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Straße ohne Wiederkehr – Neo-Noir im Niemandsland

13 Sept

Street of No Return

Von Tonio Klein

Krimidrama // Was ist das denn? Alle haben englisch klingende Namen. Aufschriften – zum Beispiel auf Polizeiautos – sind englisch. Die Cops nennen sich „Chief“, „Commissioner“, „Detective“, englisch ausgesprochen, die Uniformen erinnern an die USA. Es gibt „Rassen“kämpfe, Schwarze gegen Weiße, was man auch mit den USA assoziiert. Aber die ganze Chose ist in Lissabon gedreht und das Set Design gibt sich nicht die geringste Mühe, das zu verbergen, wenngleich keine Lissabon-Wahrzeichen prominent herausgestellt werden. Wer, wie ich, dort schon zweimal war, erkennt gleichwohl einen Platz; des Weiteren legen Straßenbahnschienen auf nicht gerade ebenen Gassen, ein Pier, Kopfsteinpflaster und Rundbögen eine südeuropäische Metropole nahe. Und obwohl auf Polizeiwagen „Police“ statt „Polícia“ steht, gemahnt Größe und Form der Gefährte eher an Europa als an die USA.

Wahnsinn mit Methode

Das ist so irre, das muss Methode haben. Der Film spielt also angeblich in den USA, aber nicht in einer konkreten Stadt, sondern in einem Niemandsland, in einer Kunstwelt. Film noir ist Allegorie (auch wenn ein paar Werke der klassischen Noir-Zeit gezielt den Ort Los Angeles in die Handlung einbeziehen), und dieser Neo-Noir treibt das Kunstvolle wie Künstlich-Allegorische auf die Spitze. Was auch heißt, dass er ein paar Archetypen bis zur Schmerzgrenze zelebriert und übertreibt. Manche mögen das nicht. Etwa Matthias Merkelbach, mein Kollege bei 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin – er hält den Film für Schrott. Man kann das Werk aber durchaus als einen Film der Extreme goutieren.

Archetypik: der Gestrauchelte mit Vergangenheit

Und Extreme, die liebt der Regisseur Sam Fuller, der hiermit seinen letzten Film vorgelegt hat. Zu verstörend war anscheinend das Werk des 1912 Geborenen, sodass er nach „Der nackte Kuss“ (1964) nur noch selten Filme inszenierte, inszenieren konnte – oftmals in Europa statt in seiner US-amerikanischen Heimat. Der vorliegende Film ist eine französisch-portugiesische Koproduktion, aber – siehe oben – das scheint ihn gestalterisch wenig geschert zu haben. Worum geht es? Man sollte vielleicht sagen, dass sich Fuller vielfach filmisch mit dem Krieg befasst hatte, nachdem er Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs gewesen war – an der Waffe, aber auch schon mit der Kamera anlässlich der Befreiung des KZ Flossenbürg. Und den Krieg gibt es nicht nur in seinen Kriegsfilmen, sondern auch in einem Spät-Noir (manche nennen ihn schon Neo-Noir), „Alles auf eine Karte“ (1961). Zudem zeigt er, was eine kaputte Gesellschaft mit den Menschen macht, und porträtiert oft gebrochene Außenseiter. Ferner ist die Gewalt in seinen Filmen ein omnipräsentes Thema; da bedient er sich einer schroffen Direktheit, die neben seiner Kriegserfahrung vielleicht auch seinem vorherigen Dasein als Kriminalreporter geschuldet ist.

Hammerharter Beginn

All dies kommt in „Straße ohne Wiederkehr“ vor, dessen erstes Bild schon ein Schlag in die Magengrube des Zuschauers und in das Gesicht einer Filmfigur ist – mit dem Hammer übrigens. Es scheint den erwähnten „Rassen“krieg zu geben, das sind nicht mehr Unruhen, das ist eine Straßenschlacht, bereits in vollem Gange. Sogleich sehen wir die Außenseiter, ein paar Obdachlose, die damit nichts zu tun haben wollen – hier vertragen sich der Schwarze und der Weiße. Der Dritte ist ein zunächst geheimnisvoller Mann mit ähnlich wildem Haarwuchs, wie ihn Fuller selbst hatte (siehe obiges Bild). Lange spricht er nicht und schlurft durch die nächtlichen Straßenschluchten. Dass er einer Frau nachgeht, einem echten Drachen, der sich nicht so leicht – vermeintlich – überfallen lässt, dass er ihr aber noch weiter nachgeht und in einem Haus sie, ihre Kumpane und schließlich eine schöne junge Frau beobachtet, gibt Rätsel auf. Schließlich die Noir-typische Rückblende, und natürlich war der Mann nicht immer in der Gosse. Im Gegenteil, er war der berühmte Popstar Michael (Keith Carradine), der mit Celia (Valentina Vargas) zusammenkam, auch sexuell.

Und das ist noch nicht alles, was man sieht

Aber der Klassiker: Celia ist noch mit einem anderen Mann zusammen, Eddie (Marc de Jonge), mit dem offenbar gar nicht gut Kirschen essen ist und der sie nicht gehen lassen will. Oder ist Michael Opfer einer ihn belügenden Femme fatale? Auch Michaels Managerin (Andréa Ferréol, „Das große Fressen“, 1973) hadert mit seinem Wunsch, alles für Celia hinzuwerfen. Schließlich tut Eddie etwas, das Michael indirekt in die Gosse befördern wird, und zu Beginn hatte Kommissar Zufall eben dafür gesorgt, dass er Celia – ja genau, die erwähnte schöne junge Frau ist natürlich seine Angebetete – wiedersieht und wiederhaben will. Er hat schon alles verloren, also nichts mehr zu verlieren. Bei seinem Kampf wird die vorher (was keine Kritik sein soll) eher angezogene Action-Handbremse gewaltig gelockert, und er kommt in einige Schwierigkeiten mit der Polizei, aber auch auf manchmal recht unwahrscheinliche Weise wieder heraus. Der „Rassen“krieg erweist sich übrigens als geschickt eingefädelte Inszenierung eines schwarzen und des weißen Gangsters Eddie, wobei der Erstgenannte dafür sorgt, dass ein paar nützliche Idioten einander massakrieren, damit Eddie die fallenden Grundstückspreise nutzen, kräftig einkaufen und auf dieser Basis ein Drogenimperium in der Stadt errichten und kontrollieren kann.

Verbrechensmodellstadt

Das mag auch nicht neu sein, aber man merkt, wie konsequent desillusioniert der späte Fuller ist, bei dem die Gewalt nicht mehr vom kleinsten Fünkchen Idealismus getragen ist. Vielleicht kann nur ein Verrückter und Abgewrackter in einer solch verrückten und abgewrackten Welt (über)leben, der wie Michael alles auf eine Karte und darauf setzt, dass Celia ihm überhaupt gewogen ist – sollte er nach ihrer „Befreiung“ überhaupt noch leben. Damit hat der Film in seiner Übertreibung schon fast etwas Märchenhaftes, das ich – bei allen Unterschieden – auch im übertriebenen Action-Märchen „Der Mann, der niemals aufgibt“ (1977) von und mit Clint Eastwood so sehr liebe. Man lässt ein solches Kino der Extreme kaum jemandem durchgehen und kann sicherlich über beide Fälle streiten, aber dem einen wie dem anderen nehme ich diesen Ansatz ab. Radikale Konsequenz kann man beiden sowieso nicht absprechen.

Die Kamera – und wir – als Zielscheibe

Fullers Film ist auch in allem anderen radikal. Es wird nicht nur bei den Gewaltszenen zur Sache gehen. Bei der früheren trauten Zweisamkeit Michaels und Celias sind nicht nur ihre Brüste, sondern ist auch ihr Schamhaar zu sehen. Fullers Blick ist immer voll frontal. Wenn man den Spruch von der „Kamera als Waffe“ ernstnimmt, so hat Oliver Stone ein Maschinengewehr, Sam Fullers Kamera ist hingegen die Zielscheibe, auf die das Gezeigte abfeuert. Dem kann man sich also nicht entziehen, und man wird auch nicht schonend darauf vorbereitet. Eine Art von Gewalt gibt es auch im Nicht-Physischen, zum Beispiel optische und akustische Gewalt durch Großaufnahmen und Gebrüll. Letzteres vor allem anhand der Figur des Polizeichefs Borel (Bill Duke). Wir erfahren zunächst, dass er der erste Schwarze auf diesem Posten ist; manche sähen ihn wohl gern scheitern. Sein Job ist ihm Berufung wie Bürde, sodass er konsequent versucht, „farbeblind“ seinen Job zu machen, was er auch einmal offen herausschreit. Überhaupt schreit er oft, und so manche extreme Großaufnahme zeigt: Einerseits ist er ganz auf sich gestellt, andererseits brüllt er uns, die Zuschauer, so direkt an, wie auch die physische Gewalt auf uns hereinprasselt. Und wenn er handelt statt schreit, ist so manches wider die Dienstvorschriften, obwohl er der Sympathieträger sein soll. Nein, Fuller macht es uns nicht einfach, so sei die Welt halt. Und weil das wie erwähnt nirgends ist, ist es überall.

Reiter werden ja immer gebraucht

Bei den Gangstern gibt es eine ähnliche Figur, die matronenhafte, brutale und vor allem am Ende ebenfalls wild herumschreiende Bertha (Rebecca Potok). Bei ihr ist Fuller etwas schwächer, ist sie zwar auf beeindruckende Weise furchterregend, aber im Übertriebenen auch schon gefährlich nahe an der Karikatur. Stichwort Karikatur: Woran man sich je nach Geschmack etwas gewöhnen muss, ist die „sowas von 80er“-Videoclip-Ästhetik, wenn von Michaels früheren Erfolgen gekündet wird. Er hatte Celia beim Dreh des Videoclips zum Song „Street of No Return“ (Keith Carradine singt selbst!) kennengelernt. Da ist Celia, nur mit sehr knappem Slip bekleidet, zu Ross durch die nächtlichen Straßen unterwegs, und der in jeder Hinsicht poppige Michael schmachtet sie bei viel Neonlicht und Dampf an. Als der Film uns dies erstmals zeigt, lässt es sich Fuller nicht nehmen, durch die Froschperspektive Ross und Reiterin zu nennen, also extrem die Brüste der Frau und die gesamte Symbolik dieses Bildes zu betonen. Letztlich schwer zu würdigen, ohne subjektiv zu werden. Fest steht: Subtil geht anders!

Bei der Frau auf dem Gaul sind die Blicke nicht faul

Fuller ist aber auch kein Mann der leisen Töne. Stattdessen ist er in einer Kombination von Schroffheit und Archetypik so weit gegangen, dass er den Schmutz, den er zeigt, gleichzeitig realistisch anprangert und künstlich überhöht. Sein Film sagt etwas über die Welt, wie Fuller sie sieht, aber auch über das Filmen und die Film-(Noir-)Geschichte. Das muss man auch erstmal hinbekommen. Ich liebe es und vermute, so und nicht anders sollte der Film, das Vermächtnis des Sam Fuller, werden. Das mag aber nicht jedermanns Sache sein. Also: sich drauf einlassen oder es lassen.

Die DVD kann direkt im Online-Shop von Pidax Film erworben werden.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Samuel Fuller haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 23. Juli 2021 als DVD

Länge: 88 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Street of No Return
F/POR 1989
Regie: Samuel Fuller
Drehbuch: Jacques Bral, Samuel Fuller, nach einem Roman von David Goodis
Besetzung: Keith Carradine, Valentina Vargas, Bill Duke, Andréa Ferréol, Bernard Fresson, Marc de Jonge, Rebecca Potok, Jacques Martial, Sérgio Godinho, António Rosário, Dominique Hulin, Gordon Heath, Joe Abdo, Trevor A. Stephens, Filipe Ferrer
Zusatzmaterial: Wendecover
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2021 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Pidax Film

 

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