren gegen einen Mann, in dem entschieden wird, ob dessen Verurteilung wegen Ciellos nun zugegebener Lügen neu aufgerollt wird) Folgendes betont: Alle, die Ciello wohlgesinnt sind, sind sympathisch, und umgekehrt. Zu letzterer Kategorie zählt ein aalglatter und sadistischer Jurist (allein die vorherige Demütigung, einen Ex-Informanten zu laden, der Ciello ins Gesicht spuckt), der betont, schon in der vierten Generation Jurist zu sein und daran zu glauben, dass das System bereits beim allerkleinsten menschlichen Fehler korrumpiert sei. Hier ist Sidney Lumet, der Regisseur großer Justizfilme, in seinem Element, hat seine an sich gute Kritik jedoch etwas überpointiert vortragen lassen.

Jedes Haus hat seinen Preis

Solcher Einwände zum Trotz ist dies ein großartiger Film, der Ciello keinesfalls als Helden dastehen lässt und anschaulich seine wachsende Unsicherheit und Verzweiflung demonstriert, gerade im nachdenklichen Schlussbild. Oder wenn das gesamte Gehabe der Cops letztlich als Wunsch nach Spießbürgerlichkeit entlarvt wird, weil sie alle dem Verbrechersumpf zeitweilig entfliehen wollen mit ihren Häuschen mit Garten, Gattinnen, Kindern, Grillfesten. Am Anfang klagt Ciellos Bruder Ronnie (Matthew Laurance) dieses Leben lauthals an, ziemlich gegen Ende „dürfen“ Ciello, seine Frau Carla (Lindsay Crouse) und ihre Kinder in genau so einem Traumhaus in einer ruhigen Gegend Virginias leben, wenn auch im Zeugenschutzprogramm mit Bodyguards immer und überall. „So ein Haus habe ich mir immer gewünscht. Aber nicht zu diesem Preis“, so die Ehefrau. Die Kamera wählt dunkle Farben und gedeckte Beleuchtung, ist oft statisch, zeigt die eigentlich schöne Naturgegend als undurchdringliches Dickicht, in dem nicht mal ein Junge ein Eichhörnchen abknallen kann (wie man das im ländlichen Amerika halt so macht …), ohne dass dies verständlicherweise einen Riesenwirbel der Bodyguards auslöst.

Stil: Form follows function

Lumet war „Prince of the City“ offensichtlich eine Herzensangelegenheit, er gibt alles, er riskiert auch alles (wobei ihm aber sein Talent zugute kam, mit geringen Budgets zu arbeiten und diese dann auch noch zu unterschreiten; da ließ das Studio ihn eben gewähren). Er wollte unbedingt unbekannte Darsteller, die nicht von der Geschichte ablenken. Treat Williams („Hair“) als Ciello ist glänzend; zwischen Härte und Verletzlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Selbstzweifel, amüsiertem Spiel (als das ihm das Mikrotragen zunächst vorkommt, wobei er ganz gern etwas riskiert und mehr und mehr Aufträge will, wie ein Zocker) und bitterem Ernst. Lumet wollte des Weiteren Überlänge, und seine Regiearbeit langweilt keine Minute. Er und Williams wollten und bekamen die Möglichkeit penibler Vorbereitung inklusive dreiwöchiger Hospitation auf einem Polizeirevier. Er wollte darüber hinaus eine vielschichtige Geschichte erzählen, was ihm gelang. Er wollte allerdings, typisch Lumet, nicht eine Eins-zu-eins-Abbildung der Wirklichkeit, und das ist prima. Er erzählt durchaus etwas Wahres, aber mit den Mitteln des Dramas und der filmischen Gestaltung. In seinem hierzulande 1996 veröffentlichten Buch „Filme machen“ berichtet er über diesmal besonders komplexe Ideen, was Brennweiten und Belichtung und Bildausschnitte betrifft. Der Himmel sollte nie sichtbar sein (klappte fast immer), außer in einer Szene besonderer Verzweiflung Ciellos, in der er darüber nachdenkt, durch eigene Hand in selbigen (oder in die Hölle?) abzutreten. Die Brennweiten sollten so sein, dass Räume entweder gestreckt werden (Weitwinkel), oder gestaucht (Tele). Nichts sieht normal aus in dieser verrückten Welt.

Blauer Himmel und Ciellos Hölle

Bei Weitwinkelaufnahmen gibt es oft Tiefenschärfe (Räume sind groß, kalt, hart, unbarmherzig, distanzierend gegenüber den Personen, Dinge im Vordergrund sind unnatürlich groß, zum Beispiel eine kalte, nasse Straße, wenn Lumet seine Fotografie mieser New Yorker Gegenden mit Froschperspektive kombiniert).
Bei den Tele-Aufnahmen (eher gegen Ende) gibt es oft geringe Tiefenschärfe (Menschen wirken in diffusen Räumen isoliert, so wie der Film sich gegen Ende stärker vom äußeren Geschehen darauf verlagert, was das alles in Ciello anrichtet). Die tiefenscharfen Weitwinkel-Aufnahmen haben gerade gegen Anfang eine gewisse Grelle, auch in den Nachtszenen, die Umgebung ist wichtig. Am Ende werden die Menschen wichtiger, sind nur noch sie beleuchtet, was zu dieser Isolierung von ihrer Umwelt zusätzlich beiträgt. Und dies alles haut uns Lumet nicht etwa um die Ohren, sondern lässt es so unterschwellig wirken, dass wir es eher unbewusst wahrnehmen. Das ist grandios. Nur an ein paar Stellen scheinen Lumet und sein Kameramann Andrzej Bartkowiak ganz deutlich die dramatischen Möglichkeiten nutzen zu wollen. Eine anfängliche Szene im nächtlichen Big Apple bei starkem Regen hat mit einer Nachtblau-Dominanz eine klare Neo-Noir-Ästhetik, zu der zum Beispiel die wenigen in Virginia spielenden Szenen im Kontrast stehen mit der Betonung von Weite, Natur, mit dementsprechend dominierenden braunen Farbtönen, aber der Stimmung entsprechend auf ganz andere Art genauso düster.

Keine Tiefenschärfe – Ciello ist von seinem Umfeld getrennt

Und so hat Ciello nur die Möglichkeit, vom Regen … in die Traufe zu kommen? Nein, ganz so hart ist es nicht, aber er kommt von einer Düsternis in eine ganz andere, die er sich und die wir uns so niemals ausgemalt hatten, die Lumet offenbar darum völlig anders aussehen lässt und aus der es kaum ein Entkommen zu geben scheint. Oder doch? Schaut es euch selbst an!

Was/wer nicht da war: Bonus-DVD, Booklet, Brian De Palma

Die diversen deutschen DVD-Auflagen (Auflistung siehe unten) sind im Handel vergriffen. Plaion Pictures tut somit gut daran, „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ bei uns nun erstmals auf Blu-ray im Mediabook zugänglich zu machen, was aufgrund der größeren Speicherkapazität den Vorteil hat, dass der Film auf eine Scheibe passt (die Premium und die Special Edition enthalten ihn aufgeteilt auf zwei). Zur Sichtung lag mir lediglich die Basis-Blu-ray vor, weshalb mir der sicher vorzügliche Booklettext von Stefan Jung entgangen ist. Selbiges gilt für das Zusatzmaterial der Bonus-DVD, auf der sich die Doku „Prince of the City – Die wahre Geschichte“ (bereits von älteren DVDs bekannt) sowie ein Interview mit Sidney Lumet befinden. Bild- und Tonqualität des Filmes überzeugen, wobei ein moderat verwaschener Look nicht technischer Unzuklänglichkeit geschuldet ist, sondern zu Alter und Tonlage des Filmes passt.

Abschließend: Das Projekt war eigentlich für Brian De Palma vorgesehen; es ist schwer zu sagen, ob dieser Stilist die Abgründe mit Oberflächenreizen zugedeckt hätte – in seinen besseren Werken vermag er durchaus, das eine mit dem anderen zu verbinden. Nichtsdestoweniger wandte er sich den „sauberen“ Polizisten in „The Untouchables – Die Unbestechlichen“ (1987) zu, wohingegen man Lumets Regiearbeit auch „Die Bestechlichen“ nennen könnte.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Bob Balaban, Lance Henriksen und Treat Williams unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 15. Februar 2024 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & Bonus-DVD), 16. Februar 2009 als 2-Disc Premium Edition DVD, 1. Juli 2006 als DVD der Süddeutsche Zeitung Cinemathek

Länge: 167 Min. (Blu-ray), 160 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Prince of the City
USA 1981
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Jay Presson Allen, Sidney Lumet, nach einer Vorlage von Robert Daley
Besetzung: Treat Williams, Jerry Orbach, Richard Foronjy, Don Billett, Kenny Marino, Carmine Caridi, Tony Page, Norman Parker, Bob Balaban, Lance Henriksen, Eddie Jones, James Tolkan, Ronald Maccone, Lindsay Crouse, Matthew Laurance, Tony Turco, Ron Karabatsos, Lee Richardson, Lane Smith, Cosmo Allegretti, Michael Beckett, Harry Madsen, Cynthia Nixon, Ron Perkins, Walter Brooke
Zusatzmaterial: Doku „Prince of the City – Die wahre Geschichte“ (29 Min.), Interview mit Sidney Lumet, Trailer, Bildergalerie, Booklet von Stefan Jung
Label/Vertrieb Mediabook: Plaion Pictures
Label/Vertrieb Premium und Special Edition DVD: Warner Home Video
Label/Vertrieb Süddeutsche Zeitung Cinemathek: Süddeutsche Zeitung GmbH

Copyright 2024 by Tonio Klein

Szenenfotos & Mediabook-Packshots: © 2024 Plaion Pictures,
gruppierter DVD-Packshot: © Warner Home Video

 

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