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Alfred Hitchcock (VII): Jung und unschuldig – Der eine unter vielen

29 Dez

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Young and Innocent

Von Ansgar Skulme

Krimi // An der beschaulichen englischen Küste wird die Leiche einer erfolgreichen Schauspielerin gefunden. Zeugen beobachten Robert Tisdall (Derrick De Marney) am Fundort und schließlich sogar dabei, wie er davonläuft. Eine der ihn belastenden Zeuginnen ist Erica Burgoyne (Nova Pilbeam), die Tochter des örtlichen Polizeichefs (Percy Marmont). Wenig später soll dem Mordverdächtigen der Prozess gemacht werden, doch er entkommt mit einem Trick und wählt als Fluchtauto, wie es der Zufall will, ausgerechnet den Wagen von Erica – samt der Besitzerin als Chauffeurin. Eine wilde Jagd beginnt, bei der Tisdall während seiner Flucht den wahren Mörder finden muss, ehe die Polizei ihn daran hindern und fälschlich verurteilen kann.

Geschichten von zu Unrecht Verdächtigten und Gejagten gehörten zu den liebsten Motiven Alfred Hitchcocks. „Der falsche Mann“ (1956) verewigte das Muster schließlich sogar im Titel, aber bereits 20 Jahre früher probierte sich Hitchcock auf diesem Terrain – noch in seiner britischen Heimat. Neben den Elementen der Spannungskonstruktion offenbart der Film auch ein Interesse Hitchcocks an der seinerzeit in den USA sehr populären Screwball-Komödie. Seine beiden Hauptdarsteller/-innen spielen mit so viel Schlagfertigkeit und Wortwitz, dass man sich in den Rollen ebenso gut Katherine Hepburn und Cary Grant („Leoparden küsst man nicht“, 1938) oder Claudette Colbert und Clark Gable („Es geschah in einer Nacht“, 1934) vorstellen könnte. Der Film ist wesentlich stärker auf die beiden Hauptfiguren zugeschnitten als die Romanvorlage „A Shilling for Candles“ von Josephine Tey, und auch die Identität des Mörders wurde gegenüber dem Buch verändert.

Wider den tierischen Ernst

Im Unterschied zu einigen anderen Hitchcock-Filmen kommen die Wortgefechte zwischen den beiden Protagonisten so nicht enden wollend locker daher – weil vor allem der Mann selbst in brenzligsten Situationen nie den Spaß daran verliert, die Frau zu necken –, dass dies zwar einerseits angenehm modern anmutet, andererseits aber auch die Spannung drosselt. Der Held wirkt nie so recht gefährdet und scheint sich auch keine allzu großen Sorgen zu machen. Das ist zwar amüsant, aber manchmal hat man das Gefühl, dass in einem deutschsprachigen Remake 20 Jahre später am besten Peter Alexander in der Hauptrolle besetzt worden wäre. Das soll nicht despektierlich klingen, zumal Peter Alexanders schauspielerische Qualitäten gern einmal unterschätzt werden, jedoch ist der Film schlichtweg weitaus weniger ernst als viele andere Hitchcock-Produktionen der 30er und 40er, wenngleich Hitchcock freilich ganz generell ein recht humorvoller Regisseur war und gerade in seiner britischen Phase der 30er-Jahre auch genügend Freiheiten dafür hatte.

Thriller und Komödie in einem

Wer mit einem unschuldig Verfolgten die etwas härtere Gangart bevorzugt, ist bei Hitchcock beispielsweise mit „Saboteure“ (1942) in jedem Fall besser bedient als mit „Jung und unschuldig“. So paradox der Genrebegriff „Thrillerkomödie“ eigentlich ist, passt er auf „Jung und unschuldig“ tatsächlich sehr genau. Ein unterhaltsamer Film, der nicht völlig vorhersehbar ist, dem Helden aber auch die Konfrontation mit wirklich schrecklichen Momenten erspart. Die Zahl der Toten ist überschaubar und der Fund der Leiche zu Beginn noch der am wenigsten für Minderjährige geeignete Moment der Geschichte. Nichtsdestotrotz lässt sich behaupten, dass dies zwar nicht der erste Hitchock-Film war, in dem eine Hauptfigur zu Unrecht Probleme mit der Polizei bekommt, jedoch im Grunde der Hitchcock-Tonfilm, der in aller Breite die Vorlage für jene weiteren lieferte, in denen sich über einen Großteil der Handlung eine regelrechte Verfolgungsjagd zwischen dem Helden und der Polizei entspinnt.

Momente der stilistischen Akzente

Am meisten Eindruck hat in der Betrachtung durch Filmwissenschaftler und Fans die ausführliche Kamerafahrt gegen Ende des Films hinterlassen, in der der dem Zuschauer längst bekannte Mörder in einem großen Ballsaal verortet wird, während seine Verfolger noch vergeblich, aber bereits im selben Gebäude, nach ihm suchen. Wie die Kamera hier über eine Masse an Menschen hinweg direkt auf sein Gesicht zufährt und sein Markenzeichen – er blinzelt auffällig oft – einfängt, das er bereits in der ersten Szene zur Schau gestellt hat und das ihn schließlich trotz starker Schminke verrät, ist einer dieser Geniestreiche, von denen es in fast jedem Hitchcock-Film einen gibt. Diese lange Einstellung kommt völlig unverhofft, fällt stilistisch aus dem Rahmen, fängt eigentlich recht harmlos an und endet dann beinahe buchstäblich mit einem Paukenschlag – nur dass ein Schlagzeug und keine Pauke gespielt wird.

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Bereits auf dem Polizeirevier zeigen sich erste Sympathien

Nicht alle technischen Finessen des Films sehen so gekonnt aus: Um ein atmosphärisches Bild der Außenansicht des Gebäudes zu erzeugen, in dem der Held nach einem Obdachlosen sucht und schließlich notgedrungen übernachtet, verwendeten Hitchcock und sein Team ein Modell samt Spielzeugeisenbahn. So wurde eine oberflächlich recht aufwendig wirkende Kamerafahrt möglich, in der man den Zug einfahren sieht und die dann sogar noch auf zwei statischen Spielzeugpuppen in Gleisnähe endet, ehe man am Ende der Kamerafahrt nach einem Schnitt wieder die beiden Hauptdarsteller statt der Puppen zu Gesicht bekommt. Trotzdem ein netter kleiner Trick, um etwas Beweglichkeit in die im damaligen Kino oftmals sehr statischen Bilder zu bekommen. Nicht zuletzt zeigt der Film auch trotz des gegenüber dem Roman verschlankten Figurenensembles, dass Hitchcock ein hervorragendes Gespür für Typen hatte und diese genussvoll auf die Spitze zu treiben wusste. Dies zeigt sich sowohl in dem von Edward Rigby gespielten Old Will als auch in Ericas Tante und deren Ehemann (Mary Clare und Basil Radford). Letztere sind zwar nur in einer Szene zu sehen, die jedoch spielt äußerst geschickt damit, dass die Flüchtenden plötzlich mit Lappalien aufgehalten werden und nicht vorankommen. Hitchcock hatte offensichtlich großen Spaß daran, seine Protagonisten mittels Albernheiten in Gefahr zu bringen. Ein Hoch auf die berühmten „dummen Zufälle“.

Wo bleiben die deutschen Synchronfassungen?

Bereits 2003 hat Concorde den Film in der Hitchcock-Box „The Early Years“ erstmals in Deutschland auf DVD veröffentlicht. 2011 wurde die Box in neuem Design noch einmal aufgelegt. Diese beiden Boxen weisen die Besonderheit auf, dass alle Filme nur im Originalton enthalten sind, obwohl es deutsche Synchronfassungen gibt. Während die sonstigen Tonfilme aus „The Early Years“ an anderer Stelle, weniger aufwendig, dafür aber mit deutschem Ton erneut veröffentlicht wurden, blieb einzig „Jung und unschuldig“ dabei merkwürdigerweise bis heute außen vor. Somit kommt dem Film die zweifelhafte Ehre zu, Hitchcocks jüngster Spielfilm – und allgemein einer von ganz wenigen in seiner Filmografie – zu sein, von dem zwar eine deutsche Synchronfassung existiert, der aber nie mit einer deutschen Synchronisation auf DVD veröffentlicht wurde. Einmal abgesehen davon, dass es beispielsweise von „Vertigo“ drei Synchronfassungen gibt und von „Der Auslandskorrespondent“, „Berüchtigt“, „Cocktail für eine Leiche“ und „Das Fenster zum Hof“ jeweils zwei, von denen sich aber, mit Ausnahme von „Berüchtigt“, je Film stets ein und dieselbe auf allen DVD-Veröffentlichungen findet. Der Umstand, dass die deutschen Synchronfassungen von „Young and Innocent“ auf DVD bis heute vermisst werden, überrascht etwas, zumal es auch davon zwei Synchronisationen gibt, von denen die etwas ältere aus dem Jahre 1975 gelegentlich noch im TV gezeigt wird und mit vielen bekannten Sprechern aufwartet. So ist etwa der heute als Stammsprecher von Tom Selleck („Magnum“) bekannte Norbert Langer als Stimme von Derrick De Marney zu hören und Arnold Marquis, der frühere Stammsprecher von Kirk Douglas und vielen anderen mehr, in einer späten Rolle als Old Will. Mitte der 80er-Jahre ließ die DEFA eine eigene Synchronfassung anfertigen. Auch wenn die „The Early Years“-Box technisch alle Wünsche erfüllt und man den aufwendig Bild für Bild restaurierten Film nun wieder genießen kann, obwohl das Copyright an dem Film nicht mehr erneuert wurde und somit auch viele Versionen in schlechter Qualität im Umlauf sind, ist es wünschenswert, dass diese unnötige Lücke eines Tages im Rahmen einer neuerlichen Veröffentlichung geschlossen wird.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Alfred Hitchcock haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 13. Januar 2011 und 4. Juni 2003 als Teil der 6-DVD-Box „Alfred Hitchcock – The Early Years“

Länge: 80 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Young and Innocent
GB 1937
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Charles Bennett, Edwin Greenwood, Anthony Armstrong, nach dem Roman „A Shilling for Candles“ von Josephine Tey
Besetzung: Nova Pilbeam, Derrick De Marney, Edward Rigby, Mary Clare, Percy Marmont, Basil Radford, John Longden, George Curzon, Pamela Carme, George Merritt
Zusatzmaterial 2003-Veröffentlichung: 12-seitiges Booklet über alle Filme der Box, Poster mit Plakaten zu allen Filmen
Vertrieb: Concorde Home Entertainment

Copyright 2016 by Ansgar Skulme

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Foto & Packshots: © Concorde Home Entertainment, Filmplakat: Fair Use

 

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