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Alfred Hitchcock (XI): Die 39 Stufen – Achtung, Spione!

21 Mär

The 39 Steps

Von Lucas Gröning

Spionagethriller // Ein Mensch, welcher nicht in der Lage ist, irgendetwas zu vergessen. Jemand, der Wissen aufsaugt wie ein Schwamm und den man alles fragen kann, was in irgendeiner Form im kollektiven Gedächtnis gespeichert scheint. Jemand, der auf alle Fragen eine Antwort weiß und in der Lage ist, jede gewünschte Information vollständig und korrekt wiederzugeben. Solch eine Person ist die Hauptattraktion auf einer Theaterbühne in der Eröffnungsszene von Alfred Hitchcocks „Die 39 Stufen“ aus dem Jahre 1935, der ersten, recht freien Verfilmung des gleichnamigen, 1915 veröffentlichten Romans von John Buchan, die der Regisseur noch in seiner britischen Heimat drehte – wenige Jahre vor seinem Wechsel nach Hollywood.

Munter stellt das Publikum, darunter der Kanadier Richard Hannay (Robert Donat), dem als „Mr. Memory“ (Wylie Watson) bekannten Künstler seine Fragen, auf welche dieser stets die passende Antwort weiß. Ein lustiger, unterhaltsamer Abend bahnt sich an, doch die Idylle wird gestört. Während der Vorstellung fallen Schüsse und so kommt es, dass die junge Annabelle Smith (Lucie Mannheim) in die Arme von Hannay fällt. Erschüttert und von Verfolgungswahn getrieben, bittet sie ihn, zu ihm nach Hause mitkommen zu können. So beginnt ein spannungsgeladener Spionageplot, welcher von Genrekönig Alfred Hitchcock auf meisterhafte Weise inszeniert wurde.

Paranoia und Anspannung

Bei Hannay angekommen offenbart Annabelle diesem, sie sei eine Spionin, welche dafür sorgen müsse, dass ein weiterer Spion gestoppt wird – der gehöre einer mysteriösen Organisation namens „39 Stufen“ an und wolle Informationen über ein geheimes Projekt der britischen Luftfahrtbehörde außer Landes schaffen. Wenig später wird Annabelle sterben und man wird Richard Hannay für den Mörder halten. Es beginnt eine Flucht vor der Polizei und vor den „39 Stufen“, auf der es dem Protagonisten gelingen muss, seine Unschuld zu beweisen, indem er die geheimen Informationen sicherstellt. Allgegenwärtig ist dabei eine mitschwingende Paranoia, mit welcher die Hauptfigur ihre Umgebung wahrnimmt. Ständig hinterfragt Hannay alles. Könnte jene Person neben mir eventuell ein Polizist sein, der damit beauftragt wurde, mich zu fassen? Laufe ich gerade in eine Falle, die mir von den „39 Stufen“ gestellt wurde? Welcher Person kann ich überhaupt trauen? Welche Druckmittel kann ich verwenden, um diese Person dazu zu bringen, mit mir zu kooperieren? All das sind Fragen, die sich Hannay im Verlauf stellen muss, um seinem Ziel näherzukommen. So wird selbst der gewöhnlichste und unschuldigste Ort zu einer Quelle der Unsicherheit. Dabei sammelt der Protagonist sowohl Erfahrungen, die ihn in dieser Annahme bestätigen, als auch solche, welche diese widerlegen. Gerade aus diesem Potenzial einer jederzeit aufkommenden Bedrohung zieht der Film enorme Spannung, die die meisten Zuschauer gebannt vor dem Bildschirm halten dürfte. Wie der Protagonist suchen wir ständig nach Hinweisen und Gefahren, welche auf uns zukommen könnten. Wir teilen Hannays Erfahrungen über gesamte Länge des Films. Somit findet eine Fusion zwischen Betrachter und Protagonist statt, durch die wir selbst bald paranoid werden.

Information und Desinformation

Bestärkt wird diese Paranoia dadurch, dass wir als Publikum jederzeit auf dem Laufenden darüber gehalten werden, was die im Film dargestellte Gesellschaft über den Mord an Annabelle Smith weiß. Wie ein Lauffeuer scheinen sich die Informationen im ganzen Land zu verbreiten. So belauschen wir, genau wie Richard Hannay, Gespräche zwischen Menschen, die sich darüber austauschen was sie gerade in der Zeitung gelesen haben. Es fällt auf, dass die genannten Informationen meist nicht mit dem übereinstimmen, was wir als Zuschauer von dem Vorfall wahrnehmen konnten. So wird Hannay in den Berichten als Mörder von Annabelle Smith dargestellt, seine Beschreibung darin erinnert aber nur sehr oberflächlich an das tatsächliche Äußere des Kanadiers.

Durch die Dialoge der Menschen erleben wir, wie sich diese falschen oder unvollständigen Informationen in der Gesellschaft verbreiten. So suggeriert der Film, dass bald das ganze Land Richard Hannay für einen Mörder hält. Dieser Eindruck wird durch die Allgegenwärtigkeit von Zeitungen verstärkt, welche immer wieder zum Bestandteil einzelner Szenen werden. Der Zuschauer wird dabei, genau wie der Protagonist, stets darüber informiert, auf welchem Stand der Rest der Gesellschaft ist. Somit gewinnt der Film eine ungeheure Aktualität und kann im Nachhinein sogar als Beitrag Hitchcocks zur aktuellen Debatte um Falschinformationen – die „Fake News“ – betrachtet werden. Der Betrachter glaubt dabei stets, dass er jederzeit Gewissheit über alle Vorgänge im Film hat. Alfred Hitchcock jedoch macht uns klar, dass wir gar nichts wissen. Er macht uns klar, dass der Regisseur allein Herr über sein Werk ist und er allein genau über den Verlauf der Geschichte Bescheid weiß. Er zeigt uns das mit einer ungeheuren Eleganz. Der Betrachter des Films wird währenddessen nicht vorgeführt, er wird lediglich dazu gebracht, sein eigenes Wissen im Hinblick auf unvorhergesehene Entwicklungen zu hinterfragen. Die Art und Weise, wie Hitchcock das dem Zuschauer nahebringt, ist grandios.

Der Regisseur setzt dabei erstmals (?) einen sogenannten MacGuffin ein – der Begriff bezeichnet Objekte oder Personen, die die Handlung vorantreiben, ohne dass sie von weiterem Nutzen sind. Man denke nur an den ominösen Koffer mit leuchtendem Inhalt in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ (1994). Hitchcock liebte MacGuffins, wie die Melodie in „Eine Dame verschwindet“ (1938), die geheime Vertragsklausel in „Der Auslandskorrespondent“ (1940) und die mathematische Formel in „Der zerrissene Vorhang“ (1966) belegen mögen. In diesem Fall handelt es sich bei der „Die 39 Stufen“ ihren Titel gebenden Geheimorganisation um einen solchen MacGuffin.

Wahrheit und Lüge

In diese Kerbe schlägt auch ein weiteres Motiv, welches „Die 39 Stufen“ aufgreift – der Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge. Im Verlauf der Handlung erleben wir es oft, dass Personen andere Personen belügen. Dies dient oftmals dem Täuschen oder Verraten des Protagonisten, aber auch dessen Schutz. So wird das Verschweigen der Wahrheit zu einem Motiv, welches für den Zuschauer moralisch nur schwer zu bewerten ist. Hitchcock nimmt hier die Position ein, dass das Aussprechen der Wahrheit, also die Repräsentation von Ehrlichkeit, nicht die einzige Wahl ist, um etwas zu tun, was als moralisch richtig evaluiert werden kann. Zugleich stellt er uns die Frage, ob das, was wir gesehen haben, als wahr gekennzeichnet werden kann oder ob wir vielleicht belogen wurden. Diese Frage beschäftigt uns bis zum Ende des Films und noch lange danach. So glauben wir zunächst, alles zu wissen und die Geschichte aufgeklärt zu haben, dennoch gibt es einige Handlungen und Momente, die nicht zu 100 Prozent in die Geschichte passen wollen und die wir im Nachhinein hinterfragen müssen. Ein rundes Gesamtbild bleibt dem Zuschauer somit verwehrt und Hitchcock schafft es so, uns dazu zu bringen, über die Handlung weiter nachzudenken. Noch interessanter wird es, wenn wir die gewonnenen Erkenntnisse auf unsere reale Welt transportieren und den Verlauf unserer eigenen Realität hinterfragen. Diesen Transfer schafft der Film und es ist genau das, was ihn zu einem großartigen, aber auch unterschätzten Werk des Meisterregisseurs macht.

Filmkunst

Mit „Die 39 Stufen“ zeigt Hitchcock bereits früh jene ungeheure Virtuosität, die ihn auch später als Filmemacher auszeichnen sollte. Mit brillanten Schnitten, großartigem Zusammenspiel zwischen Bild und Ton sowie der Fähigkeit, seine Darsteller zu fantastischen Leistungen zu motivieren, gelingt dem Briten ein spannungsgeladener Spionagethriller, welcher es schafft, so viel Inhalt in seinen gerade einmal 86 temporeichen Minuten unterzubringen, wie es zwei bis dreistündige Filme oft nicht schaffen. Diese Virtuosität sinnvoll in eine derart kurze Laufzeit zu implementieren, dabei zeitgleich eine spannende, unterhaltsame Geschichte zu erzählen und uns zum Philosophieren über komplexe gesellschaftsrelevante Themen zu bringen – das ist es, was großartige Filmkunst auszeichnet. Hitchcock schafft dies in seinen Werken wie kein Zweiter und er schafft es auch in einem seiner wohl meistunterschätzten Filme.

Weil einst das Copyright des Films nicht erneuert wurde, ist „The 39 Steps“ mittlerweile gemeinfrei, kann daher gratis und völlig legal im Internet-Archiv heruntergeladen oder bei YouTube geschaut werden. Blu-ray und DVD-Veröffentlichungen gibt es einige, die meisten sind qualitativ suboptimal. Als Referenz dürften einmal mehr die Blu-ray und DVD des US-Labels „The Criterion Collection“ gelten.

Ein großartiges Werk, welches aufgrund des konstant hohen Niveaus seiner Regiearbeiten zwar nicht sonderlich aus Hitchcocks Filmografie heraussticht, dessen Betrachtung sich aber für jeden Zuschauer mit einem Faible für Spannungskino lohnt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Alfred Hitchcock sind in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 30. Januar 2015 als Blu-ray und DVD, 26. April 2007 als DVD

Länge: 86 Min. (Blu-ray), 82 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The 39 Steps
GB 1935
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Charles Bennett, nach einem Roman von John Buchan
Besetzung: Robert Donat, Madeleine Carroll, Lucie Mannheim, Godfrey Tearle, Peggy Ashcroft, John Laurie, Helen Haye, Frank Cellier, Wylie Watson
Zusatzmaterial Blu-ray: Originaltrailer
Label/Vertrieb 2015: Great Movies GmbH
Label/Vertrieb 2007: Phoenix Bild- u. Tonträger Vertrieb

Copyright 2019 by Lucas Gröning
Packshot: © 2015 Great Movies GmbH

 

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